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ZEITSCHRIFT
FÜR
DEUTSCHE PHILOLOGIE
HERAUSGEGEBEN
VON
Dr. ernst hopfner und Dr. JULIUS ZACHER
PROVINZIALSCHULRAT IN KOBLENZ PROF. A. D. UNIVERSITÄT ZU HALLE
3>555
ZWÖLFTER BAND
HALLE,
VEELAG DER BUCHHANDLUNG DES WAISENHAUSES.
188 1.
Pf
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Sc/. /^
INHALT.
Seite
Altdeutsches cpistel- und evangelienbuch. Von Stejskal 1. 323
Gahmiuets wappen. Von Hortzschansky 73
Die laienboichte bei Wolfram. Von Josef Seeber 77
Fetisch. Hulft. Judenspiess. Liespfund. Von A. Lübben 81
Halberstädter bruchstiicke. 1. Aus einer predigtsanilung. 2. Katechismusstücke
und segen. 3 Gevatter tod. 4. Medicinisches. 5. Aus einem alphabetisch
geordneten kräuterbuche [Macer Ploridus]. Von G. Schmidt 129
Zu den Halberstädter predigtbruchstücken. Von J. Zacher 183
Macer Floridus und die deutsche botanik. Von J. Zacher 189
Dativ und accusativ. (Zu ztschr. 11, 73). Von 0. Behaghel 216
Briefe an Job. Joach. Eschenburg. Von R. Thiele 217
Der wadel. Von K. Kinzel 226
Die erd- und Völkerkunde in der Weltchronik des Eudolf von Hohen -Ems.
Von 0. Doberentz 257. 387
Beiträge aus dem Niederdeutschen. Von Fr. Woeste 302. 479
Der Verfasser der Frohen Frau. Von M. Rieger 304
Aus dem Summarium Heinrici. Von A. Hortzschansky 305
Die älteste alba. Von Joh. Schmidt 333
Fünf sagen vom Hoch schwab. Von F. Branky 342
Zum Sprachgebrauch Goethes. Von R. Sprenger 348
Zu Macer Floridus. Von J. Zacher 349
Fetisch. Von W. Crecelius 352
Zum Parzival 463, 15. Von K. Lucae 383
Ackermann und Agricola. Von H.Holstein 455
Bruchstück einer mitteldeutschen Margaretenlegende. Von R. Hasenjäger.... 468
Miscellen,
Zu Klopstocks Messias ^ 256
Ein brief Jakob Grimms an Jon Ärnason, mitgeteilt von William Carj! enter 353
Die jahresversamlung des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung in Hildes-
heim. Von W. Seelmann 353
Bericht über die Verhandlungen der deutsch -romanischen abteilung der XXXV.
versamlung deutscher philologen und schulmänner zu Stettin vom 27. — 30.
September 1880. Von E. Henrici 361
Brants Narrenschiff, neuhochdeutsch von Simrock 500
Jablonowskische preisaufgaben 500
Litteratur.
Die prosaische Edda im auszuge nebst Völsungasaga und Nornageststhättr,
herausg. von E. Wilken; tli.. 1. — Untersuchungen zur Snorra Edda, von
E. Wilken; angez. von B. Sijmons 83. 368
rV INHALT
Seite
M. Schcrer, geschichtc der deutschen litteratur; angez. von F. Seiler 113
Beowulf, herausg. von Moritz Heyne; angez. von H. Gering 122
G. Boetticlier, die Wolframliteratur seit Lachmann; angez. von K. Kinzel 126
Seb. Zehetmayr, analogisch vergleichendes Wörterbuch über das gesanit-
gebiet der indogennanischen sprachen; angez. von 0. Behaghel 127
Lessings Hamburgische dramaturgie, erläutert von dr. Fr. Schröter und
dr. Eich. Thiele; angez. ven E. Neidhardt 229
Hadamars von Laber Jagd, herausg. von dr. K. Stejskal; angez. von K. To-
ra an etz 243
Die poetischen erzählungen des Herraud von Wildonie, herausg. von K. F.
Kummer; angez. von K. Kinzel 250
G. Michaelis, beitrage zur geschichte der deutschen rechtschreibung ; angez.
von K. Kinzel 253
H. Althof, graramatik altsächsischer eigennamen in westfälischen Urkunden;
angez. von 0. Behaghel 255
Ad. Ebert, allgemeine geschichte der literatur des mittelalters im abend-
lando. 2. bd.; angez. von E. Peters 364
Th. Mob ins, Verzeichnis der auf dem gebiete der altnordischen spräche und
litteratur von 1855 bis 1879 erschienenen Schriften; angez. von H. Gering 369
K. Bünting, vom gebrauche der casus im Heliand. — Fr. Naber, gotische
praepositionen. 1; angez. von E. Bernhardt 370
Die Pariser Tagezeiten , herausg. von St. Waetzoldt; angez. von K. Kinzel 372
E. Martin, zur Gralsage; angez. von G. Boetticher 377
Eich. Hamel, Klopstock -studien. IL III; angez. von 0. Erdmann 380
M. Eieger, Klinger in der Sturm- und Drangperiode; angez. von 0. Erd-
mann 382
W. Braune, gotische graramatik; angez. von H. Collitz 480
K. Weinhold, kleine mittelhochdeutsche gramraatik. — H. Paul, mittel-
hochdeutsche grararaatik; angez. von K. v. Bahder 483
G. Milchsack, die oster- und passionsspiele ; angez. von E. Lehfeld 487
Lamprecht von Eegensburg, herausg. von K.Weinhold; angez. von K. Kinzel 491
Der Junker und der treue Heinrich, herausg. von K. Kinzel; angez. von
H. Busch 494
0. Erdmann, über die Wiener und Heidelberger handschrift des Otfrid; angez.
von J. Zacher 496
Eegister von E. Matthias 501
ALTDEUTSCHES EPISTEL- UND EVANGELIENBUGH.
Die lezteii vier decennieu haben für die erkentnis altdeutscher
prosa bereits ein reiches und wertvolles material geliefert. Werke
geistlichen Inhaltes waren es in erster linie , die volständig oder bruch-
stückweise aufgefunden, zur veröifentlichung gelangten. Und doch
blieb trotz der nicht geringen zahl bisher erschienener predigten, homi-
lien , Übersetzungen von teilen des alten und neuen testanientes, beicbt-
spiegeln u. ä. eine art von prosawerken geistlichen Inhaltes völlig unver-
treten — die altdeutschen epistel- und evangelienbücher (pericopen-
samlungen). Diese lücke auszufüllen ist das im folgenden zur mittei-
lung gelangende denkmal des 13. Jahrhunderts bestirnt. Es dürfte einer
freundlichen aufnähme gewiss sein, da es nicht allein seines litterar-
historischen , sondern aucb seines spracblichen wertes wegen verdient,
der Vergessenheit entrissen zu werden.^
I.
Die bandschrift, nach welcher der nachstehende abdruck erfolgt,
befindet sich in der k. k. studieubibliothek zu Olmütz (sign. II h 36),
perg., 13. Jh., 8« (142""" hoch, 113 """ breit), 121 biätter. Das evan-
gelienbuch begint auf bl. 1^' und schliesst auf 120*", angehängt ist ein
seqencen vom heiligen geisf (120'' — 121"). Es ist von zwei in ihrer
Schrift sehr deutlich unterschiedenen Schreibern geschrieben; der erste
schrieb von l** — 95% der zweite von 95"— 121^; die zabl der zeilen
auf einer seite variiert beim ersten zwischen 15 und 16, beim zweiten
zwischen 22 und 23 zeilen. Die Überschriften der episteln und evan-
gelien sind rot , ebenso die initialen ; nach Interpunktion häufig die
folgenden (schwarzen) buchstaben mit roter auszeichnung. Die schrift
ist durchaus schön, deutlich und rein; der dialect des denkmals der
baierisch- österreichische. Die bandschrift besteht aus 15 lagen zu je
8 blättern; nur die erste läge hat 9 biätter, das erste blatt ist aber
jezt an die innere seite des vorderen deckeis (holzband mit liellbraunem
lederüberzug) geklebt. Blatt 121 bildet mit dem an die innere seite
1) Aufgabe eines zweiten artikels wird es sein , das werk naeli diesen beiden
ricbtungen bin einer eingebenden untersucbung zu unterzieben.
ZEITSCHR. F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XII. 1
des hinteren Deckels geklebten blatte ein doppelblatt (vor dem einbin-
den besass also die hs. 1 -f- 121 + l blatt). Die einzelnen lagen sind
je auf ihrem ersten blatte mit römischen Ziffern bezeichnet gewesen,
einige (I, XII, XIII) fielen später dem einbinden zum opfer. Die Vor-
derseite des buches trägt auf zwei papierstreifen eine alte Signatur:
EpVe et ewü"' d' tpe in vvlgari S 21.
Die handschrift war bisher wenig oder vielleicht richtiger gesagt
gar nicht bekaut. Wattenbach führt sie in seinem „Verzeichnis der
handschriften der k. k. Universitätsbibliothek in Olmütz" (Pertz, Archiv
der geselschaft für ältere deutsche geschichtkunde 10,671 — 681) nicht
auf und Jul. Feifalik scheint sich auch nur mit einem sehr oberfläch-
lichen blicke in das buch begnügt zu haben, denn sonst würde er
kaum den inhalt desselben mit dem irreleitenden worte „Predigten"
bezeichnet haben; s. „Beiträge zur deutschen Handschriftenkunde aus
mähr. Bibliotheken und Archiven" im Notizenblatt der bist. -stat.
Section der k. k. mähr. -schles. Gesellschaft zur Beförderung des Acker-
baues, der Natur- und Landeskunde. Beilage der „Mittheilungen"
1857 (nr. 7) s. 55\
Der nun folgende text schliesst sich möglichst getreu der hand-
schriftlichen Überlieferung an. Dass ich einen abdruck und nicht einen
kritisch gereinigten text bringe, wird wol keine misbilligung finden
Prosaische werke wie das vorliegende sind ja vor allem dazu bestirnt,
neues und verwendbares material dem grammatiker und lexicographen
zu bieten und da schien eine urkundliche widergabe des textes besser
am platze zu sein, zumal die Schreibweise des ersten und zweiten
Schreibers nicht die gleiche ist und manches bemerkenswerte moment
bietet. Nichtsdestoweniger bin ich zu zwecken grösserer brauchbarkeit
des buches von der handschrift in einzelnen punkten abgewichen, die
ich hier kurz anführe. Der citate wegen sind die zusammengehörigen
episteln und evangelien unter je einer römischen Ziffer vereinigt, die
Zeilenzahl am rande bemerkt; die einzelnen stücke sind gegen die hs.
von einander durch einen kleinen Zwischenraum gefreut; alle abkür-
zungen erscheinen aufgelöst, alle eigennamen und ersten Wörter der
absätze mit grossen anfangsbuchstaben geschrieben; endlich ist die
Interpunktion consequenter und sinngemässer durchgeführt. Wo ich
sonst von der hs. abzuweichen für nötig fand, habe ich die hand-
schriftliche lesart in die anmerkungen gestelt (nur offenbare Schreib-
fehler wurden stillschweigend gebessert); ergänzungen meinerseits sind
durch cursiven druck kentlich gemacht.
ALTDEUTSCHE PERIKOPEN
[bl. i"J Das sind epistel vnd ewangelij' an den
sun tagen.
Di letzen am ersten suniag ze aävent scJireiht Paulus'^.
Priieder! wissund seit, wann zeit ist iezund von dem slaff auf
zesten ; wann nu ist nsehner vnser liail , denn do wir gelaiibten. di
nacht ist uergangen, siinder der tag hat genahent; darum werf
wir ab di uerch der vinster vnd werd wir an gelegt di waflfen des 5
Hechtes, also das wir an dem tag erwerleich gen: nicht in frashait
vnd truncheuhait, nicht in slaf petten vnd vnschaemichaiten , nicht
in chrieg vnd neidung, sunder wert an ge [2"] legt den herren lesum
Christum.
Bas ewaiig^elij am ersten suiitag- ze advent — Slatheus". lo
Do si nahenten zu lerusaleni vnd chomen zu Bethfage zu dem
perg Oliueti, do sant lesus zuen seinr iuuger vnd sprach: „get in
das castell, das gegen ew ist; do vindet ir zehant ein ezlinn gepuu-
ten pei irem chinde; di loest vnd fuert mir di her zu mir. vnd
Sprech ew iernent zue, so sprecht also: do bedarf sein der herr, so 15
laet er ewchs zehant." das ist geschehen, das erfüllet wurd das
geschriben ist durch des weissagen mund, der do spricht: nu sagt
der [2*^] tachter von Syon: siech, dein chünig- chümt dir senfter
sitzund auf ainer eslinn vnd vnder ires chindes loch, di iunger
gingen vnd teten als in lesus gepoten het vnd füerten im di esliu 20
mit irem chinde vnd legten dar auf ir gev/ant vnd hiessen in dar
auf sizen. raanige schar strewten ir gewant an den wege , di andern
prahen este von den paumeii vnd strewtens an den wege. aber di
schar, di do var gie vnd her nach uolget. di schrieren sprechund:
„wol gesprochen sey dem sun Da [3''] uides , der do chumt in dem 25
namen des herren."
IL
Am andern snntag- di lezen — sand Panl*.
Prüeder ! welch geschriben sind , zu vnserr 1er sind si geschri-
ben, das wir mit-'' gedult vnd mit troestung der schrift geding"
haben, aber got der gedult vnd des trastes geb ew das selbe ze
1) Die ahbreviaturen dafür ew, owg, ewgelij ; ansfjcschriehen ist das icort
nur hl. 113a. 2) Brief an die Römer 18, 11 — 14. 3) Emn(j.21, 1—9.
4) Brief an die Römer 15, 4 — 13. 5) Über mit von jüngerer hand p (patientia).
6) Darüber von jüngerer hand spoz.
5 iiersten geu ein ander nach lesu Christo, das ir ainmütig mit aym
mnnd eret got vnd den vater lesu Christi vnsers herren. vm das
euphacht an einander, als auch Christus ew enphie in di er gotes;
ich sprich zwar , Christum ^ gewesen sein eiun diener der he [3^\
sneiduug durch di warhait gotes zu bestaeten di gehaisse der vseter.
10 awer di diet über di parmung eren got als geschriben ist: dar vm
gich ich dir in den dieten vad deini nani sing ich. vnd awer
spricht er: „vrewt ew diet mit seinem volkh." vnd awer: „lobt
den herren alle diet vnd Sprech in gras alls volkh." vnd aAver
sprach Ysayas : „ is ^ wirt di wurtz vnd der auf stet zu arden di
15 diet, an in di diet gedingent. awer got des gediugeu erfüll ew mit
allen vrewden vnd vrid im glauben, das ir genüegt in hoffnung vnd
[4^] tugent des heiligen geistes,"
Das ewang-elij an dem auderu suutag — Lticas^.
lesus sagt: „is werdent zaichen an der sunne vnd au dem
20 mann vnd an den sternen vnd auf der erde, nat an den lewten
von den dussen des meres vnd wassers; vnd darrent di lewt var
varchten vnd von der Wartung, das do chunt wirt der weit; is
werdent auch erweget di tugent der himel. so sehent si denn des
menschen sun choemen in den gewolchen mit grassem gewalt vnd
25 magenchraft. so das anhebet, so secht auf vnd hebt auf ewre
haubt; wann is na [4^"] hent ewr lasung.'' vnd sagt in ein gleich-
nüsse : „ secht di veig paum vnd all paum. so si vrucht aus werf-
fent, so wisst ir, wo das der sumer nahent. also wenn ir secht,
das diz geschiecht, so wisst, das nahent ist das reich gotes. ich
30 sag ew werleich, das diz gesiecht nicht uerfert vuz is alles
geschiecht. himel vnd erde uergent, awer meine wart uergent
nicht."
III.
Di lezen am dritten suntag' — sand Paul*.
Prüeder! also uerwsen vns der mensch als di diener Christi
vnd ausgewer der hairaleichhait gotes. hie iezund wirt gefra [5*]
get vnder den aus gewern, ob etwer getrewer funden werd. awer
5 mir vür das mynist ist, ob ich von ew geurtailet werde oder von
dem menschleichen tag; sunder noch ich mich selb urtail. wann
nichsnicht ich mir wissund pin, sunder nicht in dew gerechtigt
ich pin. wer awer urtailt mich, der herr ist. darum ir sult nicht
1) Daneben oben von jüngerer hancl iSz. 2) Josse Vnlg. 3) Evang.
21, 25—33. 4) 1. Brief an die Corinther 4, 1 — 5.
ALTDEUTSCHE I'ERIKOPEN O
var der zait urtailii, vntz das cböin der lierr, der auch erlewclitet
di uerparj>'en vinster viid offeiit di riet der liertzen vnd denu wirt 10
lob eini igleichem von got.
Das ewang'elij -— loluiiines'.
lobannes bart in der fancbnüss Christi werch , do [5''] saut er
zwen iimger zu im sprechund: „pistus der cbünftig ist oder pait
wir eins andern." des antwurt lesus vnd sprach zu in: „get bin 15
wider vnd sagt lobauui, das ir habt gebort vnd gesehen: di plin-
ten di gescheut, di chrumpen di gent, die aussezigen di werdent
gerainigt, di tareu geho3rent, di taden erstent, den arm wirt gepre-
digt vnd der ist sselig, der an mir nicht wirt geergert." do di iun-
ger wider haim gingen, do begund lesus zesprechen zu der menig 20
von lobanni: „Avas Avantt ir zesehen in derwüeste, einen rar be [6*]
weget von dem wiute? was want ir zesehen, einn menschen lind
gechlaidetV nemt war, di lind gechlaidet sein, di sind an der cbü-
nig hofe. was maint ir zesehen, einn weissagen? auch ich sag ew
halt merer denn ein weissag, er ist, von dem geschriben ist: ich 25
sent meinn engel var deinem antliiz , der macht deinen weg var dein."
IV.
Am vierden siuitag- di lezeu — sand Paul 2.
Prueder! vrewt ew im herreu all zeit, awer sprich ich, vrewt
ew! ewr sitleicbait sei chund allen lewten: der herre ist nahen,
nichsnicht fleissig- seit, sun [6^] der in allem gepet vnd Verlegung
mit genad tueung ewr gepet bechant werde pei got. vnd der vrid 5
gotes , der über wint allen sin , der behuet ewer hertz vnd ewr uer-
stentichait in Christo lesu vnserm herren.
Das ewaug-elij am vierden suutag — luhanncs^.
Di luden santen von Jerusalem di ewarten vnd di leuiten zu
lobanni, das si vragten: „wer pistu." vnd er uergach sein vnd 10
laugent sein nicht vnd uergach sein vnd sprach : „ ich pin nicht
Christ." vnd si vragten in: ,,wer pistu denn, pistus Helyas?" er
sprach*: „nicht." ,, pistus ein weissag?" er sprach: „nicht pin."
si [7*] sprahen: „wer pistus, das wir is chünnen gesagen den, di
vns gesaut haben? was sprichstu von dir selbe?" er sprach: ,,ich 15
pin ein stymm des ^ rueffuuden in der wüeste : rieht den wege des
herren, als Ysayas der weissag sprach." vnd di poten warn der
1) Evang. Mattlnei 11, 2 — 10. 2) Brief an die Philipper 4, 4 — 7.
3) Evang. 1, 19—25. 4) spracht hs. 4) d' lis.
pliarisey di vragten in vud spralien zu im: „was taufstii denn, so
du nicht pist Christ, noch Helyas, noch ein weissag?" des ant-
20 wurt in Johannes: „ich tauflf in dem wasser; er stet enmitten vnder
ew, des ir nicht wisst. der ist, der chamen sol nach mir, der
var mein geschepht ist, des ich nicht wirdig pin zeloe [7^] sen di
riem seins geschuechs." das geschach in Bethani euhalb des Jor-
dans, do lohanues was vnd tauft.
All dem Aveiclmacht tag- zu chriss messe di letzen saiid Paul zu Tyto^
Aller liebster! erschinn ist di genade gotes vnsers hails allen
lerund vus, das wir uerlaugnund di vngüetichait vnd weltleich begir,
nüechtleich vnd gerechtichleich vnd guetleich leben in dierr uelt,
5 bewartund der sseligen hofnuug vnd der zuechunft der glori des
grasseu gotes vnd vnsers hailer lesu Christi, der gegeben hat sich
selb vm vns , das er vns erledigaet von aller pas [8''] hait vnd rai-
nigaet vns im ein gensem volch, ein nachfolger der gueten werch.
dew red vnd man in lesu Christo vnserm herren.
10 Das ewaug-elij — sand Lucas".
Ein pot gie aus von chaiser Augusto, das beschriben wurde
alle di weit, di beschreibung ist zu dem ersten geschehen von
Cyrino, lantvogt in Syria. vnd si gingen all in, das si uergsehen,
igleicher in sein stat. Yoseph der fuer auch von Galylea von der
15 stat Nazareth in ludeam Dauides stat, di genant ist Bethlehem,
do von das er auch von Dauides haus was vnd von seim [8''J
geskecht, das er auch uergsch mit Mariam seinr euphessenten
chann, di swanger was. is geschach also, do si warn, das erfüllet
warn di tag, das sie gepser. vnd gepar ir erst geporn sun vnd waut
20 in in tuecher vnd legt in in ein chripp, wann si het nicht stat
vnder der schuphen. dew hierten di do warn in dem selben lant
hüettund vnd wachuud di nacht wache pei ir vich, vnd uemt war,
der engel des herren stuend pei in vnd di chlarhait gotes vmschain
sew vnd farchtenn mit grasser farcht. do sprach der engel zu in:
25 [9"-] „furcht ew nicht; ich chünd ew ein grassew vrewd, di aller
weit geschieht: wann vns ist geparn der hailant Christus, der do
ist Christus der herr in der stat Dauides. vud habt das zu aim
zaichen: ir vint ein chind in tuecher gepuuten vud in di chrippe
gelegt." do war zehant mit dem engel ein michlew schar des him-
1) Brief an Titus 2, 11 — 14. 2) Evamj. 2, 1-14.
ALTDEUTSCHE PERIKÜPEN i
lischen heres lobuud got viid sprachen: „er vnd lob sei im dem 30
haheii got viul vrid sei auf erde den , die guetes willen sein."
VI.
Di Iczeu zu tag- messe - saiul Vaul zu Tyto^
Aller liebster ! erschiun ist di guetichait vnd nienscliait [9''J
des hailer gotes nicht aus den gerechten werchen, di wir haben
getan , sunder nach seinr parmung hat er vns hail gemacht durch
sein vlewung vnd widerpringung der uernewung des heiligen gei- 5
stes, den er aus gegossen hat in vns genüegieich durch Jesum
Christum vnsern hailer, daz wir gerechtigt mit seinn genaden erben
sein nach dem gedingen des ewigen lebens in Christo Jesu vnserm
herren.
Das ewaiigeüj zu tag- messe — Lucam^. 10
Dew hierten sprachen zu einander: „ge wir hintz Bethlehem
vnd besehen das wart, das geschehen ist, das [10''] vns der herr
gezaigt hat." do chomen si eylund dar vnd funden Mariam vnd
Yosephen vnd das chindel was gelegt in ein chrippe. do si das
gesahen, do erchantens von dem wart, das in gesagt was von dem 15
chinde. do wundert sein alle, di is uernamen vnd das in di hierten
sagten. Maria behielt alle die wart in irem hertzen. di hierten
fuern wider vnd lobten vnd gloriticierteu got in allen den, das si
gehört vnd gesehen ^ beten.
VII.
Zu vTou ampt di lezeu — sand Paul*.
Prüeder! vil redund vnd in vil Aveis etweun got reduud den
va:!tern inn propheten, am iungsten [lO''] an den tagen hat er zu
vns geredt in dem sun, den er gesazt hat ze erben aller, durch
den er auch di weit gemacht hat. der wonet mit vns, er ist ein 5
schein der glori vnd ein figur seinr Substanz vnd tragund alle, die
mit dem wart seinr chraft ein rainiguug der sunden maclmnd. er
sitzt zu der zesem der maiestat in der hoech: als vil pesser den
engein warden , wie vil er vnderschaidener var in den namen hat
geerbet, wan Avelhem ie der engel sprach er: ,,niein sun pistu, 10
ich gepar dich heut?" vnd aber: „ich wierd im ein vater vnd er
wirt mir ein sun?" vnd wenn er [ll''] aber in füert den erst geparu
in der weit rinch, sprach er: „vnd in aupetten all gotes engel."
1) Brief an Titus 3, 4 — 7. 2) Evang.2, 15 — 20; zu Luc am «pfZ. Evan-
gelium secundum Lucam. 3) geh'u hs. 4) Brief an die Hebräer 1, 1 — 12.
STEJSKAL
viid 7Ai den eiigelii sprach er: „der do macht sein engel geist vnd
15 sein diener flammen des fewer;" awer zn dem sun: „dein thron,
got , in weit weit ; di gertt der gerechtichait ein gertt deins reiclis ;
du hast lieb gehabt di gerechtichait vnd hast gehasset di pashait,
darum hat dich gesalbet, got, dein got mit dem oel der vrewden
var deinu genasseu." vnd: „du im anfang, herr, das erdreich
20 gegruntfest hast vnd di werch deinr hant sind di himel; si uer-
derbent awer du beleibest vnd sam das ge [11^] want eraltent vnd
als di wat wandelstu sew vnd si werdeut uerwandelt: awer du der
selb pist vnd deinew iar nicht zergent."
Das evaiigelij zum ampt — saiid lohaimesi.
25 Im anfang was das wart vnd das wart Avas pei got vnd got
was das wart, das was im anfang pei got vnd durch is wurden
dinch beschaffen vnd an in ist nichtes beschaffen vnd das beschaf-
fen warden ist. in im was das leben vnd das leben was ein liecht
der menschen, vnd lewcht das liecht in der vinster vnd di vinster
30 begraif sein nicht, ein mensch was gesant von got, des nam was
Johannes, der chom ze [12'''] einem urchunde, das er urchimdet von
dem liecht , das si all gelanbteu durch in. der was nicht das liecht,
suuder er solt urchunde pringen von dem liecht. is was ein wares
liecht, das do erlewcht einn igleichen menschen chcemunden in
35 disew weit, is was in der weit vnd di weit durch is gemacht ist
vnd di weit bechant sein nicht, in sein aigue chom er vnd di
seinn namen in nicht, wie vil awer ir in namen , den gab er allen
den gewalt, das si wurden gotes chind, di do gelaubten in seinn
namen, di nicht von sippe noch von dem willen des [12''] mannes,
40 sunder di von got geparen sind, vnd das wart ward zu fleisch vnd
wonet in vns vnd wir haben gesehen sein glori, als di ere eins ain-
geparn vom vater uolles genaden vnd warhait.
Vlll.
Am saiul Stephans tag" di lezen an der zwelf poten puech^.
Stephanus vol genaden vnd der sterkh tet wunder vnd zaihen
vil im volkh. awer is stuenden etleich auf aus der sammung, di
genant warn Libertinorura vnd Cyrenensium vnd Alexandrinorum
5 vnd der, di do warn von Cylicia vnd Asya, vnd disputierten mit
Stephano. vnd si machten nicht wider sten der weis [13*] halt vnd
dem geist , der do redt , sunder do si harten die , si wurden zer-
1) Evang. 1,1 — 14. 2) Apontclgesch. 6, 8 — 10 und 7, 51 — 59.
ALTDEUTSCHE PERIKOPEN v
hakht ierr lieizeii vud grisgvamteu mit deu zendeii gegen im. avver
do Stepliauus was vol des heiligen geistes, er gedacht inu himel
vud sach di glori gotes vud lesum steundeu zu der zeseni gotes. 10
awer si schreyund mit grasser stymm uei'habten ire aren vud sews-
sen teteus ayumüetichleich gegen im vnd aus wuerfeu in vur di
stat vud ucrstaiuteu in. vud di zewg ab legten ir gewaut pei deu
füessen des iüugeliugs, der genant was Saulus, vnd stainteu Ste-
phanuni got au rüeftundeu |13''] sprechund: „herr lesu enphach 15
meinen geist." awer mit geprauchten chuieu scliray er mit grasser
stymme vud sprach: „herr, nicht sez den ir sunte". vnd do er das
gesprach, entslief er im lierren.
Das ewaiig-elij au saiid Stephans tag- saud Slatheus '.
lesus sagt deu luden scharen vnd den fürsteu der priester: 20
„ich sent zu ew di weissagen vnd die weisen vud di Schreiber, di
erslacht ir siimleich vud chrowtzigt etleich vnd gayselt sew in ewerr
syuagog vud tehts von aiuer stat hiutz der andern, das do von über
ew chceui alles das pluet der gerechten, das do uergossen ist auf
di erden von des rechten Abels pluet [14"] vntz au Zacharias pluet, 25
Barachye sun , deu ir erto3tt zwischen dem ^ tempel vnd dem all-
ter. werleich sag ich ew: das chumt alls über ditz geslaecht. Isra-
hel ^, di du siechst di weissagen vnd erstainst di zu dir gesaut sind,
wie offt wolt ich sammen deine chind als di henne, di do sammet
ire hüeudel vuder ir uetich vnd du wolltest uicht! uu Avirt uer- 30
lassen ewr haus wüestes. ich sag awer ew : ir secht mich nicht
mer, vntz ir Avert sprechen: der sey gesegent, der do chümt in dem
uamen des herreu.''
IX.
Di letzen an saud lohauues tag' am puecli der weisliait*.
Der furchtt den herren, der würcht [14''] das guet, vud wer
behaltuud ist di gerechtichait, er begreifft sei; vnd begegent im
als ein mueter geeret. si speist in mit dem prat des lebens vnd
der uersteutichait vnd mit dem wasser hailuuder weishait trenkht 5
si in vnd wirt geuestent in im vnd nicht gepraucht vnd behaltet
in vnd uicht wiert er gescheudet vnd hoehet in pey seinn nächsten,
in mitte der saramuug tuet si auf seinu muud vnd erfüllet in mit
dem geist der weishait vud der uersteutichait vnd die chlayd der
1) Evang.23, 34 — 39. 2) des hs. 3) Jerusalem Vulg. 4) Eccle-
siasticus, Buch Jesus Sirach 15, 1 — 6.
10 STEJSKAL
10 glori legt si im au, vroleicli vnd vralokhen hcert si auf in vnci
mit dem [15*J ewigen nam erbet in der herr vnser got.
Das ewaugrelij des selben tagres schreibet loliannes».
lesus sprach zu Petro: „volge mir nach," Petrus chert sich
vm vnd sach den iunger, den lesus lieb het nach volgund, der
15 auch auf seinner pruste lag zdem abent essen vnd zu im sprach:
„herr, wer ist, der dich uerchauft?" do Petrus den iunger sach,
do sprach er zu Jesu: ,,herre, was sol awer dierr?" des antwurt
im lesus : „ ob ich in also wil lassen beleiben , vntz ich chüm , was
willdu? des volge mir nach." disew rede was vnder den lungern,
20 das Johannes der iunger nicht solt sterwen. vnd Jesus [lö**] sprach
nicht zu im, das er nicht sterwen solt, sunder: ob ich in also wil
beleiben , vntz ich chiim , was wildu des ? der iunger Johannes
urchviudet das vnd hat is geschriben vnd wir wissen das wol, das
sein urchünd war ist.
X.
An dem suntag dar nach di letzen — sand Paul 2.
Prüeder! wie lang zeit der erb chlain ist, chain vnderschaid
ist er dem chnechte, wann er doch sei der herr aller; suuder vnder
den schermern vnd weisern ist er vntz an di gemessen zeit von
5 dem vater. also auch wir, do wir warn chlain vnder den demen-
ten dierr weit, waren wir dienund. sunder do chom [16*] di uoll-
hait der zeit, sant got seinen sun geparn vom weih warden vnder
der e, das er Icesat di vnder der e warn, das wir di wünschung
der sün enphingen. awer wenn ir seit sun gotes, gesant hat got
10 den geist seins suns in ewr hertz schreyund: abba, pater! zwar
yezund ist er nicht ebnecht, suuder sun; vnd ob er ist der sun, so
ist er erb durch got.
Das ewangelij — sand Lucam''.
Joseph vnd Mariam, di mueter Jesu, di wundert iiber das,
15 di geredt wurden von im. vnd Symeon segent in vnd sprach zu
Mariam, seiner mueter: „is ist gesetzt zu falle vnd zu urstend
manigen in [16''] Jsrahel vnd im zaichen, dem wider sprechen wirt.
dein selbs sei di durch vert das swert, also das maniger herzen
gedanch werdent geoffent." vnd was Anna ein weissaginne , di waz
20 Fanueles tachter von dem gesltecht Äser, di was ein alt weib, di
het gelebt mit ir manne siben iar von ir magtum vnd was witib
1) Evamf.äl, 19 — 24. 2) Brief an die Galater 4, 1 -7. 3) Evang. 2,
33—40.
ALTDEUTSCHE PERIKOPEN 11
nutz au vier vnd achzik iar. di cbom von dem teinpel nicht vud
pat got nacht vnd tag mit iiasten vnd mit irem gepet. di chom
zu der selben weil auch got lobund vnd sagt von im allen den, di
do piten der lasung Israhel. vnd als si uolprach [17"] ten alles 25
das, sam is geschviben was an der e von got, do fuereu si Avider in
Galyleam in di stat ze Nazareth. das chind wuecbs vnd ward chref-
tig voller weishait vnd di genade gotes was in im.
XL
Am eweii weich tag di lezeu^ — saiid Paul 2.
Prueder! e denn chom der gelaub, wurd wir behüett beslos-
seu iu deu gelauben, der ze offen ward, zwar die ee vnserr züch-
tigern was iu Christo, das wir aus dem gelauben gerechtigt werden,
sunder do chom der glaub, yezund sei wir nicht vnder dem zucht 5
maister. wanu all sei wir sün gotes durch deu gelauben, der ist
[17''] in Christo lesu. wand welch ir in Christo getauft seit, Chri-
stum habt ir an gelegt, nicht ist der lud noch der Chriech, nicht
ist der diener noch der vrey, nicht ist der man noch das weih;
wand ir all ain dinch seit in Christo lesu. seit ir aber Christi, 10
darum seit ir Abrahams sam vnd nach der gehaisse erben, ich
sprach aber: „wie lang zeit der erb chlain ist, chain vnderschaid
ist er dem chnechte, vnd er doch ist der herr aller; suuder under
den schermiern vnd weisem ist er vntz an die gemesenn zeit vom
vater." 15
Das ewangelij — saud Lucam^.
Do di aht tag ende heten, das man [IS""] das chind besneiden
solt, do ward im gegeben der nam lesus; alsam ward er auch
gehaissen von dem engel, e das er enphangen wurde in der mue-
ter leibe. 20
Xll.
An dem preheu tag Esaye letzen*.
Stand auf, wierd erlewcht lerusalem! wann chomm ist dein
liecht vnd di glori des herren ist über dich auf gegangen, wand
nim war, di vinster bedekhent di erden vnd die swertz di folk;
über dich awer wiert auf geund der herr vnd sein glori wirt an 5
dir gesehen, vnd werdeut geund di diet in deim liecht vnd di chü-
nig in dem schein deius ausgangs, heb [18^] auf in dem vmswaif
dein äugen vnd siech, alle die sind gesammet vnd sind chomen
1) Hs. lez. 2) Brief an die Galater 3 , 23 — 39; 4, 1 — 2. 3) Evang.
2, 21. 4) Isaias 60, 1 — 6.
12 STEJSKAL
dir; dein sün von uerren choement vnd dein tcecliter von der seifc-
10 ten auf steut. denue wierstii sehund vnd zue liiessund vnd wirt
wundrund vnd wiert gepraitt dein hertz, wann becliert wirt zu dir
di menig des nieres vnd wenn di sterk der diet dir zue cliumt. di
menig der cha3mlein wirt bedekhund dich, dromedarij Madian vnd
Epha, all von Saba choments gold vnd weyroch tragund vnd lob
15 dem herren cliündund.
An dem pielieu ta§' das ewangelij - sand Matheus^
[19"] Do lesus was geparn ze Bethlehem Inda in den tagen ^
chunig^ Herodes, do chomen die chünig von asterlant* ze ^ leru-
salem vnd sprahen: „wo ist^ der luden' chunich '^, der geparn ist?
20 wir sahen seinn stern in dem asterlant^ und choemen, das wir in
an petten." do das der chünich Herodes hart, do ward er traurig
vnd alle lerosolima^*^. vnd samit^^ di priester fursten ^^ all vnd
di Schreiber des folkhs vnd vragt sew ^^, avo Christ solde geparn
werden, do sagten si im all: „ze Bethlehem Inda; wand also ist
25 is geschriben durch den weissagen^'*: Bethlehem iudischs *^ laut,
du pist [19*] nicht di minnist^^ vnder den fursten Inda; wann von^'
dir chumt^^ ein laitter^^, der richten sol mein tblk Israhel," do
lued^*^ Herodes di chuuig haimleich vnd lernt ^^ von in di zeit des
Sterns, der in erschain ^^ vnd sant sew ^^ hintz ^^ Bethlehem vnd
30 sprach zu in: ,,get hin vnd vragt vleischleich von ^^ dem chinde;
vnd so ir is vindet, so enpiett mir herwider, das ich auch dar
choem vnd is an pett." do si uernomen das von dem chünich, do
fuern ^^ si^' danue vnd der stern, den si ze ^*^ Orient heten gesehen,
der gie ^^ var in, vntz^*^ si dar chamen, do das chind was; dar
35 ob ^^ stuend [20*J er. do si awer den stern sahen, do vrewten si
1) Evang.2, 1 — 12. 2) Die folgenden handschriftlichen hemerlcungen zu
diesem stücTce (anm. 2 — 31, 1 — 6) rühren sämtlich von einer jüngeren hand her
und sind zum teil das resultat eines Vergleiches unserer hs. mit der Versio anti-
qua. — Hinter tagen ein j, am rande des/. 3) Über u ein e, oberhalb g ein s.
4) Darüber orieut. 5) Darüber Gen. 6) Hinter ist 41^. 7) Zwischen Juden
wid chünich oben ein. 8) vor der 4t- (Ubi est qui natus est rex JiuteoruuiV)
9) Am rande orient. 10) Darüber mit ym (cum eo). 11) Hs. sannit, fehler
corrigiert. 12) "priester "forsten" (principcs sacerdotum). 13) w durch-
gestrichen. 14) Durchgestrichen , daneben am rande propheten Micheam. 15) Über
u ein e. 16) Darüber kleinste. 18) Darüber wirt ausgen (exiet). 17) Darüber
aus (ex). 19) Am rande fürst (dux). 20) Darüber rufte (vocavit). 21) Darüber
forste (exquisivit). 22) Hsl. erschain corrigiert in erschine, darüber wä,&. 23) w
durchgestrichen. 24) Darüber Gen (in). 25) Darüber noch. 26) Darüber
zogen. 27) Vor danne oben von. 28) Darüber in (in). 29) Corrigiert in
gie^'. 30) Darüber baß. 31) Corrigiert in ob*'".
ALTDEUTSCHE PERIKOPEN 13
sich mit grasser vrewcl viid giengen iu das haus vud fanden das
chind mit Mariam seiner mueter vnd viellen vür is vnd paten ^ is
an vnd teten auf ir sehst/ vnd prachten ^ im ir gab, gold weyroch
vnd myerren , vnd naraen ^ antwurt in dem gesiebte *, das si nicht
widercbaemen zu Herode^ ein andern weg cbertens ^ wider in ir 40
laut.
XIII.
Di letzen am suutag: do nach — sand Paul''.
Prüeder! ich man ew durch di parmung gotes, das ir erpiett
ewr leichnam ein lemtig- opher heilig got gefallund, das beschai-
[20''] den sei ewr dienst, vud nicht sült ir geleichent werden dierr
weit, suuder wert uernewet in der newuug ewers sinnes, das ir 5
bewsert, welher sei der will gotes gueter vnd wol geuallunder vnd
uolchcemner. wann ich sprich durch di genade, di mir geben ist,
allen , di do sind vuder ew, nicht mer uersten denn man mues uer-
sten, sunder uersten zu der nuehtichait vnd eim igleichem, als got
getailt hat di masse des gelaubens. wand als wir in aim leichnam 10
mer glid haben, aber alle glid nicht das selb werch haben, also wir
vil ain leichnam [21*] sein iu Christo, awer wir sunder aynr des
andern glid in Christe Jesu vnserm herreu.
Das ewaug-elij des selben tags sand Lucam^
Do lesus ward zwelf iar alt vnd si auf fuern zu lerusalem 15
nach der gewonhait der heiligen tag, do di ende genomen vnd si
wider haim gegiugeu , do belaib daz chind lesus ze lerusalem vnd
wessten seine vrewnt des nicht, vnd do si wouten, das er haim
mit in chsem, vnd do si ein tag waide gegingen, do suechten si in
vuder seinn chunden vud vnder seinn neuen, vnd do si sein nicht 20
funden, do gingen si wider gen lerusalem vnd suechten in. [21"]
vnd nach drein tagen do funden si in sitzund vnder den lersern,
das er sew hart vnd auch vragt. all, di in harten vnd sahen, di
farchten über sein weishait vnd sein antwurt vnd sahen vnd wun-
dert sew. vnd sein mueter sprach zu im: ,,sun, wi hastu vns getan? 25
dein vater vnd ich suechten dich chlagund." do sprach er zu in:
„was ist, das ir mich suchet? wisst ir nicht, das ich mues sein an
den geschseften, das meins vater ist ? " vnd si uerstuenden nicht das
wart, das er zu in redt, vnd er fuer mit in wider haim vnd chom
1) Über a ein e. 2) Darüber opferten. 3) Hsl. iiam corrigiert in name.
4) Daneben " , am rande ym slof (in somnis). 5) Daneben ' , am rande zunder.
6) Daneben oben (•). 7) Brief an die jRömer 12, 1—5. 8) Evang. 2, 42-52.
14 STEJSKAL
30 zu Nazareht vud was in [22"] vndertau. vnd sein mueter behielt alle
diesew wart vnd betracht sew in ir hertzen. vnd lesus nam zue
an der weishait vnd an dem allter vnd an der genad pey got vnd
pei den lewten.
XIV.
Di letzen am ersten suntag- — sand Paul^
Prüeder! seit habund di gäbe nach den genaden, di ew gege-
ben ist vnderschaidenleich. aintweder das weissagen nach der
beschaidenhait des glaubens oder den dienst, im dienen oder der
5 do lert, in der lernung; der do mant, in der manung; der do geit,
in der ainfaltichait; der do var ist, in der entzichait; der do erparmt,
[22''] in der vroeleichait. di lieb an gleichsenhait. hassund das übel
vnd an hangund dem gueten. mit prüederleicher lieb an einander
lieb habund, mit den eren an einander vürchomund. in der entzi-
10 chait nicht trreg, in dem geist hitzig, dem herren dienund. in der
hoffnung vrewund, in truebsal gedultig, dem gepet an steund. den
natdürften der heiligen gemainsamund , der gast ladung nach vol-
gund. wol sprecht ewern a?htern vnd nicht sult ir übel sprechen,
vrewt ew mit den vrewunden vnd waint mit den wainunden. das
15 selb an einander enphindund; nicht [23*] hahew uersteund, sunder
den dienmuetigen gehelund.
Das ewang-elij — sand Johannes '-.
Hachtzeit sind warden in Ghana Galylee vnd di mueter lesu
was do. Jesus ward auch dar geladen vnd sein iunger zu der
20 hachtzeit. vnd do geprast des weins, do sprach di mueter lesu
zu im: „si habent nicht weins." des antwurt ir Jesus: „was^ mir
vnd dier, weih? is ist nicht choemen noch mein zeit." do sprach
sein mueter zu den dieiia^rn : „ was er ew sage , das tuet." do warn
auch gesatzt sex steineine vas nach der rainigung der luden vnd
25 in igleich vas gieng zwen metzen oder trey. do |23''] sprach Jesus
zu in: „füllet di uas mit wasser." do fülten sis vntz ze obrist.
do sprach awer Jesus: „schepht nu vnd gebt dem fursten der hacht-
zeit." das teten di diener. do er do getranch des wassers, das
do warden was ze wein, vnd er wesst nicht, von wanne is chomen
30 was (di diener wessten is awer wol), do rüeft architriclinus dem
prewtkan vnd sprach zu im: „ein igleich mensch geit von erste
den gueten wein vnd so si trunckhen werdent, so geit er denn den
1) Brief an die Römer ]2, 6 — 16. 2) Ermif/. 2, 1-^Jl. 3) ZwiscJien
was und mir von jüngerer hand ist.
ALTDEUTSCHE PERIKOPEN 15
argen, du liast awer den gueten behalten vntz her." das zaichen
tet Tesus des ersten var seinn hmgern in Cha [24*] na Galylee
vnd offent sein glori vnd sein iunger gelaubten an in. 35
XV.
Di letzen am andern suntag* — sand Pauli.
Prfieder! nicht sult ir witzig sein pey ew selben, niemt fibel
vra übel Avider gebund ; besichtigund di gueten nicht alain var got,
Sünder auch var allen menschen, ob is geschehen mag das von ew
ist, mit allen lewten vrid habund. nicht ew selb werund ir aller 5
liebsten, sunder gebt stat dem zarn. wann geschriben ist: mir di
räch vnd ich g'ilts, spricht der herr. sunder ob hungert deinen
feint, speis in; ob in dürsst, trenkh in; wann das tueund, di choln
des fewers sammestu [24''] auf sein haubt. nicht soltu nber wunten
werden von dem übel. 10
Das ewangrelij — Matlieus^.
Do lesus gie ab dem perge , do uolget im nach ein michlew
menig. vnd ein aussetziger chom vnd pat in an sprechund: „herr,
ob du wild, so machtu mich gerainigen." lesus rekht aus di haut
vnd rüert in an vnd sprach: ,,ich wil, wierd gerainigt." vnd sotze- 15
haut ward er gerainigt von der aussetzichait. lesus sprach zu im:
,. siech , das du is iemeut sagest , sunder ge vnd zaig dich den prie-
stern vnd pring das opher, das Moyses gepat zu einem urchunde."
do er gie in die stat ze Capharnaum, do [25"] gie zu im der cen-
turius vnd pat in sprechund: „herr, mein chind leit in meim haus 20
pett ris vnd wiert übel gechestigt." do sprach lesus: „ich chum
vnd mach in gesunt." do antbuert im der zenturius: „herr, ich
piu des nicht wierdig, das du gest vnder mein dach, sunder du
sprich ain wart, so wirt mein chind gesunt. ich pin auch ein
mensch vnder gewalte vnd ritter vnder mir han vnd sprich ich zu 25
dem: gingk! vnd er get, zu eim andern: chum! vnd er chumt, vnd
zu meim^ chnecht: tue das! vnd er tuets." do lesus das gehart,
do wundert in des vnd sprach zu den , di im nach [25''] uolgten :
„werleich sag ich ew, ich vand so grass glaubens nicht in Israhel.
ich sag auch ew das genueg choement von osten vnd wessten vnd 30
sitzent mit Abraham vnd Ysaac vnd lacob in dem himelreich; di
chind ditz reiches werdent gewarflfen in di ausserist vinster , do wirt
wainn vnd grisgramen der zende." vnd lesus sprach zu dem cen-
1) Brief an die Römer 12, 16 — 21. 2) J£vmr(f. 8, 1 — 13. 3) Hs. mein.
16 STEJSKAL
tiirio: „ge liin, als du gelaubst also geschecli dir" viid an der
35 selben weil ward gesunt sein chind.
XVI.
Di letzen * am dritten suntag — sand Paul ^.
Prueder! niement sult ichsicht mier, das ir an einander lieb
habt; wann wer seiun nächsten lieb hat, [26''] der erfüllet di e.
wann: nicht ee prich, nicht tcett, nicht betrewg, niht sag falsch
5 zewgnusse, nicht beger das guet deins nächsten, vnd ob icht ist
ein ander gepot, in dem wart wiert is bestift: hab lieb dein näch-
sten als dich selb, di lieb des nächsten wiircht nicht Übels; darum
dew uollhait der e ist di lieb.
Das ewangelij — Marcus 3.
10 Jesus gie in ein schef vnd uolgten im nach sein iunger. vnd
ward ein grasse wegung auf dem mere, also das das schef bedekht
ward mit dem wasser; lesus der slief. do wekten in sein iunger
vnd sprachen: „herr! hail vus, wir uerderben." do antwurt [26'']
in lesus vnd sprach: .,wes furcht ier ew , ir chlaius glauben?" do
15 stuend er auf vnd gepat dem wint vnd dem mer vnd ward ein
michlevv stille, vnd di lewt, do sis gesahen, wundert des zehant
vnd sprahen: „wie tan ist der, wand im geharsam sind di wind
vnd das raer?"
XVII.
Di letzen am vierden suntag- — sand Paul*.
Prueder! legt ew an als di erweiten gotes vnd di lieben di
gedserm der parmung, di gfletichait, dienmüetichait, msessichait,
gedult. über tragund an einander vnd gebund ewch selb, ob ainr
5 wider den andern icht chlag liab; recht als der herr ew geben hat,
[27''] also tuet auch ir. vber das alles seit di lieb habuud, di ist
ein pant der uolchomenhait. vnd der vrid Christi vrew sich in
ewern hertzen , in dem ier auch geladen seit in aym leichnam ;
vnd danchufem west! das wart Christi das wen in cav genüchtlcich
10 in aller weishait. lerund vnd gemeinsam und ew selb in psalm
vnd loben vnd geistleichen sa^ngeu, in gonaden siiigund in ewerm
hertzen dem harren, alles, das ir tuet in warten oder in werchen,
alls tuets in dem namen des herren Jesu, der genaden danchund
got vnd dem vater durch lesum Christum vnsern herren.
1) Hs. letz. 2) Brief an die Römer 13, 8-10. 3) Evanf). MaithfP.i
8, 33—27. 4) Brief an die Colosser 3, 12—17.
ALTDEUTSCHE PERIKOPEN 17
Am suntag- das ewangelij — saiid Matlieus'. 15
[27*'] lesiis sach zu seinen lungern vnd sprach: „ich uergich
dir , vater hiniels vnd der erden ! wann du uerpargen hast dein tau-
gen var den weisen vnd den chluegen vnd hasts geoft'ent den chin-
den, vater! also geuiel is dier. is ist mir alles gegeben von mei- .
neni vater vnd erchennet auch niement den sun denn der vater, 20
noch den vater nieni denn der sun vnd dem is der sun chunt tuet,
chcemt zu mier all, di arbaitten vnd di beswert sein, vnd ich hilff
ew. nemt mein loch auf ew vnd lernt von mir, wann ich pin senft
vnd dienmütigs hertzen, vnd ir vint rue ewern seien; [28*] mein
loch ist suess, mein purd ring. 25
XVIII.
Di letzen, so man das alleluja^ nidei* leit — sand Paul\
Prueder! wisst ir nicht, das all die zewett lauflfent zwar all
lauflfents, awer ainr uimt den Ion? also laufft, das ir begreift!
wann ein igleicher, der am streit chriegt, var allen er sich enthaltt,
vnd di selben darum , das si ein zergsenchleich chron enphahen ; 5
awer wir ein vutzergseuchleichew. darum lauff ich also nicht sam
auf ein vngewiss, also streit ich nicht sam den wint slahuud; sun-
der ich chestig meinu leichnam vnd zu dienst ich in pring, das
icht, wenn ich den andern predig, ich vnfrum [28''] werde, ich wil
nicht ew nicht wissen, prueder! wand ewr vseter all vnder dem 10
gwolchen gewesen sind vnd all das mer durch gangen, vnd all in
Moysi getauft sind in dem gwolken vnd im mer, vnd all das
selb geistleich essen geessen habent, vnd all das selb geistleich
tranch getrunken haben — si trunkhen awer aus dem geistleichen
stain in begreiffund; aber der stain was Christus. 15
Das ewangelij — Matheus*.
lesus sprach zu seinn lungern: „das hlmelrelch ist geleich
oim hauswlert, der des^ margens aus get mieten werchlewt in seinn
Weingarten, do er gedingt het mit den [29°^] werchlewten zu aym
tag vm aym phenlng, do sant er sew in seinn Weingarten, vnd zu 20
der dritten weil gie er awer aus vnd sach an dem markt ander
sten muessig vnd sprach zu den: „get auch ir in den Weingarten,
vnd was recht ist, das gib ich ew." di gingen auch hin. do gie
er aber aus vm sext vnd non zeit vnd tet allsam. zder aindleften
1) Evang. 11, 25 — 30. 2) Hs. all'a. .1) 1. Brief an die Corinther 9,
24 — 10,5. i) Evang. 20, 1-^-16.
ZElTSnUR. F. DEUTSCHE PHII.OT-OGIK. BD. XII. 2
18 STEJSKAL
25 weil gie er awer aus vnd vand ander sten vnd sprach zu den:
„wes stet ir hie all deu tag raüessig?" si sprahen: „vns dingat
niemen." er sprach zu in: „get auch ir in den Weingarten." do
is do spet ward, do sprach der herr zu dem schaf [29*"] fer: „rueff
den werchlewten vnd gib in ir Ion vnd heb au datz dem iungsten
30 vntz hintz dem ersten," vnd do is chom an die, di vm den abent
waren chomen in den Weingarten, do enphie ir igleicher ainn phe-
ning. do is do an di ersten chom , wolten sie wsennen , das si mer
solten haben ; do enphie auch igleicher aynn phening. vnd do si
enphingen, do murmelten si wider den hauswiert sprechuud: „di
35 lessten habent ein weil gewarcht vnd du hast sew vns geleichet an
dem Ion, di do haben getragen di puerd des tages vnd der hitze."
des antwurt er ir ainem: „vrewnt! [30*] ich tuen dir nicht vnrecht;
du dingtest mit mir nicht mer denn vm aym phening. nim , das
dein sei, vnd ge; ich wil den lösten geben als vil sam dir. oder
40 zimt mir nicht zetuen, das ich wil? oder dein aug ist ein schalk,
wann ich pin guet? also werdent di lesten di ersten vnd di ersten
di lessten; vil sind geladen, awer ir sein wenich erweit."
XIX.
Di letzen am suiitag do nach — Paulus i.
Prueder! gern leit ir di vnwitzigen vnd ir doch selb witzig
seit, wand ir dultt, wer ew in dienst pringt, wer ew isst, wer
ew nimt, wer sich erhebt, wer ew ans antlutz siecht. [SC*] nach
5 der vnedel rede ich, als wier chrank sein gewesen au dem tayl;
in weu lernen getar — in vnweishait red ich — in dew getar auch
ich. Hebrei sinds, vnd ich; Israheliteu sinds, vnd ich auch; der
sam Abrahe sinds , vnd auch ich ; diener Christi sinds , vnd ich
auch — als minne weis red ich — ich noch mer ; in mer arwaiten,
10 entzichleich in charchern, in siegen über di mass, in tceden ent-
zichleich. von den luden fünstund viertzich ains minner hau ich
gellten. 2 dreistund mit gerten pin ich geslagen, ains pin ich
gestaint, dreistund schefbrüch hau ich gellten, nacht vnd tag in
[31*] der tieff des mores pin ich gebeseu, aufwogen dikh, in schse-
15 den der wasser, in noeten der Schacher, in nceten aus der gemain,
in noeten von den dieten, in noeten in der stat, in nceten in der
aingsecht, in noeten auf dem mer, in noeten von falschen pruederu,
in arbait vnd schceden, in vil wachens, in hunger vnd dursste, in
1) 2. Brief an die Corinther 11, 19—12, 9. 2) Am linken runde der
Seite von jüngerer hand genern.
ALTDEUTSCHE PERIKOPEN 19
vil uasten, in chelten vnd naktum, awer an di äussern dinch mein
taegieicher anstant ist, di fleissicbait aller chircheu. wer ist siech, 20
vnd ich nicht siech pin? wer wiert geschent, vnd ich nicht wird
geprant? ob ich mues gewden, di von meiner chrankhait sind gewd
ich. got der vater vnsers herren [Sl**] lesu Christi, dem wol ist
gesprochen iu weit, der wais, das ich nicht lewg, in Damasco der
probst des folkhs chnnigs Arethe der huettat der stat Damascenorum, 25
das er mich begriffe; vnd durch ein uenster iu eim charb über di
maur ward ich aus gelassen vnd also entran ich seinn hanten. ob
ich gewden mues — zwar is zimt nicht — ich chüni awer zu den
gesiebten vnd offnung des herren. ich wais ein menschen in Christo
var viertzehen iaren — oder im leichnam oder aus dem leichnam 30
wais ich niclit , got waiss — getzukten den selben vntz in den drit-
ten himel; vnd ich wais den selben [32*] menschen — oder im
leichnam oder ausem leichnam wais ich nicht, got waiss — wand
er getzukt ist ins paradys vnd hart di gehaimen wart, di nicht
ziment dem menschen zereden. durch des willen gewd ich; durch 35
mein willen aber nicht nuer in meinn chrankaiten. wann ob ich
Avil gewden , ich wird nicht vnweis , wann di warhait sag ich ; awer
ich uertrag, das iement w?en über das, das er an mir siecht oder
hoert icht von mir. vnd das icht di groes der offnung mich erheb,
ist mir geben ein stechaer meins fleischs, der engel Sathane, das 40
er mich halsslach. vni das hau ich dreistuud den herren gepeten,
das er entwich [32'' | von mir. vnd er sprach zu mir: „genüe dich
nieinr genad, wann tugent in chrankait wirt uolpracht." dar um
gewd ich gern in meinn siechtümen, das in mir won di tugent
Christi.
Das ewangelij des selben tags — Lucas ^ 45
Do ein michel menig chom zu lesu vnd von den steten eyl-
ten zu im, do sprach er ein pispel: „der akherman gie aus säen
seinn sam; vnd do er gesset, do viel ain sam pei dem wege vnd
ward uertreten vnd assen in auch di vogel. vnd ein ander sam
viel auf di stain ; vnd do is bechom , do darret is , wann is het der 50
fewcht nicht, vnd ein ander sam viel in di darn vnd giengen di
[33*] darn do mit auf vnd erstekten den samen. vnd ein ander
sam viel auf ein guet erdreich vnd pracht hundertfaltig vrucht."
do er das gesprach, do rief er: „der aren hab zehörn, der hoer."
sein iunger vragten in, was das pispel wser, do sprach er zu in: 55
„ew ist gegeben zu wissen di betzaichnung des gotes reich; den
1) Evang. 8, 4 — 15.
20 STEJSKAL
andern au pispeln, das si sehund nicht sehen vnd horunde nicht
uernemen. also ist das pispel: der sam ist das gotswart. der do
uellet zu dem wege, das sind di das gotes wart hcerent; do nach
60 chümt der tiefel vnd uimt is von ir hertzeu , das si gelaubund nicht
sselig werden, das [SS**] awer do uelt auf den stain, das sind di^
di das wart hcerent vnd is mit frewden enphahent; vnd di habent
der wurtzen nicht , wann si gelaubent zu churtzer zeit vnd werdent
uerchert von der becharung. das awer wellet in di darn, das sind
65 di is hoirent vnd von den sargen vnd von dem reichtum vnd von
der Wollüste des leibes sterwent si vnd pringent nicht vrucht. das
awer uellt in di gueten erd, das sind die mit gueten vnd aller
pesten hertzen vnd mit rainem rauet horent das gotswart vnd is
auch behaltent, di pringent mit gedult di vrucht.
XX.
Di letzen 1 des sunutags^ [34*] ze uasnaeht — sand Paul^.
Prüeder ! ob ich mit zungen der menschen vnd der engel redset,
sunder hab ich nicht di lieb, ich pin wardeu als ein doenund glok-
speis oder ein chlingunde cymbal. vnd ob ich hau den weissagtum
5 vnd bechenn alle gehaim vnd all chunst; vnd ob ich hab allen
glauben, also das ich di perg Übertrag, sunder hau ich nicht di
lieb , nichtes pin ich. vnd ob ich tail in essen der arm all mein
hab, vnd ob ich gib meinn leichnam, also das ich prinne , suuder
hab ich di lieb, nicht nitsnicht frumts mir. di lieb ist gedultig,
10 güetig iss; di lieb nicht nei [34"] det , si würcht nicht Übels, nicht
plset si sich, si ist nicht begierig, nicht suecht si das ir ist, si
wiert nicht geraitzt, si gedenkht nicht Übels, nicht vrewt si sicli
über di pashait, awer si mit vrewt der warhait; alle diuch über
traits , alle gelaubts , allew gedingts , alle leits. di lieb ueltt nim-
15 mer aus, ob di weissagtum werdent gelsert oder di zungen horent
oder di chunst zenicht wiert. wann aus aim tail erchenn wir vnd
aus aim teil weissa wir, awer wenn nu chumt das uolchomen ist,
so wiert gelaert das aus dem tail ist. do ich was chlain, do redt
ich als ein chlainrr, [35*] ich uerstuend als ein chlainr, ich gedacht
20 als ein chlainr; awer do ich pin warden ein man, hau ich aus
gelsert was des chlainn was. wier sehen nu durch ainen spiegel;
awer dann von angesicht zu angesichte. nu erchenn ich aus dem
tail , aber denn wierd ich erchenuen , als ich erchant pin. nu beleibt
der gelaub, der geding vnd di lieb, di drew; awer das merer der
25 ist di lieb.
1) Hs. letz. 2) Hs. suuu. 3) 1. Brief an die Corinther 13, 1 — 13.
ALTDEUTSCHK PERIKOPEN 2X
Das ewangelij — Matheus'.
lesus nam zu im di zwelf sein iunger vnd spi;icli: „wir choe-
men auf zu lerusalem vnd wirt geendet alles, das geschriben ist
von den weissagen von des menschen sun. er wiert ge [30''] geben
den dieten vnd wiert uerspott vnd gegayselt vnd uerspürtzt; vnd so
si in gegayselnt, so toettent si in vnd er erstet des dritten tages."
das wart was uerpargen var in vnd si uerstuenden des nichsnicht,
das gesprochen ward, is geschach , do er naheut zu Yericho , do sas
ein plinter pey dem wege vnd pat das allmuesen. vnd do er hart
di schar vür gen, do vragt er, was do wsev. si sagten im, is wser 35
lesus von Nazareth. do er viir gie, do rnefft er im: „lesus Dauids
sun , erparm dich über mich ! " vnd di var gingen , di strafften in,
das er swig. er rM't awer michels [36*] mer: „Dauids sun, erparm
dich über mich!" lesus stuend vnd hies in weisen zu im vnd do
er im nahent, do vragt er in: „was wild, das ich dir tue?" der 40
plint sprach: „herre, das ich gesech." lesus sprach awer zu iem:
„siech auf, dein gelaub hat dich gesunt gemacht." vnd so zehant
gesach er vnd uolgt im nach vnd lobt got. alles folkh, das is
gesach , das gab got glori.
XXL
Di letzen des ersten suntag^es in der uassten — sand Paul 2.
Prüder! wir manu ew, das ir icht eytel di genad gotes en-
phacht. wann er sprach : in der gensemen zeit er [36''] hart ich dich
vnd an dem tag des hailes half ich dir. nemt war di gensem zeit,
nu ist der tag des hailes! niemen gebt chain laidigung, das nicht 5
gescholten werd vnser dienst; sunder in allen dingen erpiet wir vns
selbe als di gotes dieuer in vil gedult, in truebsaln, in augsten, in
siegen, in charchern, in herferten, in arbaiten, in wachen, in uass-
ten, in chewsch, in chunst, in langmüetichait , in süessichait, im
heiligen geist, in vngetichter lieb, im wart der warhait, in der 10
tugent gotes, durch di waften der rechtichait zu der zesem vnd zu
der letzen , durch di glori vnd vu [37*] edelhait , durch den vnleunt
vnd gueten leunt; recht als betrieger, vnd warhaft; recht als di
vnerchanten, vnd doch erchaut; als die taden, vnd secht, wir leben;
als di gechestigten , vnd doch nicht getoett; als di traurigen, awer 15
all zeit vroeleich ; als dew dürftigen , awer vil reichund ; als nichs-
nicht habund, vnd alle besitzund.
1) Evang. Luccb 18, 31 — 43. 2) 2. Brief an die Corinther 6, 1 — 10.
22 STEJSKAIi
Das ewangelij — Matlieus*.
lesus ward gefiirt in di wuesst von dem heiligen geist , das er
20 wurde becbart von dem tiefel. vnd do er gefasst viertzk tag vnd
viertzk nacht, do nach hungert in. vnd der uersuecher chom zu im
vnd sprach: „ob dus pist der gotes sun, so ge [37''] peut, das di
stain werden prat.." des antwurt im lesus: „is ist geschriben, das
der mensch nicht lebe alaine des prates, sunder eins igleichen war-
25 tes, das do chomund ist von dem munde gotes." do nam in der
tiefel mit im in di heilig stat vnd setzt in auf di hoech des tem-
pels vnd sprach zu im : „ pistus der gotes sun , so la dich hin nider ;
is stet geschriben: er hab dich seinn eugelen enpholhen, vnd di
tragen dich auf iren beuten, das du deinn fues icht laidigest am
30 stain." do sprach lesus awer zu im; „is ist geschriben: du uer-
suech nicht deinn herreu vnd deinn [38*] got." der tiefel nam in
awer vnd fuert in mit im auf einn haben perkh vnd zaigt im alle
reich dierr weit vnd ir ere vnd sprach zu im: ,,das alles gib ich
dir, ob du nider uellest vnd pettest mich an." do sprach lesus
35 zu im: „ge hin, Sathanas, is ist geschriben: deinnen herren vnd
deinn got an pette vnd im ayn dien." do lies in der tiefel vnd
gingen zu im di engel vnd dienten im.
XXII.
Di letzen am andern snnntag — sand PauP.
Prueder! wir pitten ew im herren lesu vnd vlegen , als ir
enphangen habt von vns, wie ir muesst wandern vnd gefallen got,
als auch ir wandert, [38"] das ir mer genueget. ir wisst, welhew
5 gepot ich ew geben hab durch den herren lesum. wann das ist der
wille gotes, ewr heiligung; das ir ew enthalt var vnchewsch, das
chünn ewr igleicher sein vas besitzen in heiligung vnd eren, nicht
in leiden der begier als di diet, di nicht bechennent got; vnd das
niement überge oder betrieg in geschäft seinn prueder; wann ein
10 recher ist got von den allen, als wir ew var gesaget haben vnd
betzewgt haben, waun ew nicht got geladen hat in vnrainchait,
sunder in heiligung in Christo lesu vnsern» herren.
Das [39»] eAvaug-elij ~ Matheus''.
lesus gie in das laut Tyri vnd Sydonis. vnd ein weib von
15 dem geslsecht Chanaan aus dem selben laut di rueft in an: „herr,
1) Evang. 4, 1 — 11. 2) 1. Brief an die Thessalonicher 4, 1 — 7. 3) Evang.
15, 21 — 28.
ALTDEUTSCHE PEKIKOPEN 23
üauidüs sun , erpariii dich über mich ! mciu tachier wiert übel gemüct
von dem tiefel." des antwurt er ir nicht, des gingen sein iunger
zue vnd paten in sprechund: „la sei, wann si schreit vns nach."
des antwnrt in lesus: „ich pin nicht gesant wenn zu den schaffen,
di uerdarben sind von dem haus Israel." do chom das weib und 20
pat in sprechund zu im: »herr, hilf mir!" er antwurt ir: „is ist
nicht guet zenemeu der chinde prat vnd geben [39"] den hunden."
do sprach das Aveib: „ja, herr, wann di hüntel essent dew prasera,
di do uallent von ir herren tisch." des antwurt ir awer lesus vnd
sprach: „weib, gras ist dein gelaub; dir geschech was du wellest." 25
vnd an der selben weil ward ir tachter gesunt.
XXIII.
Di letzen am dritten suutag — sand Paul*.
Prueder! seit di nachuolger gotes als di liebsten süu, vnd
wandert in lieb , als Christus vns lieb hat gehabt vnd gab sich selb
vm vns ein opher vnd ein prant opher got in den gesmachen der
süessichait. awer vnchewsch vnd alle vnrainchait oder geitichait 5
sol [40"] in ew nicht genant werden, als gezimt di heiligen; oder
pasheit oder toerleichew rede oder vmlauffung, di zu den dingen
nicht gehorent, sunder mer di genad tueung. wann das wisst uer-
steund, das ein igleich vnchewscher oder vnrainr oder geitiger,
das ein dienst ist der apgoetter, nicht erbes hat in dem reich Christi 10
vnd gotes. niemt ew betrieg mit eyteln warten; wann durch das
chom der zarn gotes in di sün des vngediugens. darum sult ir
nicht werden ir gemainer ; wann ir wart etwenn ein vinster , awer
nu ein lieht im herren. als di sun des liechtes [40^] wandert ; wann
di vrucht des lichtes ist in aller güet vnd gerech tichait vnd warhait. 15
Das ewaugelij — saiid Liicam-.
lesus treib eimi tiefel aus, der was ein stumme, vnd do er
den tiefel aus gewarf, do redt der stumme; das wundert di schar,
is sprachen auch ir sümleich : „ er uertreibt den tiefel mit Beltze-
bup, der ein fürsst ist der tiefel." sümleich uersuechten in vnd wol- 20
ten von im zaichen sehen von himel. do lesus sach ir gedänkh
do sprach er zu in: „ein igleich reich, das wider sich selb ist,
das zerget vnd uellt ain haus auf das ander, vnd ob [41*] der tie-
fel wider sich selb ist, wie gestet sein reich, wann ir sprecht, das
ich mit dem fürssteu der tiefel die poesen geist uertreib? vnd ob 25
1) Brief an die Ephesier 5,1 — 9. 2) Evang. 11, 14 — 28.
24 STEJSKAL
ich mit Beltzebup uerfcreib , mit wem uertreibent sew denn ewr sün ?
do von werdent si richter über ewch. ob ich mit dem lieiligen
geist den tiefe! uertreib, so chitmt in ew das gotes reich, so der
starkh gewaften seinnes hauss huett, so ist alles das mit vrid, das
30 er hat besessen, chimt awer ein sterkherr denn er vnd über win-
det in , er nimt im alls sein waften , zu dem er het zueuersicht.
vnd seinn raub den tailt er. der [41''J mit mir nicht ist, der ist
wider mich; vnd der nicht sanmiet mit mir, der strewt. so der
pces geist aus dem menschen fert, so fert er vm die wsesserigen
35 stet vnd suecht rue ; vnd so er ir nicht vint , so spricht er : ich
chum wider in mein haus, dar aus ich pin gefarn. vnd so er aber
chümt, so vindt er is mit pesem geraiuigt vnd getziret. so nimt
er dennoch zu im siben ander geist, wirserr denn er, vnd varent
dar in vnd wouent do; vnd sind des menschen lesste tag wirser
40 denn sein erste." is geschach do lesus also redt, das ein weib ir
stimm auf hueb von [42"] den scharn vnd sprach zu im : „derpaucli
sei sailig, der dich trueg, vnd di pruste, di du saugtest." vnd er
sprach: „das ist also; auch sind sselig, di do horent das gotes
wart vnd das behutent."
XXIV.
Di letzen ze mitter uassteu — sand Paul K
Prueder! is ist geschriben, das Abraham het zwen sün: aynn
von der diern vnd ain von der vreyn. sunder der von der diern
ist geparn von dem fleisch, aber der von der vreyn ist geparen
5 dur di gehaisse. dew sind gesprochen durch gleichnüsse ; wann das
sind die zwai geschajft: das ayn an dem perg Syna, das in dienst
[42**] gepiert, dew ist Agar; wann Syna ist ein perkh in Arabia,
der zue gefüegt ist ir, di nu ist lerusalem vnd dienuet mit ireu
sünn. awer die di oben ist lerusalem ist vrey, di ist vnser mue-
10 ter. wann is ist geschriben : vrew dich , vnfruchtparew ! di du nicht
gepierst ; prich aus vnd schrey , di du nicht gepierst ; wann vil sein
der sün der uerwüssten mer denn ir , di do man hat. awer wir,
prueder ! nach Ysaac gehaiss sei wir sün ; vnd als do der nach dem
vleisch geparn was aechtat den, der nach dem geist: also auch nu.
15 awer was spricht di schritt? wierf aus di diern vnd iren sun;
[43'1 wann nicht wiert erb der diern sun mit der vreyen sun. zwar,
prueder! wir sein nicht der diern sün, sunder der vreyn, mit der
vreyhait vns Christus gelobst hat.
1) Brief an die Galuter 4, 22 — 31.
ALTDEUTSCHE I'ERIKOPflN
25
Des suntag-s ze mitter uasteii das ewaiigelij lohamtcs '.
Jesus tiier ze Galylee über luer , das genant ist Tyboriadis. 20
vud uolget im nach ein niiclilew schar , wann si sahen di zaichen,
di er begie ob den, di do siech warn, er gie auf ainn perkli vnd
sas do. is was nahen di astern zdeni hachtzeitleichen tag der luden,
vnd do lesus di äugen auf liueb vnd sach , das die maist menig zu
im chom, do sprach er zu seinem iunger Philippo : „von wem chauff 25
\i'6^] wir das prat, das dise geessen?'" das sprach er darum, das
er in uersuecht, wann er wesst wol, was er tuen solt. des ant-
wurt im Pliilippus: „zway hundert pheniug wert prates gemieget
in nicht, das igleichem ein weuich wurde.'' do sprach ainr seiner
iunger zu im, der was genant Andreas , Symonis Petri prueder: „hie 30
ist ein chind, das hat fünf giersteinew prat vnd zwen visch; wie
hach hebt awer das vnder so manigen?" do sprach lesus: „haisst di
lewt sitzen." do lag vil hews an der stat. do sassen di man, der
warn an der zal wol fünf tausent. lesus nam di prat vnd |44*]
segent sew vnd tailts den, di do sassen, vnd der visch, als vil si 35
weiten, do si Avurden gesatt, do sprach lesus zu seinu iungern:
„legt zesamme di prasem, di do über sein warden, das si nicht
verderben." si lasen sew zesamm vnd fülten zwelf chorb mit den
prasem von den fünf giersteiuu praten , di do über sind warden den,
di do assen. do di lewt sahen das zaichen, das er begangen het, 40
do sprachen si : „ er ist werleich der prophet , der do chomen ist in
disevv weit."
XXV.
Di letzen am tympel suntag- — saud Paul-,
Prueder ! Christus , der peysteund pisch [44*'] olf der chünftigen
güet, das witer vnd das uolchomner getzelt, nicht mit der hant
gemacht, das ist als vil gesprochen, nicht dierr schephung, noch
mit dem pluet der poekh vnd der chelper, sunder mit seim aygenn 5
pluet gie er ains in di heilichait vnd ward funden di ewig erlasung.
wann ob das pluet der pcekh vnd der stier vnd der aschen des
chalbs di gemailigten heiligt zu rainigung des vleischs, michels mer
das pluet Christi , der durch den heiligen geist sich selb geophert
hat, vngemailigt got hat gerainigt vnser gewissen von den taden 10
werch [45''J en ze dienen dem lemtigen got! vnd darum ist er ein
mitter der newen e, das si mit dem tade ein erlasung der übergeng,
di do warn vnder dem erern geschseft , vnd ein gehaisse enphahen,
di do geladen sind dem ewigen erbtail in Christo Jesu vnserm herren.
1) Evang. 6 , 1 — 15. 2) Brief an die Hebräer 9, 11 — 15.
26 STEJSKAL
15 Das ewaiigrelij — saiid lohaimes'.
lesus sprach zu den scharn vud zu den pischolfen: „welher
ewr strafft mich von der sünden ? ob ich ew di warhait sag , warum
gehiubt ir mir nicht? der von got ist, der hört auch gotes wart;
darum beeret ir des nicht, wann ir seit von got nicht." di luden
20 antwurten sprechuud: „du pist recht ein Sama [45''] ritanus vnd pist
behaft mit dem tiefel." in antwurt lesus: „ich han nicht den tie-
fel, sunder ich er meinen vater vnd ir habt mich geunert. ich
suech nicht mein glori; er ist ders suecht vnd rieht, werleich,
werleich sag ich ew, wer meine wart behallt, der siecht ewichleich
25 nicht den tad!" do sprachen di luden: „nu wisse wir wol, das
du behaft pist. Abraham ist tad vnd weissagen, vnd sprichstu:
wer meine wart behalt, der gesiecht ewichleich nicht den tad! oder
pistu merr denn vnser vater Abraham, der tad ist? vnd weissagen
sind auch tad. wen machs [46*] tu aus dir selben?" des antwuert
30 in lesus: ,,ob ich mich selben ere, so ist mein er enwicht; mein
vater ist is, der mich eret, den ir do sprecht, er ist vnser got.
vnd ir bechent sein nicht; ich erchenn in awer wol; vnd spreechich,
das ich sein nicht erchant , so wurd ich ein lugner , als ir. ich erchenn
in vnd behalt seine wart. Abraham , ewr vater , vrewt sich , das
35 er gessech mein tag; den sach er vnd ward gevrewt." do sprachen
di luden: „du hast noch nicht funftzik iar vnd hast Abraham
gesehen?" lesus sprach awer zu in: „werleich, werleich sag ich
ew , e das Abraham waer ^, [46''] do pin ich ! " do hueben si stain
auf, das si in wuerften; lesus parg sich vnd gie aus dem tempel.
XXVI.
Di letzeu am pluemastertag zum ampt — sand Paul 3.
Prüeder! des enphint in ew, das do ist in Christo lesu. do
er in der gestalt gotes was, nicht in raub uerwant er sich geleich
wesen got; sunder sich selb uerwandelt er di gestalt des chnechtes
5 an sich nemuud, in gleich uüss des menschen warden vnd mit der
handlung funden als ein mensch, er dienmuetigt sich selb vnd
ward geharsam vutz inn tad, halt in den tad das chrewtz. darum
hcech [47*] at in got vnd gab im einen nam, der ist über all nam,
das in dem nam lesu alls chnie gepogen werde der himlischen
10 vnd der ierdischen vnd der helle vnd das alle zuuge uergech, wann
der herr lesus Christus ist der glori got des vater.
Dem ewangelij gelelch vindestu ain ersten suntag des aduentes.
1) Evany. 8, 46 — 59. 2) Hs. w'. 3) Brief an die Philipper 2, 5^ 11.
ALTDEUTSCHE PERIKOPEN
27
XXVII.
DI letzen am autlas tag- — sand Paul '.
Piücder! wenn ir zesamnie choemt, so ist yotzund iiiclit zeit
das herleich abeiitmal zu essen, ein i gleicher getar wol sein abent-
mal essen; awer ainr der ist hungerig, und der ander der ist truu-
khen. habt ir nicht hewser zu essen vnd zu trink [47''] en? oder 5
smaicht ir di chirchon gots vnd schendet se, di ir nicht habeutV
was sag ich ew ? ich lob ewch ? an dew lob ich ew nicht, wand ich
han genomeu vom herren, das ich ew gegeben han. wann der herre
lesus an der nacht, vnd er uerraten ward, nam er das prat vnd
prachs vnd sprach: das ist mein leichnam, der vor ew gegeben 10
wiert; das tuet in meinr gedajchtniisse ! alsam den chelch, do er
geas , vnd sprach : der ehelich ist ein news geschaäft in meini pluet ;
das tuet , als offt ir das trinkt in meinr gedsechtnüsse ! wann [48"]
als dikh ir das prat esst vnd den chelch trinkt , den tad des herren
chundet ir vntz das er cbümt. zwar welher ist das prat oder trinkht 15
den ehelich des herren vnwierdichleich , der wiert schuldig des leich-
nam vnd des pluets des herreu. bewahr aber sich selb der mensch ;
vnd also esse des prates vnd trinchk des chelchs. wann wer isst
oder trinkt vnwierdikleich, das gericht isst vnd trinkt er im, nicht
richtund den leichnam des herren. darum vnder ew sind chranker 20
vnd chlainmüetiger vnd slaffent ier vil. vnd ob wir vns selb rich-
tseten, zwar wir wurden nicht gericht. [48**] awer wenn wir gericht
werden, von dem herren werd wir gestrafft, das wir icht mit dierr
weit uerdamt werden.
Das ewang-elij — lohaiines^. 25
Var dem heiligen tag der astern wesst lesus wol , das chomen
was sein zeit, das er fiier von diser weite zu dem vater, do er lieb
het di seinn di in der weit waren, do het ers lieb vntz ins ende,
vnd do si geassen, do het der tiefel gesant in ludam Symonem
Scariothium hertz, das er in uerchauft; vnd wesst wol, das is im 30
sein vater gab alles in sein heut vnd das er chom von im vnd get
zu got: do stuend [49''] er auf von dem tisch vnd legt von im sein
gewant vnd nam ein twehel vnd giierrt sich do mit. dar nach gas
er wasser in ein pekhe vnd begunde der iunger füesse twahen vnd
trukhenu mit der twehel, mit der er sich geguerrt het. vnd do 35
er chom zu Symon Petro, do sprach zu im Symon Petrus: „herr,
du twechst mir mein fuesse ? " des antwurt im lesus vnd sprach zu
1) 1. Brief an die Corinther 11, 20 — 32. 2) Evcmg. 13, 1 — 15.
28 STEJSKAL
im: „das ich do tuen, des waistu nicht uu ; awer hernach so wur-
destu is wissund." do sprach awer Petrus: „du twechst mein füess
40 nimmer ewichleich ! " des antwurt im lesus: „vnd ob ich dich [49"]
nicht wasch, so hastu nicht tail mit mir," do sprach awer zu im
Symon Petrus: „herr, nicht alain di fiiesse, sunder di hent vnd das
haubt." do sprach zu im lesus : „ der gewaschen ist, der endarf nicht,
wenn das man im di fuesse twach, vnd ist denn gar rain. vnd ir
45 seit rain, nicht alle." er wesst wol, wer der was, der in wolt uer-
raten. darum sprach er: „ir seit nicht all rain." do er gewuesch ir
fuess vnd er genam sein gewant vnd das er gesas, do sprach er zu
in: „wisst ir, was ich ew getan habe? ir haist mich maister vnd
herr vnd sprecht dar [50"] an wol; wann ich pius. ob ich maister
50 vnd herr twach ewr fuesse, alsam sült auch ir an ein ander waschen
di fuess. ich han ew gegeben ein pilde; als ich ev^^ getan hab,
also tuet auch ir!"
XXVIII.
Di letzen am aster tag — Paul^.
Prueder! rainigt das alt urhab, das ir seit ein new gespren-
gung, als ir seit derb; zwar vnser asterlamp Christus ist geophert.
zwar esse wir nicht in altem urhab , noch in urhab der pashait vnd
5 der schalchait, sunder in den derben der ainfaltichait vnd der warhait.
Das ewangelij — Marcus 2.
IVIaria Magdalena vnd Maria lacobi vnd Salo [bO^] mee di
chauften weiroch, vm das si chömen vnd salbten lesum. vnd vil
vrue eins suntages chomen si zu dem grab, do di sunn was auf
10 gegangen, vnd sprachen zu einander: „wer walget vns den stain
abe dem grab?" vnd sahen wider vnd sahen den stain ab dem
grabe gewalcen; er was gar gras, vnd si gingen in das grab, do
sahen si einen iüngiinch sitzen zu der rechten hant bedekt mit weis-
sem gewant vnd erchomen. der sprach zu in: „furcht ew nicht,
15 ir suecht lesum von Nazareth den gechrewtzteu , er ist erstanden;
er ist hie nicht, secht [bV] di stat, do si in hin heten gelegt, get
vnd sagt is seinn lungern vnd Petro , das er var in get in Galy-
leam; da secht ir in, als er ew sagt."
XXIX.
Di letzen am montag an zweit" poten puech''.
In den tagen Petrus stuend in mitt des uolkhs vnd sprach:
„man, prueder! ir wisst, das das wart ist warden durch allludeam;
1) 1. Brief an die Corinther 5, 7 — 8. 2) Evang. 16 , 1 — 7. 3) Ax)o-
stelgesch. 10, 37 — 43.
ALTDEUTSCHE PERIKOPEN 29
vncl liebt an zu Galylee nach der taufte, di loliannes gepredigt hat;
lesum von Nazareth wie in got gesalhet hat mit dem heiligen geist 5
vnd mit tugent; der durch gangen hat woltueund vnd hailund all
gedrukten von dem tiefel, wann got was mit [51''| im. vnd wir
sein oretzewff aller, di er getan hat in dem lante der luden vnd
lerusalem, den si getoett habent hahund an das holtz. den erchükt
got am dritten tag vnd gab in chund werden, nicht allem uolkh 10
sunder den vargeardenten zewgen von got, vns, di geessen haben
vnd getrunkhen mit im, do nach vnd er erstuend vom tad. vnd
er gepat vns predigen dem uolkh betzewgen, wand er iss, der
gesatzt ist von got richter lemtiger vud tader. dem geben all pro-
pheten zewgnüss antlas der sunten enphahen durch seimi namen, di 15
do au in gelaubent."
[52*] Das ewangelij — Lucam^
Zwen iunger lesu gingen in ein castell, das was von leru-
salem in der ferr als sechtzig gwanten ; das hies Emaus. vnd red-
ten mit einander von allen den, di do warn geschehen, vnd geschach 20
also, do si redten vnd vragten vnder in, do nahent lesus vnd gie
mit in. ir äugen warn bedakht , das si sein nicht erchanten. vnd
er sprach zu in: „was red ist, di ir sprecht zu einander geund vnd
seit traurig?" vnd ainr derantwurt, der hies Cleophas , vnd sprach
zu im : „ du pist ein ainig pillgreim in lerusalem vnd hast nicht 25
erchant was da ist gesche [52''] hen in den tagen?" do sprach er
zu in: „welhew?" des antwurten si: „von Jesu Nazareno, der do
was ein man prophet gewaltig an red vud an werchen vnd an war-
ten var got vnd var alleu lewten; vnd wie in di pischolf vnd vnser
fursten uerrieten in di uerdamnnsse des tades vnd chrewtzteu in. 30
wir uersahen vns, des er solt erloesen Israel, liber das alles ist
heut der dritt tag, das is geschach. vnd siimleich weih der vnsern
di erschrekten vns, di warn var Hechts do zu dem grab vnd do si
des leichnam nicht funden , do chomen si vnd sprachen , si bieten
di engel gesehen , di bieten in gesagt, [53*] das er lebte, vud gin- 35
gen sümleich der vnsern hin zu dem grab vnd funden is also, als
di weih heteu gesagt, sein selbs funden si nicht." do sprach er
zu in: „owe tumb vnd trseges hertzen zu gelauben in alle dew,
das di weissagen haben gesprochen! is muest sein, das Christ das
lid vnd also chomen in sein glori." vnd hneb an von JVToysen vnd 40
von alleu weissagen vnd bedewt in di schrift in all den , di von im
waren, vnd nahenten dem castell, do si do gegen gingen; vnd er
1) Evang. 24, 13—35.
30 STEJSKAL
erpat sich ferrer zegen. vnd si noetten in sprechund: „beleih pey
vns, wann is ist abeut vnd ist der löS*"] tag genaiget." vnd er gie
45 hin mit in vnd geschach , do mit in gesas , do nam er das prat vnd
segent is vnd prachs vnd gab is in vnd ir äugen wurden offen vnd
erchanten in; vnd er uerswaut var ir äugen, vnd si sprachen zu
einander: „pran vnser hertz nicht in vns von lesu, do er mit vns
redt an dem wege vnd vns offent di schrift?" vnd stuenden auf
50 an der selben weil vnd cherten wider gen lerusalem vnd funden
pei einander di aindlef iunger vnd di mit in warn vnd sprahen, das
gut w£er ^ erstanden werleich vnd erschain Symoni. vnd [54*] di
sagten, das er an dem weg was gegangen vnd wie si in heten
erchant an dem pruch des prates.
XXX.
Di letzen am eritag an der zwelf poten puecli^.
In den tagen Paulus stuend auf vnd mit der liant gepat er
ein stille vnd sprach: „man, prüeder, sün des geslaechts Abrahe
vnd di in ew fürchtent got, ew ist gesant das wart des hailes !
5 wann di do wonten ze lerusalem vnd ir fuersten bechanteu nicht
Tesura noch di stymme der propheten, di all veirtag gelesen wer-
dent , richtund uolprachten si. vnd chayn sache des tades funden
si an ym, si paten von Pylato, das si in [54'' | toettaeteu. vnd do
sis alle uolprachten , di von im geschriben sind , si namen in ab
10 dem holtz vnd legten in in das grab, awer got chiikt in vom tade;
der ist gesehen vil tag von den, di auch mit ym auf warn gegan-
gen gen lerusalem von Galyle, di vntz nu sein zewg sind zum
folkh. vnd wir chüuden ew di gehaiss, di zu vnsern vaetern ge-
schehen sind; wann di hat got erfüllet vnsern chinden erchüekund
15 lesum Christum vnsern herren.
Das ewangelij — sand Lucam ^ .
lesus stuend enmitten vnder seinn lungern vnd sprach zu in :
„frid sei mit ew; ich pins, furcht [55*] ew nicht!" di iunger warn
traurig vnd erschrakten vnd wonten, si bieten einn geist gesehen.
20 vnd er sprach zu in: „warum seit ir traurig vnd habt soelch gedanch?
secht mein hent vnd mein fiiess, wann icb pin is selb; secht vnd
greift! wann dew geist haben weder vleisch noch pain, als ir mich
secht haben." vnd do er das gesprach, do zaigt er in hent vnd
füesse. do si dennoch nicht gelaubten vnd sew des wunder nam
1) Hs. w^ 2) Apostelgeseh. t3 , 16. 26 — 33. 3) Emng.24, 36—47.
ALTDEUTSCHE PERIKOPEN 31
var vrewdeu, do sprach er: „habt ir hie das man esse?" do prach- 25
teil si im eins vischs ain tail vnd honigsaim vnd do er geas var
in, do nam |55''l er das ander tail vnd gab ins vnd sprach: „das
sint di wart, di ich sprach zu ew, do ich dennoch pei ew was,
wann sein was duerft zu erfüllen alles, das geschriben was an der
e moysi vnd den weissagen vnd psalm von mir." do offent er in 30
den sin vnd si uernamen di schritt vnd sprach zu in: „is vs^as also
geschriben vnd muest Christ also leiden vnd ersten vom tad am
dritten tag vnd predigen in seim nam di rew vnd den antlas
aller diet. "
XXXI.
Di letzen am ahten tag- nacli asterii — loliannes'.
Aller liebsten! alles, das geparn ist von got, über wintt di
weit; vnd das [56*] ist der sig, der di weit überwintt, vnser glaub,
wer ist awer er, der di weit überwintt? nuer der gelaubt, wand
lesus ist gotes suu. der ist, der chomen ist durch wasser vnd 5
pluet, lesus Christus, nicht in wasser alain sunder in wasser vnd
in pluet; vnd der geist ist is, der betzewgt, wann Christus ist di
warhait. wann drey sind ir, di zewgniiss geben auf erde: der
geist, das wasser vnd das pluet. vnd drey sind ir dew zewgnüss
gebeut im himel: der vater, das wart vnd der geist vnd di drei 10
sind ains. ob wir di zeugnüss des menschen nemen, den [56''] zewg-
nüss gotes ist grcesser; wann das ist di zewgnüss gotes, di grosser
ist, wann er getzeugt hat von seym sun. wer do gelaubet an den
gotes sun, der hat di zewgnüsse gotes an ym.
Das ewaiig:elij — sand lohaunes^. 15
Au aym suntag, do ist spat ward vnd di tür warn uersperret,
do di iunger warn gesammet durch der luden farcht, do chom le-
sus vnd stuend enmitten vnd sprach zu in: „vrid sei mit ewch!"
vnd do er das gesprach , do zaigt er in hent vnd seytten. do wur-
den di iunger vra, do si den herreu sahen, do sprach er zu in: 20
„der vrid sey [57*] mit ew! als mich saut mein vater, also sent ich
ew." do er das gesprach, do plies er vnd sprach zu in: „uemt
den heiligen geist! wem ir uergebt ir sunt, dem werdent si uerge-
ben vnd wem irs behabt, dem werdent si behabt." Thomas der
genant ist Dydimus, der zweiten ainr, der was nicht mit in, do 25
lesus chom. do sagten im di andern iunger: „wir sahen den
herren." er sprach zu in : „ ich sech denn di hent mit den loechern
1) 1. Brief 5, 4-10. 2) Evmig. 20, 19—31.
32 STEJSKAL
der negel vnd ich leg mein vinger an der nagel stat vnd ich leg
mein hant in sein seitten , ich gelaub sein nicht." vnd nach acht
30 tagen warn [57"] awer di iunger do inn vnd Thomas mit in. do
chora lesus bei uersparter tür vnd stuend vnder iu vnd sprach :
„der vrid sey mit ew!" do nach sprach er: „Thoma, la her dein
vinger vnd siech mein hent vnd stas dein hant in mein seitten vnd
wis nicht vngelaubig, sunder getraw!" do antwurt Thomas spre-
35 chund: „mein herr vnd mein got!" do sprach zn im lesus:
„Thoma, wann du mich gesehen hast, gelaubstu; die sind salig-,
die nicht habent gesehen vnd is doch gelaubent." lesus begie aucli
andrer zaihen vil zu gesiebte seinr iunger, di nicht geschriben sein
an disem puech ; [58"] dis sind awer geschriben, das ir gelaubt,
40 das lesus ist gotes sun vnd das si gelaubund das leben haben in
seim namen.
XXXII.
Di letzen am audern suiitag' — sand Peter i.
Aller liebsten! Christus hat gellten vm vns vnd hat ew las-
sen das pilde, das ir nach uolget seinn fuesparn; der di sunt nicht
hat getan noch trugenhait funden ist iu seim munde; vnd so er
5 gescholten ward, er sprach nicht wider übel; wann er led, so draot
er nicht, awer er gab sich dem richtunden vnrechtleich ; wann er
vnser sunt getragen hat in seim leichnam auf dem holtz, das wir
den sünten [ 58*^1 tad der gerechtichait lebten, des pressten wir ge-
hallt sein, wann ir seit genesen sam di ierren schaf vnd nu seit
10 ir bechert zu dem herttaer vnd pischolf evverr sei.
Das ewaiigelij am andern sun tag- — lohannes^,
„Ich pin ein guet hertter, der geit seinn leib vm seinew schaf.
der mietman, der nicht hertter ist vnd des aygen di schaf nicht
sein, so er siecht den wolf choemen , so la^t er di schaf vnd fleucht;
15 vnd zukt der wolf di schaf vnd zestrewet di schaf. der mietman
der fleucht, wann er ist ein mietman vnd gehorent zu im nicht di
schaf. ich pin ein guet hertter vnd erchenne di meinn vnd [59"]
erchennent mich di meinn ; als mich mein vater erchennet, also
erchenn ich den vater; vnd gib meinen leib vm meine schaf vnd
20 han auch andrew schaf, di nicht sind aus disem schaf haus; di mues
ich her fueren vnd horent si mein stymme vnd wiert ain schaf haus
vnd ayn hertter."
1) 1. Brief 2, 21 — 25. 2) Evang. 10, 11-16.
AI,TDEDTSCHE PERIKOPEN 33
XXXIII.
Di letzen am dritten ' suntag — sand Feter ^.
Aller liebsten! ich pitt ew, als her chömeu vnd pillgreiui, ew
iiiii zehabeii var vleischleicheü begiren, di do ritternt wider devv
sei; ewerii wandel vnder den lewteu gueten habt, das an dew, das
si übel von ew sprechent als von den übel tiet [öy""] t«3rn, aus gue- 5
ten werchen ew merk vnd glorificieru den herren an dem tag der
besuechung. west vndertau aller nienschleicher creatnr durch got
oder dem chüuig als vürgeunden oder dem hertzogen, als di von im
gesant sind zu einer räch der po3seu vnd eim lob der gueten; wann
also ist der will gotes, das ir wol tueuud gestummet des vnwitzi- 10
gen menschen unerchantnüsse ; als di vreyen nicht als bedechung
habund der poesen vreyhait, sunder als di diener gotes. all ert,
pruederschaft habt lieb, got furchtt, ert den chünig. ir diener! seit
vndertan [G0*| in aller faricht den herreu, nicht alain den gueten
vnd den ma3ssigen, sunder auch den vngeardenten ; wann das ist di 15
genade in Christo lesu vnserm herren.
Das ewangelij — sand Ioliannes\
lesus sprach zu seinn lungern: „is ist ein wenich zeit, das
ir mich nu nicht secht ; vnd ist awer ein churtzew zeit , das ir micli
secht: wann ich var zu meini vater/' do sprachen sein iunger zu 20
einander: „was ist, das er spricht: is ist nicht lanch, das ir mich
nicht secht, vnd awer churtz, das ir mich secht; wann ich var zu
meinn vater ? was ist, das er spricht ein wenich ? wir enwissen , was
er [60''] maint.'' do wesst Jesus wol, das si in wolteu vragen vnd
sprach zu in: „ir vragt vnder ew von dem, das ich sprach: is ist 25
nicht lanch, das ir mein nicht secht vnd aber nicht lanch, das ir
mich secht. werleich, werleich sag ich ew, das ir traurt vnd waint
vnd das sich di weit vrewet vnd ewr trauren wirt gecheret in vrewd.
so das weib gepiert, so ist si traurig, wann ir zeit ist chomen; so
si aAver das chind gepiert, so gedenchet si nicht der no3t von der 30
vrewd das ein mensch ist geparu in dise weit, vnd ir habt nu
vnfrewde, ich gesiech ew awer vnd vrewt sich denn [6rj ewr hertze
vnd nimt niemen di vrewde von ev^."
XXXIV.
Di letzen am vierdeu* suntag- — sand lacob".
Aller liebsten ! alle peste gab vnd aller uolchomniste gab ist
chömund von oben her ab vom vater des Hechtes, pei dem nicht
1) Hs.u]. 2) 1. Brief 2, Jl -19. 3) Erany. 16, IG — 22. 4) m. iiij.
5) Katholischer Brief 1, 17 — 21.
ZEITSCHR. F. DEUTSCHE PHELOLOGIE. BD. XII. 3
34 STEJSKAL
ist uerwandlung noch der stund vinstermlsse. willichleich hat er
5 vns geparn mit dem wart der Avarhait, das wir sein ein anfanch
seinr creatur. ir wisst, mein liebsten prueder! sunder is sol seyn
ein igleich mensch snell zu hören vnd tra^g zu reden vnd auch
trseg zum zarn. wann der zarn des mannes würcht nicht di gerech-
tichait [61''] gotes. darum werift ab allew vurainchait vnd alle
10 genueg der pashait; in senftmüetichait enphacht daz ingeseet wart,
das gehailn mag.
Das ewaugelij - sand loliauues '.
lesus sprach zu seinn lungern: „ich gen wider zu dem, der
mich hat gesant; vnd vragt mich ewr chainr: wo wildu hin? nu
15 hau ich ew gesagt, das ewer hertz traurent. werleich, werleich
sag ich ew: is ist ew guet, das ich var; ob ich nicht hin var, so
chumt der heilig geist nicht zu ew; chüni awer ich dar, so sent ich
ew in. so der denn chümt, so strafft er die weit vm di sunde
[62'j vnd vm das recht vnd vm das gerichte : vm di sünde, das si
20 nicht an mich gelaubent; vm das recht, das ich var zu meinem
vater vnd mein uu nicht secht; vm das gericht, wann der füersst
dierr weit ist gerichtet, ich han ew noch vil zesagen, ir mügt
sein awer nu nicht getragen, so awer chümt der geist der warhait,
so lernt er ew alle warhait. er redt nicht von im selben , sunder
25 was er hört, das redet er, vnd swas chunftig ist, das chündet er
ew. er eret mich, wann er nimt von dem meinem vnd chundet is
ewch."
XXXV.
Dew [62'*] letzen am fünften suntag — lacobus^.
Aller liebsten! weset wiircher vnd nicht alain horaer betrie-
gund ew selbe, wann wer ein hoerer ist des wartes vnd nicht ein
würcher, der wirt geleichent eym manne, der do merkt das antlütz
5 seinr puerd in einem spiegel; er merkt sich vnd gie vnd zehant
uergas er, wietan er was. wer awer siecht in der ee der uolcho-
menn vreyhait vnd beleibt nicht ein horaer, der uergessen ist war-
den, sunder ein würcher des werchs, der wiert saelig an seinem
werch. awer wer sich warnet geistleich sein vnd zamet nicht sein
10 [63*1 zunge, der geistleichait ist eytel. ein raine geistleichait vnd
vngemailigtew pei got dem vater ist dew: besuechen die waisen
vnd witibeu in irem truebsal vnd vngemailigt sich behüetten var
dierr weit.
1) Evang. 16, 5 — 14. 2) Katholisclier Brief 1, 22 — 27.
ALTDEUTSCHR PRRIKOPEN 35
Das ewiiiig-ellj — loliainies >.
lesus sprach zu seinii iungern: „werleicli, werleicli ich sag 15
ew : ob ir icht pitt den vater m meiiu namen, das geit er ew. vntz
her habt ir nicht gepeten in meini namen. pitt vud euphaclit, das
ewr vrewd werd erfüllet, das hau ich mit ew geredt in gleiehnüs-
sen; nu ist di zeit chomen, das ich mit ew nu Jiiclit rede in gleich-
[63"! missen , sunder offenleich chünd icli ew von meinem vater. des 20
selben tages pitt ir in in meinem namen vnd sag ich ew nicht, das
ich pitt vür ew meinn vater; der vater hat ew lieb, wenn ir mich
lieb habt vnd gelaubt, das ich von got pin. ich fuer von dem vater
vnd chom in dise weit; nu lasse ich aber di weit und var wider
zu meim vater." do sprachen zu im sein iunger : „ nu redestu offen- 25
leich vnd sprichst chain gleichniisse. nu wisse wir is wol, das du
is alles waist vud ist nicht düerft, das dich iement vrag. do an
gelaub wir, das du von [64*J got chomen pist."
XXXVI.
Di letzen am moutag- in der petwoclien — Iaeobns2.
Aller liebsten! uergecht an einander ewer sünten vnd pitt vnr
einander, das ir gehallt Avert; wann vil frumet entzigs gepet des
gerechten. Helyas was ein leidleich mensch vns geleich vnd pat
des gepetes, daz is icht regna^t auf erde; vnd is regent nicht drew 5
iar vnd sechs maneid ; vnd awer pat er vnd der liimel gab den
regen vnd di erde gab ir frucht. awer welher vnder ew ierr get
von der warhait vnd das in iement bechert, der sol wissen, wann
wer bechern macht den sünter [64''] von dem ierrsal seins weges , er
hallet sein sei vom tade vnd bedekt di menig der sünden. 10
Das ewaug-elij — sand Liicas^.
lesus sprach zu seinn iungern: ,, welher ewr hat einn vrewnt
vnd chumt zu dem vm mitte nacht vnd spricht zu im: vrewnt,
leich mir drew prat, wann mein vreunt ist müeder chomen zu mir
vnd hau nicht, das ich vür in leg; vnd der inderthalb antwurt im: 15
müe mich nicht, is ist mein gadem uersperret vnd sint meine chind
pey mir in dem gadem , ich mag nicht auf gesten , das ich dir gebe ;
vnd dar über stet er chlophen vnd ob er auf [65"] stet vud im
darum nicht geit, das er sein vreunt ist, vnd stet doch auf vnd
geit im durch sein vngestüemchait vnd geit im swie vil er bedarf. 20
ich sag ew: pitt, so wirt ew gegeben; suecht, vnd ir vindt; chlopht
vnd so tuet man ew auf. swer pitt, der nimt; vnd swer suecht,
1) Evang. IG, 23—30. 2) Katholischer Brief 5, IG— 20. 3) Evamj. 11, 5—13.
3*
36 STEJSKAL
der vint; vnd dem chlophunden wirt auf getan, welher ewr pitt
den vater des prates vnd geit im einen stain? oder des vischs vnd
25 geit er im viir den visch ein slangen? oder ob er pitt des ayes
vnd peutt im den scorpeu? ob ir poesen chünt di gueten geben
ewern chinden , michels [66^] mer ewr vater von himel geit den gue-
ten geist den, di in do pittent!"
XXXVII.
Di letzen am auffart tag an der zw elf poten puech'.
Di erst red han ich getan von den , Theophile , do lesus gefie
zetuen vnd lern, vntz an den tag, do er gepat den zwelfpoten durch
den heiligen geist di er erweit het, vnd auf genomen ward; den
5 er auch erpat sich selb lebund nach seim leiden in vil bewernüsse,
viertzk tag erschain er in vnd redt von dem reich gotes. vnd do
er mit in geas , do gepat er in , das si uicht naher cha3men von
lerusalem, sunder das si warttseten der [66*| gehaisse des vater
„di ir gehört habt," sprach er, „ durch meinen muud. wand lohan-
10 nes hat getaufet in dem wasser, awer ir wert getauft in dem hei-
ligen geist nicht nach vil tagen." vnd di zesamm warn chomen,
do vragten in vnd sprachen: „lierr, geistu in der zeit wider das
reich Israel ? " vnd er sprach zu in : „ is ist nicht ewr chennen di
zeit vnd di stunt, di der vater hat gelegt in seinn gewalt; sunder
15 ier wert nemen di tugent des heiligen geists, der in ew chnmt vnd
wert mir zewg daz lerusalem vnd in aller ludea vnd Samaria vnd
vntz an das [66''] ende der erden." vnd do er das gesprach in zu
gesiebte , ward er auf gehebt vnd das gewolchen enphie in var iren
äugen, vnd do si auf sahen gen himel in gen, nemt war, zuen
20 man stuenden pei in in weissem gewaut vnd sprahen: „ir man von
Galylee, wes stet ir sehund gen himel? der lesus, der von ew
genomen ist inn himel, also chümt er, sam ir in habt gesehen
geunden inn himel."
Das ewangelij — lohaunes^.
25 Di aindlef iunger sassen pey einander ze lerusalem , do erschain
in lesus vnd strafft sew vm ir vngelauben vnd vm di liertte ires
hertzen; wann di |67''| in beten sehen ersten, di gelaubten sein
nicht, vnd sprach zu in: „get in alle weit predigen das ewangelij
aller creatur! der gelaubt vnd getauftt wirt, der wiert behalten;
30 der nicht gelaubt, der wirt uerdamt. disew zaichen uolgent den,
l) Apostelgesch. 1, 1 — 11. 2) Evang. Marci 16, 14 — 20.
ALTDEUTSCHE PERIKOPEK 37
die do gelanbent : si wei'ttent di tiefel aus in ineim namen , si ledent
mit iieweii zuiigeii, si hebeiit di slangen auf mit der haut vnd ob
si etwas toedleichs trinkent, das schadet in nicht, auf die siechen
legent si dew hent vnd si werdent gesunt.'' vnd vnser herr lesus
do nach vnd er geredt mit in, do ward er geno [ß7''l man inn 35
himel vnd sitzt zu der zeseui gotes. si wurden predigen allenthal-
ben mit der hilft" vnsers harren, der ir red bestictt mit zaicheu, di
do nach uolgteu.
XXXVIII.
Di letzen siiii suiita!? »ach der auffart sand Peter'.
Aller liebsten! seit witzig vnd wacht an den gepeten. awer
var allen dingen habt in ew selb entzigew gemaiue lieb, wann di
lieb bedekt di meuig der sunteu. seit wiertleich an einander an
murmeln, ein igleich als er enphangen hat die genade, mit ein 5
ander tailt sei, als di gueten aus gewahr der manichgestalteu gena-
den gotes. wer redt als di red go [68"] tes; welher dient als aus
der tugent, di got uerleicht, das in allen dingen got geert werde
durch lesum Christum vnsern lierren.
Das ewangelij des selben tag — Johannes^. 10
lesus sprach zu seinn lungern: ,,wenn der troestleich geist
chumt, den ich ew sende vom vater, den geist der warhait, der do
chumt von dem vater, der do sagt von mir urchünde. vnd ier sagt^
urchunde von mir, wann ir von anigeng seit mit mir gebesen. das
han ich mit ew geredt, das ier icht wert geergert. si sundernt 15
ewch von der menig; nu ist awer chomen di zeit, swer ew toett,
das er w*uet, das er got gedient habe, vnd tuent [68'' | ew das,
wann si ercheuuen weder den vater noch mich, darum han ich ew
disew wart gesaget, so ewer zeit choem, das ir gedencht, was ich
ew gesaget habe."
XXXIX.
Di letzen am pliingstabent au der zwelf poten puech*.
In den tagen do Apollo was Coriuthi vnd Paulus übergangen
het di obrem tail vnd chom Ephesum vnd vand do etleich iuuger,
zu den sprach er: „habt ir enphangen den heiligen geist gelaubund?"
si sprachen zu im: ,,ob der heilig geist sey, haben wir nie gehört." 5
vnd er sprach in: „wew seit ir denn getauift?" si spraheu: „in
lohannes tauft'." vnd is sprach Pau [69*] lus: „lohannes hat getauff't
1) 1 Brief 4,7 — 11. 2) Evang. 15, 26 — 16, 4. 3) Hs. sargt. 4) Apo-
stelgesch. 19, 1 — 8.
38 STEJSKAL
mit der tauflf der puesse das uolkh vnd sprach, das si an den
gelaubten der chünftich waer S das ist an lesum." do si das gehar-
10 ten , do Avurden si getaufet in dem namen des herreu lesu. vnd do
in auf gelegt Paulus dew hent, do chom der heilig geist über sew
vnd si redten mit zungen vnd weissagten, vnd is aller mann nahen
zweit', is gie Paulus in di sammung, mit gediuge redt er durch
drew maneid vnd chrieget vnd ret von dem reich gotes.
15 Das ewaugelij — lohannes^.
lesus sprach zu seinn lungern: „ob ir mich lieb habt, so
behaltt mein [69''] gepot. vnd ich pitt den vater vnd er geit ew
einn andern troester, das er mit ew beleihe ewichleich , den geist
der warhait, den di weit nicht mag enphahen; wann si sein nicht
20 siecht noch enwais sein nicht, ier erchent in, wann er beleibt mit
ew vnd wiert in ew wanund. ich lasse ew nicht waisen, ich chum
zu ew. noch ein lutzzel vnd siecht mein di weit nicht, awer ir
secht mich, wann ich lebe vnd ir lebet, an dem tag erchennet,
das ich in meiuem vater pin vnd ich in ew vnd ir in mir. wer
25 meinew pot hat vnd dew behaltt, der ist der [70"] mich do lieb
hat. der mich lieb hat, der wiert lieb gehabt von meinem vater
vnd ich han in lieb vnd icb offen im mich selben.
xxxx.
Di letzen am phingsttag an der zwelf poten pueeh='.
In den tagen do uolendet wurden di phingstag, do warn all
iunger pey einander an der selben stat. vnd werbering geschach
von himel ein don als des zuechcemunden gsehen geists vnd erfüllet
5 das gantz haus , da do waren di sitzunden. vnd erschinn die getau-
ten zuug als das fewr vnd sas auf ir igieichen vnd si sind alle erfüllt
des heiligen geistes vnd gevingen zereden , sam der heilige [70'']
geist in gab geredig zesein. vnd is warn ze lerusalem luden geist-
leich man aus aller gepuerd, di vnderm himel ist. vnd do geschach
10 die stimme, do chomen zu einander alle menig vnd ward des mue-
tes geschendet; wann is hart ein igleicher in seinr zung sew reden,
si erschrakten all vnd wunderten sich vnd sprachen: „nerat war,
sind die nicht all von Galilee, di do redent? vnd wie hoert vuser
igleicher vnser zung, in der wir geparn sein? Parthi vnd Medi
15 vnd Elamiteu vnd di do wonent ze Mesopotami, ze ludea vnd Capa-
1) Hs. y\'. 2) Evamj. 14, 15 — 21. 3) Apostelgesch. 2 , 1 — 11,
ALTDEUTSCHE PERIKOPEN 39
docia, ze Ponto vnd [71'j Asia, ze Frigia vnd Pampliilia, zu Egypto
vnd die tail Lybie, di do ist pei Cyrenen, vnd di herchomen Eoe-
mer, di luden vnd di Proseliteu, di Chrielien vnd Arabes; wir
haben sew gehört reden di wunder gotes!"
Das ewangelij — loliannes'. 20
lesus sprach zu seinn iungern: „wer mich lieb hat, der behalltt
mein wart vnd in hat lieb mein vater; vnd chomen zu im vnd
haben wonung mit im, der mich nicht lieb hat, der behaltt nicht
mein 1er; vnd di rede, di ir uernomen habt von mir, di ist nicht
mein, suudfir des, der mich gesant hat, des vater. das hau ich ewch 25
ge [71''] sagt pei ew wonund. der heilige geist der troester, den
ew der vater sent in meim namen, der lernt is ew alles vnd chün-
det ew alles, das ich ew sag. meinen vrid lass ich ewch, meinn
vrid sent ich ew; nicht als di weit vrid geit, ich gib ew. ewer
hertz trauren nicht, noch fftrchtenn. nicht habt ir uernomen, das 30
ich ew sagt: ich var vnd chura zu ew; ob ir mich lieb habt, so
vrewt ew, werleich var ich zu dem vater; wann der uater ist merr
wenn ich. vnd han is ew uu gesagt, e is geschech, so is geschiecht,
das ir gelaubt. ich red nu nicht vil mit ew; is ist choemen [72*]
der füersst diser weit vnd hat nicht an mir, suuder das di weit 35
erchenn, das ich minne den vater; vnd als mir der vater gepat,
alsam tuen ich."
XXXXI.
Di letzen am raontag am puech der zwelf poteii^.
Petrus tet auf seinen mund vnd sprach: „man, prüeder vnd
vseter ! vns hat gepoten der herr predigen dem uolkh vnd zewgen,
wan er iss , der gesatzt ist von got richter lemtiger vnd tader. dem
geben all propheten zewgnüsse, den antlas der snnden enphahen 5
durch seinn namen all, di an in gelaubent." do dennoch Petrus
redt di wart, do viel der heilig geist über alle, di das wart [72**]
harten, vnd is erschrakhten di gelaubigen aus der besneidung, dew
do chomen mitPetro, wand auch in die gepuerd di genade des hei-
ligen geists ist gegossen; wand si harten sew redund mit zungen 10
vnd got lobimd. do antwurt Petrus: ,, secht das wasser, wer mags
gewern , das di nicht getauflft werden , di enphangen haben den hei-
ligen geist als auch wir?" vnd er hiess getauft Averden in dem
nam lesu Christi.
1) Evang. 14, 23—31. 2) Apostelgesch. 10, 34. 42 — 48.
40 STEJSKAL
15 Das ewangelij — loliaimes^.
lesus sprach zu seinn iungern; „also minnet got di weit, das
er gab seinen aingeparn sun , das alle di an in gelaubten nicht
uerdurben, sunder [73"] das si haben das ewig leben, got sant
seinn sun nicht in di weit, das er rieht über di weit, sunder das
20 dew weit gehailiget durch in. der an in gelaubt, den urtailt man
nicht; der nicht gelaubt, der ist nu geurtailet, wann er nicht gelaubt
in dem namen des aingeparn sun gotes. das ist das gericht , wann
das liecht chom in dise weit vnd di lewt heten lieber di vinster
wenn das liecht; irew werch warn pces. swer übel tuet, der hasst
25 das liecht vnd chümt niht zum liecht, das man nicht straffe sei-
new werch. der awer tuet di warhait, der chümt zum liecht, das
seine [73''] werch geoffent werden, wann si in got sind getan."
XXXXIL
Di letzen am eritag- an der zwelf poten puecli^.
In den tagen do di zwelf poten harten, di do warn ze Jeru-
salem, das Samaria enphangen heten das wart gotes, si santen zu
in Petrum vnd lohannem. vnd do si chomen, do patens vür sew,
5 das si enphingen den heiligen geist; wann nicht dennoch in ir
chainn er chomen was, sunder alain warn si getaufft in dem namen
des herren lesu. do legt er dew hent über sew vnd si enphingen
den heiligen geist.
Das eAvangelij — sand lohannem 3.
10 lesus sprach zu seinn iungern: „werleich, werleich ich sag ew,
der nicht in get [74*] durch di tüer in das schaf haus , sunder der als-
wo über steigt, der ist ein deup vnd ein Schacher, der awer in
get in das schafhaus durch die tüer, der ist hertter der schaff, dem
tuet der tarwertel auf vnd hoernt di schaf sein stymme vnd rüefft
15 seinn aigenn schaffen mit namen vnd füert sew aus. so er denn
di schaf aus gefüert, so get er var in vnd wolgent im di schaf vnd
erchennent sein stymme. eim vroemden uolgent si nicht vnd vlie-
hent von im, wann si erchennent nicht sein stymme." das pispel
sagt * in lesus ; si uerstuenden awer nicht , was er maint. do sprach
20 [74^] er awer zu in: „werleich, werleich ich sag ew, ich pins di
tüer der schaffe, alle di chcement an mich, das sind diep vnd rau-
ber vnd erchennent nicht di schar, ich pin di tür. swer durch
mich in get, der wiert heilig vnd get in vnd aus vnd viudet di
1) Evang. 3, 16 — 21 2) Äpostelgesch. 8, 14-17. 3) Evang. 10, 1 — 10.
4) Hs. sag.
ALTDEUTSCHE PERIKOPEN 41
waid. der deup chumt durcli anders nicht, denn das er stele vnd
slach vnd uerliese. ich chom , das si das leben haben vnd uol- 25
chommleicher haben."
XXXXIII.
Di letzen am iichteii tag- des pliiug'st tage« an dem puecli der taug-en
lohannes i.
In den tagen ich sach ein ottue tüer im himel; vnd di erst
stymm, di ich hart als eins schelle harns, das mit mir redt vnd
sprach: [75"! chum do herauf vnd zaig, was geschehen mues. do 5
nach zehant was ich ym geist ; vnd nemt war , ein stuel was gesatzt
in dem himel vnd auf dem stuel ein sitzunder. vnd der do sas, der
was geleich dem angesicht des staines yaspidis vnd sardinis; vnd
ein regenpogen was in dem vmswaif des stuels. geleich dem gesiebte
des stuels warn vier vnd zwaintzk gestuel vnd auf den troenn vier 10
vnd zwaintzk elter sitzund vmgeben mit weissem gewant vnd auf .
ir haubten guidein chrou. vnd aus dem thron gingen plekkitz vnd
stymme [75"] vnd donrr; vnd siben prinnund lampen var dem thron,
das sind di siben geist gotes. vnd in dem angesichte sam das gie-
sein mer geleich dem christalle vnd in mitte des stueles vnd im 15
vmswaif vier tier uole äugen hinten vnd uar. vnd das erst tier was
geleich dem leben , vnd das ander tier geleich dem chalb , vnd das
tritt tier het ein antliitz als eins menschen, vnd das vierde tier
geleich eini vliegunden adelar. vnd der vier tier heten ir igleichs
sex uetich vnd im vmswaif vnd innen sinds vol äugen vnd rue hetens 20
nicht nacht vnd tag Sprech [76''] und: heilig, heilig, heilig herr got,
allmsechtiger , der do was vnd der ist vnd der chunftig ist. vnd do
di tier gaben glori vnd er vnd segen dem sitzunden aufm thron,
dem lebuuden von weit ze weit, so viellen di vier vnd zwaintzk
eitern vur den sitzunden ym thron vnd petten an den lemtigen in 25
weit weit. amen.
Das ewaugelij — sand Johannes 2.
Is was ein mensch, der hies Nicodemus vnd was fursste der
luden, der chom des nachtes zu lesu vnd sprach zu im : „ maister,
wir wissen wol, das du von got chomen pist; is moecht di zaihen 30
niem getuen, di du tuest, is waer [76''J denn got mit im.'' lesus
antwurt vnd sprach zu im: „werleich, werleich ich sag dir, niemen,
denn der anderstund wirt geparn, mag gesehen das gotes reich."
do sprach zu im Nichodemus: „wie mag der mensch wider geparn
1) Apocalyiise 4, 1 — 10. 2) Evang. 3, 1 — 15.
42 STEJSKAL
35 werdea, so er alt ist? oder mag er awer in sein mueter chcemeu
vud anderstund werden geparn?" des autwurt im lesus: „wer-
leich ich sag dir, nuer der getaufft wirt aus dem wasser vnd dem
geist, das niemen mag cliomen in das gotes reich, das von dem
vleisch gepara ist, das ist auch vleisch; vnd das geparn ist vom
40 geist, das ist ain geist. lass [77'] dich nicht wundern, das ich dir
gesagt han, das ir anderstund muesst geparn werden, swo der geist
wil, do spricht er vnd hörest sein stymme vnd waist nicht von
wanne oder wo hin dew var; also ist alle dem, das von dem geist
geparn ist." des antwurt Nychodemus: „wie mag das werden?"
45 des antwurt lesus sprechund: „du pist ein maister in lerusalem
vnd waist des nicht? werleich, werleich sag ich dir, das wir wis-
sen, das rede wir, vnd das wir sehen, das urchunde wier; vnd ir
enphacht nicht vnser urchunde. ob ich ew di ierdischen dinch han
gesaget, vnd ir des nicht gelau [77''] bet, vnd sagt ich ew denn
50 himlische, wie gelaubet ir mir dew? vnd niement chumt hintz
himel, denn der von himel chomen ist her nider, des menschen
sun , der ze himel ist. vnd als Moyses di slangen hoeht in der
wüeste, also mues gehoecht vy^erden des menschen sun, das alle die,
di an in gelauben , nicht ersterben , sunder haben das ewig leben."
XXXXIV.
Di letzen am ersten suutag- — sand Johannes i.
Aller liebsten! got ist di lieb, in dew ist erschinn di lieb
gotes in vns, wann seinen aingeparn sun hat got gesaut in di weit,
das wir leben durch in. in dew ist di lieb: nicht als wir got [78*]
5 haben lieb gehabt, sunder wann er von erst vns hat lieb gehabt
vnd hat gesant seinn sun ein genjedigung vm vnser sunt, aller
liebsten! ob also vns got hat lieb gehabt, vnd wir sollen an ein-
ander lieb hau. got hat niement ie gesehen, ob wir lieb an ein-
ander haben, so beleibt got in vns. in dew uerste wir, wenn wir
10 in im beleiben, vnd er in vns, wann er seius geistes vns hat gege-
ben, vnd wir haben is gesehen vnd zewgen is, wann der uater
hat gesant seinn sun den hailant der weit, welher uergicht, [78*"]
wann lesus ist gotes sun, got beleibt in im vud er in got. vnd
wir habens erchant vnd gelauben der lieb, di got hat in vns. got
15 ist di lieb vnd der beleibt iu der lieb, in got beleibt er vnd got
in im. in dew ist di lieb uolchomen pei vns , das wir gedingen
haben an dem tag des gerichts, wann als er ist, also sein auch
1) 1. Brief 4, 8—21,
ALTDEUTSCHE PERIKOPEN
43
wir in der weit, di farcht ist nicht in der lieb , suuder di uolcho-
inen lieb sentt aus di farcht; wann di farcht hat pein. wer awer
furcht, der ist nicht uolchomen in der lieb, darum hab wir lieb, 20
wann oot hat vns e lieb gehabt, wer do spricht: „ich han got lieb"
vnd hasst seinn prneder , der [79*] ist ein lugner. wann wer nicht
lieb hat sein prueder, den er sieht, got, den er nicht siecht, wie
mag er den lieb gehaben? vnd das pot haben wier von got: wer
got lieb hat, daz auch er seinn prueder lieb hat. 25
Das ewang-elij — Lucas".
lesus sprach zu seinn iungern: „is was ein reicher mensch,
der was gechlaidet mit phelle vnd mit wisse vnd sas all tag mit
wiertschaft. vnd was ein armer petlser, der hies Lazarus, der lag
zu seinr tnr uol seres vnd begert sich ze satten von den prasem, 30
di do viellen von des reichen tische; vnd di gab im niement, sun-
der di bunt chomen vnd lekhten seine geswer. is geschach also,
[79"] das der arm starb vnd ward getragen von den engelen in Abra-
hams schass. do starb auch der reich vnd ward begraben in der
helle, do tet er auf seinew äugen, do er was in den weitzen, do 35
sach er Abrahamen ferr vnd Lazarumm in seinr schasse vnd ruefft
sprechund: „vater Abraham, erparm dich über mich vnd la Laza-
rum, das er stasse den aussristen tail seins vingers in ein wasser,
das er chüel mein zunge, Avann ich priun in disem fewr." do sprach
zu im Abraham : „ sun , gedench , das dus guetes hiett in deim leben 40
vnd Lazarus als Übels; nu wiert er getrcesst, awer du geweitzigt.
vnd von den allen, so ist [80"] zwischen vns vnd ew gefesstent ein
grassew ferr, das di von vns hin zu ew nicht chomen mügen, noch
von dann her wider.'' do sprach awer der reich: „ich pitt dich
vater, das du in sendest in meins vater haus; ich han noch fümf 45
prueder, das er den sag, das si icht choemen an disew stat dierr
weitz." vnd is sprach zu im Abraham: „si habent Moysen vnd
ander weissagen ; di hörn." do sprach er awer: „swer also von den
taden chümt hin zu in, so enphahen si puess." do antwurt im
Abraham : „ ob si Moysen vnd di weissagen nicht horent , swer denn 50
also von den taden erstet, dem gelaubent si."
xxxxv.
Di letzen ^ am anderii [80''] sautag- — loliaiines ^.
Aller liebsten ! ir sult ew nicht wundern , ob ew die weit has-
set. Avir Avissen, das wir gefuert sein vom tad zum leben, Avand
1) Hs. loh'ues, von jüngerer hand durchgestrichen tmd am rand Lucas
geschrieben. — Evang.16, 19 — 31. 2) Hs. letz. 3) 1. Brief 3, 13 — IS.
44 STEJSKAL
wir haben lieb di pmeder. der nicht lieb hat, der beleibt im tad.
5 ein igleiher, der do hasst seiun prueder, der ist ein mausleg vnd
ir wisst, das ein igleich mansleg nicht hat das ewig leben in im
beleibund. in dew erchenn wir di lieb gotes, wann er vür vus hat
gelegt sein sei vnd wir süllen di sei vur di prueder legen, wer do
biet das gelt der weit vnd siecht seinn prueder die nadtuerft leiden
10 vnd besleüst sein gewaid var im, wi beleibt di [81"] lieb gotes in
im? meine chindel! nicht hab wir lieb mit dem wart vnd mit der
zung, sunder mit dem werch vnd der warhait.
Das ewang-elij am suntag — Lucam^
lesus sagt seinn lungern: „ein mensch macht grassew wiert-
15 Schaft vnd lued manig vnd saut seinn chnecht, do man essen solt,
das er den sagt di geladen warn, das si chssmen, is wser ^ alles
berait. do begunden si sich all entsagen, der erst sprach zu im:
„ich hau ein darf chaufft vnd mues drat hin aus gen vnd das bese-
hen; ich pitt dich, das du mich beredest." der ander sprach: „ich
20 hau fünf loch achsen chauft vnd mues gen di [81*'] uersuehen; ich
pitt dich, das du mich entschuldigst." der dritt sprach: ,,ich hau
ein weib haim gelaitt vnd darum mag ich nicht chcemeu." vnd do
der chnecht wider chom , do sagt er das seim herren. do ward der
wiert zarnig vnd gepat seinn chnechten: „get drat an di Strasse vnd
25 an di gassen vnd fuert her in di armen vnd di hufhaltzen, di plin-
ten vnd di chrumpen." do sprach zu im der chnecht: „herr, is ist
geschehen, sani du geputt; vnd ist noch ain stat." do sprach der
herr zu dem chnecht: „ge aus vmb di wege vnd vm di zewn vnd
ncett sew her in ze gen, das mein haus [82"] erfüllet werd. ich
30 sag ew , das der mann chainr , di do geladen sind , enpeisseu moins
essens nicht."
XXXXVI.
Di letzen 3 au dem dritten* suntag* — sand Peter '^.
Aller liebsten ! wert gediemmuetigt vnder di gewaltig haut
gotes, das er ew hoech an der zeit ewerr haimsuechung. allen
ewern vleis werfft an in, wann iem ist sarg vm ew. west uiiecht
5 vnd wacht ; wand ewr widerwech , der teufel , als ein leb winnunder
get er um vnd suecht, wen er vresse; dem widerstet stark au dem
gelauben vnd wisst, das selb leiden geschehen ewerr pruederschaft,
di in der weit ist. awer got aller genadeu , der vns geladen [82'']
hat in sein ewige glori in lesu Christo , wenich gellten er uolpriugs
10 staes vnd festens. im sei glori vnd gewalt in weit zewelt. amen.
1) Evang. 14, 16—24. 2) Hs. w'. 3) Hs. letz. 4)ifs. iij. 5) 1. Brief 5, 6—11.
ALTDEUTSCHE PERIKOPEN 45
Das ewangelij am dritten ^ suutag — Lxicas 2.
Is nahenteu di otteu süuter vnd di sünter zu lesii, das si in
harten, vnd der luden pischolf vnd Schreiber murmelten sprechund:
„ er enphiecht di offen sünter vnd isst mit in." do sagt in Jesus ein
gleiclinusse ; .,\velher ewr liat hundert schaf vnd vleust er ains von 15
den , er Iset di newn vnd newntzich in der wüeste vnd get dem nach,
das do uerlarn ist. vntz ers vindt, so nimt ers vrceleich auf sein
acliseln vnd chümt haim vnd ladet seine [83*] vrewnt vnd sein nach-
paurn vnd spricht: vrewt ew mit mir, wann ich han mein schaf
fluiden, das uerlaren was. ich sag ew, das auch also ein vrewde 20
zehimel wiert von ainem sünter, der sich Iset rewen sein sünde, mer
denn vm newn vnd newntzichk gerechter , di nicht puesse bedürffen.
oder welch weib hat zehen dragma vnd uerleust si aine, si zünt ir
latern vnd chert das haus vnd suecht vleissichleich , vntz si is vin-
det. vnd so si is vindt, so ladet si ir vrewnt vnd ir nachpauriun 25
vnd spricht: vreut ew mit mir, wann ich han funden mein dragma,
di ich uerlarn [83''] bet. also sag ich ew: vrewd wiert von gotes
engein von ayni sünter, der sich bechert."
XXXXVII.
Di letzen am vierden^ suntag: — sand Paul*.
Prüeder ! ich wsen , das nicht gegenwürtigew leiden sein dierr
zeit zu der chünftigen glori, di in vns geoffent wirt; wann di wart-
tung der creatur dei- offnung der gotes chind gepeitt. der eytel-
chait ist di creatur vndertan, an willen, sunder durch in, der sei 5
vnder gewarffen hat in gedinge; vnd auch die creatur zerlest wiert
von dem dienst der zerleidung in di vreyhait der glori gotes chin-
der. wir wissen, das alle creatur sewfft vnd gepiert vntz nu. [84"]
vnd nicht alain di sünter, auch wir selb, di do haben di anfeug der
wünschung gotes chinder vnd der erlasung vnseres leicbnams in 10
Christo lesu vnserm herren.
Das ewang^elij an dem selben suntag- - Lucas ■•.
lesus sprach zu seinn lungern: „seit parmhertzig als ewr him-
lischer vater parmhertzig ist ; urtailt niement , das ir icht uerurtailt
wert; uergebt, das auch man evv^ uergeb; gebt, das ew werd gege- 15
ben. di guet mass vnd ein geschütte masse vnd uolle mass vnd
über trieffunde di wirt gegeben in ewern puesem; mit der mass, do
mit ir messt, do wiert ew mit gemessen." er sagt in auch ein
1) Hs. iij. 2) Evang. 15, 1—10. 3) Hs. lU]. 4) Brief an die
Römer 8, 18 — 23. 5) Evang. 6, 36—42.
46 STßJSKAL
gieicli [84''] nüsse: „wenn ain plinter den andern plinteu laittet, so
20 uallent si paid in di grueb. der iunger ist nicht über den maister ;
is ist ein igleicher uolchomen , ob er ist sani sein maister. du siechst
di agen in deins prueder äugen vnd merkst nicht den tram in
deim äugen, wie machtu gesprechen zu deim prueder: prueder, la
das ich aus werffe di agen aus deinem äugen , vnd siechst nicht
25 den tram, der in deim äugen ist? gleichsner! von erst wirf den
tram aus deim äugen vnd denn siech, das du aus nemst di agen
aus den äugen deines prueder."
XXXXVIII.
Di letzen am fünften suntag- — sand Peters.
[85*] Aller liebsten! seit all ainmüetig in dem gepet, mitlei-
dig, liebhaber der pruederschaft , parmbertzig, maissig, dienmuetig;
nicht gebt wider pois vm guet, noch fluech vm fluech, sunder her
5 wider gesegent , wand ir in dew geladen seit , das ir den sogen im
erbtail besitzt, wann wer das leben wil lieb haben vnd guet tag
sehen, der straff sein zung von dem übel vnd sein lefss , das si icht
trugenheit. eher ab von dem übel vnd tue guet, suech den vrid vnd
ge im nach ; wann di äugen des herren liber di gerechten vnd seine
10 arn an ir gepet; awer der anplik des herren über die, di übel
tuent. wer [85''] ist er, der ew schat, ob ir guet liebhaber seit?
ob ir icht leit vm die gerechtichait , so seit ir salig. ir farcht
furcht nicht vnd wert nicht betruebt, awer den herren Christum
heiligt in ewern hertzen.
15 Das ewaug'elij — sand Lucas^.
Do di menig drangen zu lesu, das si harten sein wart, do
stuend er pei dem se Genazareth vnd zwai schef stuendeu pei dem
mer; di vischer warn dar ab gegangen vnd wueschen ir netz, do
gie er in ein schef, das Symonis was , vnd hies ins ein wenich
20 füeren von dem gestat. vnd sas vnd leret di menig ab dem scheffe.
de er sich des gelaubt, do sprach er zu Symoni: [86*] „fuer is au
di tieft' vnd werlft ewre netz vnd faclit." do autwurt Symon vnd
sprach zu im: „pieter, wir haben alle di nacht gearbait vnd vin-
den nicht; von deinem wart wierflfe ich mein netze." do er das
25 getet, do vingen si ein grasse menig der visch, das ir netz erprast,
vnd winkhten den gesellen in dem andern schefte, daz si chaemen
vnd in hulffeu. vnd cliomen vnd fülten pedew schef, das si sun-
1) 1. Brief 3, S—W. 2) Evcmg. 5, 1 — 11.
ALTDEUTSCHK PERIKOPEN 47
chen. do das Symou Petrus ersach, do viel er im zetuossen vnd
sprach: „herr, ge hiu aus von mir, wann ich pins ein sünter." in
het di farcht vmgangen vnd all, di mit im do warn, do [86''J di 3U
visch wurden gefangen ; vnd al sam geschach lacobum vnd lohan-
nem, di sün Zebedei , di gesellen waren Symunis. do S})racli lesus
zu Symonem: „furcht dir nicht; hetlauch wierstu nahen di lewt."
vnd fürten di schef zu der erden vnd Hessen is alls vnd uolgten ym.
IL.
Di letzen > am sexteu suiitag: — saiid Paul '^.
Prueder! welich wir getauft't sein in Christo lesu, in seim
tad sei wir getauft, wann wir sein mit begraben mit im durch di
tauft" inn tad; recht als Christus ist erstanden durch di glori des
uater, alsam ge auch wir in der newung des [87*J lebens. wann 5
ob wir gephlantzet sein in der gleichnüss des tades, also werd auch
wir der urstend. vnd wisst das, das vnser allter mensch auch
gechrewtzt ist, das zeprochen werde der leichnam der sünteu, das
wir vürbas der sunt icht dienn. wann welher tad ist, der ist
gerechtigt von den sünten. vnd ob wir tad sein mit Christo, auch 10
gelaub wir, das wir leben mit Christo, vnd wisst, das Christus, der
erstanden ist von dem tad, der stirbt nu nicht; der tad herscht im
vnrbas nicht, wan das er tad ist den sünten , das ist er ains tad ;
awer das er lebt, das lebt er got. also uerwajnt auch uns tad sein
[87''] den sünten vnd got leben in Christo lesu vnserm herren. 15
Das ewaiigelij — saud Matheum^.
lesus sprach zu seinn lungern : „werleich sag ich , nuer is sey
denn ewer gerechtichait grcesser denn der schreiber vnd der luden
pischolf, ir choemt nicht in das reich gotes. habt ir uernoraen,
das den alten uerpoten ist: ir toett niement; der awer toett, der 20
wiert schuldig des gerichts? ich sag awer ewch: swer ertzürnt seinn
prueder, der wirt des gerichtes schuldig; sv^er aber spricht: racha!
zu seim prueder, der wirt der sammnng schuldig, awer swer
spricht: tar! der wiert schuldig der helle fewer. vnd pringstu dein
gab dem allter [88*] vnd gedenkst, das du wider deinen prueder 25
icht habst getan, so la dein gab var dem allter vnd gincli e vnd
uersüen dich mit deinem prueder vnd chüm denn vnd pring dein
opher.
1) Hs. letz. 2) Brief an die Bömer 6, 3 — 11. 3) Evang. 5, 20—24.
48 StEJSKAt,
Di letzen' am sibenteii suntag — Paulus 2.
Prueder! menschleich so sprich ich durch di chrankhait ewrs
vleischs. wann als ir erpoten habt ewre glid zu dienn der vnrain-
chait vnd der pashait zu der vurechtichait, alsara erpiett nu ewere
5 gelid der gerechtichait in di heiligung. wann do ir wart chnecht
der simten, do wart ir vrey der gerechtichait. was frucht hett ir
do an dew, des ir ew nu schämt? der endt ist der tad. awer nu
ir [88**] seit gelcest von der sunt vnd seit warden diener gotes, so
habt ir ewr frucht vnd di heiligung vnd das ent das ist das ewig
10 leben, wann der sünten solt ist der tad ; awer di gnad gotes ist
das ewig leben in Christo lesu vnserm herren.
Das ewang-elij — sand Matheum '-^.
Do ein grassew schar was mit lesu vnd nicht heten, das si
sessen, do lued er zesamme sein iunger vnd sprach: „ich erparm
15 mich über das uolkh, wann si duldent mich endritten tag vnd haben
nicht, das si essen, vnd lasse ich sew fasstund haim, so erligent
si auf dem wege: ir sein sumleich ferr her chomen." do antwur-
[89"] ten im di iunger: „wer moech so vil prat gewinnen in der
wüesste , do mit er di all gesatte ? " vnd er fragt sew : „wie manich
20 prat habt ir?" si sprahen: „sibenew." vnd er gepat der menig
zesizen auf di erden vnd nam di siben prat vnd gesegent dew vnd
prachs vnd gabs seinn iungern, das sis den lewten viir trüegen;
vnd legtens der menig vuer. vnd beten ein wenich visch , di gese-
o-ent er auch vnd hiess vür sew setzen vnd assen all vnd wurden
25 gesatt; vnd hueben auf das do über ward der prasem siben choerb.
di do assen , der warn vier tausent vnd do lie er sew.
LI.
Di letzeu am aelitedeii suutag — Paulus^.
[89''] Prueder! wir sein schuldiger nicht demvleiscli, das wir
nach dem vleisch leben, wann ob ir nacli dem vleisch lebt, so
sterbt ir; ob ir awer mit dem geist di werch des leichnam tojtt,
5 so lebt ir. welch mit dem geist gotes gewarcht werdent, di sind
gotes sün. ir habt nicht genomen den geist des diensts awer in
di farcht, sunder ir habt genomen den geist der erwünschung der
chind, in dem wir schreyen: abba [vater]. wand er der geist geit
1) Hs. letz. 2) Brief an die Römer 6 , 19 — ^3. 3) Evang. Marci 8,
1 — 9. 4) Brief an die Bömer 8, 12—17.
AX,TDEUTSCHE PKRI KÜPEN 49
zewgiiösse vns(n-in geist, das wir sein gotes sün. vnd sei wir snii,
so sei auch erweu, zwar gotes erweii viul mit erweri Cliristi. 10
Das ewangelij am ahteu sun [90"] tag — Matheus^.
Tesns sprach zu seiim iuugern: „huett ew var den falschen
jiropheteu, di zu ew choement in scheffein gowant, innen sinds zu-
kund wolff. pey irn wercheu erclient sew. man list nicht vonn
darn di weinper vnd ab dem liagen di veigen. also pringt ein guet 15
paum di gueten vrucht, der poes pauni di poesen vrucht. der guet
panm der mag nicht pws vrucht pringeu , noch der poes paum guete.
welch paum nicht guet vrucht pringet, den siecht mau ab vnd legt
in an das fewr. pei ier vrucht erchent ir sew. nicht alle, di do
sprechent: lierr, herr! choement in das reich gotes; sun [90'] der 20
di tuent meins vater willen, der ze himel ist, der chumt iu das
reich gotes."
LH.
Di letzeu- am ueuiiteu suutag- — Paulus''.
Prueder! nicht sei wir gierig des pausen , als di begert haben,
wert auch nicht aupitter der apgoetter als etleich aus in , als geschri-
ben ist: is sas das uolkh essen vnd trinken vnd stuenden auf zespi-
len. noch vnchewsch wir, als etleich aus in gevnchewscht haben, 5
vnd is viellen ains tages drew vnd zwaiutzk tausent. noch uersuech
wir Christum, als ir etleich in uersuechten vnd uerdurben von den
nateru. noch murmelt, als ir etleich murmelten vnd uerdurben von
uertrei [91"] her. awer das alls geschach in in einem pilde; vnd is
ist geschriben vus zu besti'affung in dew di ende der weit chomen 10
sind, zwar wer sich wsent sten, der sech, das er icht ualle. chain
auweig begreiff ewch nicht, nuer di menschleich. awer got ist
getrew; der is nicht leyt, das ir uersuecht w^ert liber das ir mugt;
sunder er macht mit der auweig ein vursicht, das iers geleiden
mugt. 15
Das ewaiigelij — saud Lucas*.
lesus sprach zu sein lungern ein gleiclmusse : „ es was ein rei-
cher mensch, der het aynn rnaja*; vnd ward der besagt hiutz in,
das er uerwüesst biet sein guet. vnd er besant in vnd sprach zu
iem: [Bl**] „was ist das ich bor von dir? antwurt mir von meiim 20
guet, wann du mäht nicht mer mein amtman gesein." do sprach
der mair wider sich selb : ,,was tuen ich , wann mein herr mir nimt
1) Evang. 7, 15—21. 2) Hs. letz. 3) 1. Brief an die Corinther 10, 6^13.
4) Ecatu/. 16, 1—9.
ZEITSCHß. F. DKÜTSCHE PHILOLOGIE. BD. XII. 4
50 STEJSKAL
den mairhof ? ich mag nicht rewten , des allmuesens schäm ich
mich, ich wais wol was ich tuen, wenn ich von dem ampt chura,
25 das si mich enphahen in irew hewser." vnd lued igleiehen gelter
seins herren vnd sprach zu dem ersten: „wie vil soltu meim herren?"
er sprach: ,,hundert mass oels." do sprach er zu im : „nuschreib drat
funftzk." do sprach er zu dem andern: „wie vil soltu?" er sprach:
„hundert mass [92*] waitz." „nim den prief vnd schreib achtzik," vnd
30 lobt der herr den mair, das er weisleich biet getan, wann die
chind dierr weit weiser sind in ierr gepuerd , wenn di sün des Hech-
tes, vnd ich sag ew : „ macht ew vreunt vom gnet der pashait,
wenn ew enpresst, das si ew enphahen in dew ewigen hewser."
LIII.
Di letzen am zehenteu suutag — sand Paul ^
Prueder! ir wisst, do ir diet wart, das ir gingt zu den stum-
men appgcettern, als ir gefuert wurtt. darum tuen ich ew chuut,
das niement, der do in gotes geist redt, spriclit den pan lesu; vnd
5 niement mag gesprechen: der herr Jesus nuer [92'*] im heiligen
geist. tailung sind der genaden , awer der selb ist der geist. is
sein auch tailung der dienst vnd ist doch der ain herr. vnd tai-
lung sind auch der werch, awer der selb got ist, der do allew
dinch würcht in allen, eim igleiehen wiert gegeben di oft'uuug des
10 geists zu nutz, ainem wirt geben durch den geist di rede der weis-
hait, dem andern di rede der chunst nach dem selben geist, dem
andern der glaub in dem selben, ainem di genad des gesunts in
aim geist, aim di Avurchuug der tugent, aym der weissagtum, aym
di erchennung der geist, aym di mannichfaltichait der zung, aym
15 di bedewttung [93"] der rede, awer di alle würcht der ain vnd der
selb geist vnd tailt igleichem als er wil.
Das ewangelij am siiutag- — Lticas''.
Do lesus nahent zu lerusalem vnd do er di stat sach, do
waint er vnd sprach: „hietestu erchant was dir zevrid vnd zu gena-
20 den solt! nu sint si uerpargeu var deinn äugen, is werdent di tag,
das dich dein veint vmgebent mit eim graben vnd besitzent vnd
besengstigent dich allenthalben vnd zestörent dich vnd deine chind,
di in dir sein, vnd lassent in dir ayun staiu nicht auf dem andern,
darum das du nicht erchant hast di zeit deins hailes." vnd gie in
25 den [93''] tempel vnd traib dar aus di uerchauflFer vnd chaufter vnd
1) 1. Brief an die Corinther 12, 2—11. 2) Evang. 19, 41 — 47.
ALTDEUTSCHE PERIKOPEN 51
sprach: „is ist geschribeii, das mein liaiis ist ein petbaus; ir habt
is awer gemacht zu eiur hoel der diep." vnd was lerund tsegleich
in dem tempel.
LIV.
Di letzen am aindlefteii suntag* — Paulus'.
Prueder! ich tuen ew chuut das ewangelij, das icli ew gepre-
digt hau, das auch ir uamt vnd au dem ir auch stet, durch das
auch ir gehailet wert, vm welich sach ich ews gepredigt hab, ob
ir is behaltt, nur ir liabt denn eytel geglaubt, ich gab ew von 5
erst, das ich auch euphaugen het: das Christus tad ist vm vnser
[94*] sunt nach der schrift vnd das er begraben ist vnd das er
erstueud au dem dritten tag nach der schrift vnd das er erschain
Cephe vnd do uach den aindlefeu. dar nach erschain er mer denn
funfhuudert prüedern , der noch vil sind , awer etleich sein tad. do 10
nach erschain er lacobum, do nach allen poteu, awer zum aller
iungsten erschain auch er mir als eim wüerfling; ich pin der minst
der zwelf poten vnd ich pin nicht wierdig genaut sein ein zwelf
pot, wann ich hau gesecht di chirchen gotes, aber von den geua-
den gotes pin ich das ich piu. 15
Das ewangelij des selben suntags [94''] — Liicas'^.
lesus sprach zu seinu lungern vnd zu sumleichen, di in selb
getrauten als di grechten, ditz pispel: „zwen menschen gingen auf
petteu inn tempel: ain phariseus vnd ein offner sünter. der phari-
seus stuend vnd pett also mit im selbe: herr got, ich sag dir 20
genade, wann ich pin nicht als ander lewt, rauber , vugerecht,
huerer, als auch der publicanus. ich vasst zwier in der wocheu,
ich gib meinu zeheut von allen dem , das ich han besessen, vnd
der publicanus stuend ferr vnd getarst sein äugen nicht auf geheben
hiutz himel vnd der slueg in sein prust vnd sprach: [95*] herr got, 25
wis gensedig mir sünter! ich sag ew, das er gie in sein haus gepes-
sertter von im; wann alle di sich hoehent werdent genidert vnd di
dienmüetigen werden geh5cht. ^
LV.
Di letzen am zwelften suntag — Paulus*.
Prüeder! einn soelchen gedreng hab wir durch Christum zu
got; nicht daz wir geuueg von vus selb etwaz gedenchen von got
1) 1. Brief an die Corinther 15, 1 — 10. 2) Evang. 18, 9-14. 3) Bis
hieher schrieb der erste Schreiber, das fernere rührt von der hand des zweiten
Schreibers her. 4) 2. Brief an die Corinther 3, 4 — 9.
4*
52 STfiJSKAL
als von vns selben, sunder vnser genueg ist von got, der vus auch
5 ffiegleich diener gemacht hat dem newen geschseft vnd nicht nach
der Schrift sunder nach dem geist; di sclirift toett, aber der geist
der chükht. vnd ob der dienst dez tades geformt mit puechstaben
in di stain vyaz in der glori also , daz di chiud Israhel nicht mach-
ten gesehen daz antlutze Moysi durch di glori seins antlütz, daz
10 gelsert wirt, wie dann nicht mer der [Oö*"] dienst dez geists wiert
in glori? vnd ob der dienst dez geists in glori ist, michels mer
genüegt der dienst der gerechtichait in glori!
Daz ewaugelij dez selbeu suutags-- Marcus \
lesus gie von Tyro vnd chom durch Sydouem zu dem mer
15 Galylee in dem laut Decapoleos. vnd prachten iem einn tauben vnd
stummen vnd pateii lesum, daz er in berüert. vnd er graif in an
vnd füert in aus der meuig vnd graif im an sein aren vnd spürtzt
aus vnd bestraich sein zuugen vnd sach auf hintz himel vnd sewflft
vnd sprach zu im: „eflfata," daz spricht: wierd geoffent. vnd zehant
20 wurden auf gepant vnd redt recht vnd gepat in , daz sis iemen sag-
ten, so er ins ie mer uerpat, so sis ie mer sagten; vnd wundert
sew sein ie mer vnd sprachen: „alle diuch hat er wol getan, er hat
di taren gemacht hoerund vnd di stummen redund."
LVI.
[96"] Di letzen am dreitcelieuteu suiitagr — Paulus ^.
Prueder ! Abrahe sind gesprochen gehaizz vnd seim sam ; er
spricht nicht: „seim samen," als in der gemain oder menig, sun-
der als in aynem: „vnd deim sam," der do ist Christus, awer ich
5 sprich: daz geschseft, daz besta-tt ist von got, daz zespricht nicht
di e, die nach vier hundert vnd dreizzik iaren gemacht ist, daz si
leer daz gelub; wand ob der erbtail ist von der e, so ist er zehant
nicht von dem gelüb ; aber Abrahe gab is got durch di gehaizze.
waz ist di e? vm di ubergeung ist sy gesatzt, vntz daz chaem der
10 sam, den er uerliaizzen het; geardent mit den engein in di haut
dez mitter; awer ain mitter ist nicht, awer aiu got ist. ist di e
wider di gehaizz gotes? nicht, ob gegeben wer di e, di do macht
lemtig gemachen, werleich so wer von der e di gerechtichait; aber
di Schrift hat alle dinch beslozzen vuder der sunt, daz di gehaizze
15 aus dem [96*"] gelauben lesu Christi wurde gegeben den gelau-
bigen.
1) Evang. 7, 31 — 37. 2) Brief an die Gulater 3, 16—22.
ALTDEUTSCHE PERIKOPEN
53
Das eivang:elij am suntag — Lucas ».
lesus sprach zu seiun iiuigeni: „di äugen sind saelig, di do
sehent, daz ir secht! ich sag ew , daz vil weissagen vnd chüuig
wolten sehen, daz ir secht vnd sahen sein nicht; vnd hoeren, daz 20
ir hoert vnd harten sein nicht." vnd stuend auf ein weiser man
von der e vnd sprach in uersuechund : „niaister, waz sol ich tuen,
daz ich daz ewig lehen hesitz?" er sprach zu im: „waz ist geschri-
ben in der e? wie lisstu?" der antwurt im vnd sprach: „hab lieb
deinn got von alle deim muet vnd von alle deim hertzen vnd von 25
aller deiner sei vnd von alle deinn chreften vnd hab lieb deinn näch-
sten als dich selb." do sprach er zu im: „du hast recht ertailt;
daz tue vnd du lebst." er wolt sich selb entschuldigen vnd sprach
zu lesu: „wer ist mein nächster?" do sach lesus auf vnd sprach:
„ein mensch gie ab von lerusalem [97*] hintz Yericho vnd viel in 30
der Schacher haut vnd di beraubten in vnd sluegen in, daz er halb
tad waz vnd fuerten in hin. do fuer ein ewart den selben weg vnd
do er in sach , do fuer er für. alsam tet auch ein leuit ; do er chom
zu der stat vnd in sach , do fuer er für. ein Samaritanus fuer auch
den weg vnd chom zu im ; do er in ersach , do erparmt er sich über 35
in vnd nahent zu im vnd pant im sein wunten vnd gas dar in oel
vnd wein vnd setzt in auf sein viech vnd fuert in in seinen stadel
vnd beruecht in. dez andern tagßz zach er aus zwen phening vnd
gab sew dem stalmaister vnd sprach: phlig sein wol vnd waz du
mit im vertzerest daz gilt ich dir, so ich herwider chüm. welher 40
der dreyr dunkhet dich dez nächster gewesen sein , der do viel in
der Schacher haut?" do antwurt er im: „der di parmung an im
begie." [97''] do sprach zu im lesus: „ge vnd tue alsam."
LVII.
Di letzen am viertzehenten suntag — Paulus 2.
Prueder ! nach dem geist get , so volpringt ir nicht di gier dez
fleisches. wann daz vleisch begert wider den geist vnd der geist
wider daz vleisch ; wann die sind in selb an einander wider, daz ir
nicht tuet waz ir weit, ob ir gefuert wert von dem geist, so seit 5
ir nicht vnder der e. is sind di werch dez vleischs often, daz ist
vnchewsch, vnrainchait, vnchewsch, der appgoetter dienst , zawbrey,
feintschaft, chrieg, neyd, zarn, streit, misshelunge, chetzrey, vnard-
nung, hjezze, mansleg, trunckhenhait vnd frashait vnd der geleich;
daz sag ich ew var, als ich ews var gesagt hau, wann welch soel- 10
1) Evang. 10, 23 — 37. 2) Brief an die Galater 5, 16 — 24.
54 STEJSKAL
chew tuen, di begieiffent nicht daz reich gotez. awer di frucht
dez geists ist dew lieb, vrewd, vrid, gedult, lanchmuetichait, giiet,
senftmiietichait , zamhait, der glaub, di msessichait, di ent [98°']
haltung, di chewsch; wider dew ist nicht dew e.
15 Das ewangelij des selben siuintag-es — sand Lucas ^.
Do lesus gie hintz lerusalem , do gie er enmitten durch Sama-
ria vnd Galyleam. vnd do er gie gegen eym casstell, do chomen
im zehen aussetzig mau ; di stuenden ferr vnd ruefften sprechund :
„ lesu gepieter , erparm dich über vns ! " do er sew sach , do sprach
20 er : „ get vnd zaigt ewch den priestern." vnd do si gingen , do
wurden si gerainigt. vnd ir ainr der di gerainigt waren, der gie
wider mit lauter stymme vnd lobt got vnd viel vür sein fuezz vnd
sagt im genad; vnd der waz ein Samaritanus. lesus antwurt vnd
sprach zu im: „nu sind doch zehen gerainigt vnd wo sein di newn?
25 is sind niclit chomen ir chainr mer, di got lob sagen, wenn der ain."
vnd lesus gepat im : „ stand auf, ge hin, dein gelaub hat dich gesunt
gemacht."
LVIII.
Di letzen am fünf [98''] tzehenten suntag — Paulus 2.
Prueder! ob wir dez geists leben, so ge wir auch nach dem
geist. nicht werd wir der eyteln glori begirig , daz wir an einander
raitzen oder aneinander neyden. prueder! ob bechummert wirt der
5 mensch in chainr lay misstat, ir di do geistleich sind leret di sel-
ben ym geist der senftichait vnd merkh dich selb, dast icht uer-
suecht werdest, ainr dez andern puerd trag , also uolpringt ir di e
Christi, wann wer sich uerwaent etwaz sein vnd ist nichts, er
betrewgt sich selben, ein igleicher beswser sein werch vnd also hat
10 er glori .an im vnd nicht an eim andern; wand ein igleicher wirt
sein selbs puerd tragund. is sol der gemainsamen daz wart der do
gelernet wirt dem, der in do lernt, in allen gueten. nicht seit
ierr; got wiert nicht uerspott. wann waz der mensch sset, daz
sneit er auch, wann wer sset im fleisch, der sneit auch von dem
15 fleisch [99*] di zerleidung; wer aber sset in dem geist, der sneit
aus dem geist daz ewig leben, nicht geprech wir guettueund ; wann
zu seinr zeit sneid wirs vnd geprechen nicht, darum di weil wir
zeit haben, so würch wir daz guet zu allen, awer aller maisi zu
den hausgenassen dez gelauben.
1) Evcmg. 17, 11—19. 2) Brief an die Galater 5, 25 — 6, 10.
W ALTDEUTSCHE TERIKOPEN 55
Daz ewaugrelij am siiiitag: — sand Malheus '. 20
lesus sprach zu seiiin iimgeni : „ is enmag iiieint zwain herren
gedienn ; er diiltt ainn viul sma'clit den andoiii. ir miigt nicht got
gedieiin vnd dem rciclitum. darum sag icli ew , daz ir icht sarget
ewerr sei, waz ir esst, oder ewerm leih, waz ir an legt, di sei ist
groezzer denn daz essen vnd der leib grarzzer denn daz gewant. 25
secht di uogel in den liiffteu ! die Si^nt nocli sneident noch saniment
in ir sta3dcl vnd ewr vater zehimel fiicret sew. ier seit tewerr denn
sew. welher ewr mag gedenchen , daz er setz zu seiner gewa^chst
ainr hant lauch? [99''J vnd warum sargt ir vm daz gewant? schawet
di lyligen auf dem akher. wie si wachssen! si usent noch spinnent 30
nicht; ich sag ew, daz Salomon in aller seiner glori nicht waz als
aine vnder den allen, ob aber daz chraut, daz heut ist vnd mar-
gen wirt uerpreuuet, got also michels paz bechlaidet er ew, ir
chlains gelauben! ier sfüt nicht sargen vnd sprechen: waz süllen
wir essen oder trinkhen oder waz leg wir an? vm daz alles sargent 35
di haiden. ewr vater wais wol, daz ir dez alls bediirfft. suecht
von erst daz reich gotez vnd sein rechtichait, so werdent ew dise
allew gegeben."
LIX.
Di letzen am sextzehenten - suutagr — sand PauP.
Prueder! ich pitt ew, daz ir nicht geprecht in meim truebsaln
vm ew , daz ist ewr glori durch dez dinges geuade. prauch ich
meine chnie zu dem vater vnsers herren lesu Christi, von dem allew
vaeterleichait chumt, wie di genant ist in himel vnd auf erden, daz 5
[100"] er vns geh nach dem reichtum seinr glori di tugent chreftig
sein durch sein geist vnd geh Christum wonen mit dem glauben in
dem inueru menschen in ewern hertzen. in der lieb seit gewurtzt
vnd gegruntfestent , daz ir mügt begreiften mit allen heiligen, waz
sei die prait, di leng, di hoech, di tieft"; daz ir vv^isst di vurgeund 10
lieb der chuust Christi; daz ir erfüllet wert in alle uollhait gotez.
awer im, der gewaltig ist zetuen uberfluzzichleicher denn wir pitten
oder uersten nach der chraft, di in vns wurcht, ym sey glori in der
chirchen vnd in Christo lesu in allew geslaecht von weit ze weit.
amen. 15
Das ewang-elij dez selben suntags — lohannes*.
lesus gie in di stat Naym vnd sein iunger gingen mit im vnd
ein michlew menig. do er nahent zu dem purgtar, do trueg man
1) Evcmg. 6, 24 — 33. 2) Hs. xvj. 3) Brief an dieEph€ser3, 13 — 21.
4) Evang. Lucce 7, 11 — 16.
56 STEJSKAL
einn taden her aus; der waz ein ainiger sim seiner mueter vnd di
20 waz ein witib; vnd gie ein grazzew menig mit ir. do si vnser
herre er [100''] sach , do erparmt er sich über sey vnd sprach zu
ir: „nicht wayu." vnd gie hin zue vnd ruert in^ di in truegen,
di stuendeu stille, vnd er sprach: „iunglinch, ich gepeut dir, stand
auf/' vnd sas der do tad waz vnd begunde reden, vnd er gab in
25 seinr mueter wider, si begunden in all fürchten vnd lobten got
sprechund : ein weissag ist vnder vns auf gestanden vnd schawet ^
got sein volkh.
LX.
Di letzen am sibentzehenten suntag: — Paulus s.
Prueder! ich man ew ich gefangner ym herren, daz ir wir-
dichleich get in der ladung-, do ir inne geladen seit, mit aller dien-
müetichait vnd seuftmuetichait ; mit gedult übertragt an einander;
5 in lieb seit fleizzig zu behalten di ainung des geists in dem pant
dez vridez. ain leichnam vnd ain geist , als ir geladen seit in ainr
hofFnung ewr ladung. ain herr vnd ain glaub vnd ain tauff, ain
got aller vater, der über all vnd durich [101*] all vnd in vns allen,
der gesegent ist von weit ze weit. amen.
10 Daz ewangelij — sand Lucas^.
lesus gie eins samtztages in eins fürsten haus der phariseo-
rum ezzen daz prat vnd si behielten in. vnd waz do ein mensch var
im, daz het di wazzersucht. vnd lesus sprach zu den weisen an
der ee vnd zu iren pischolfen: ,,sol man am samtztag di lewt gesunt
15 machen ? " si swigen. lesus begraif den wazzer süechtigen vnd
macht in gesunt vnd lies in. do sprach er zu in : „welchs oechssel
oder essell uellet in den prunne vnd zeuht in nicht sotzehant her
wider aus dez samtztages?" vnd si machten nicht da wider gere-
den. er sprach auch zu den , di geladen warn , ein gleichnüzze , wie
20 si den obristen sitz erweiten : „ so du geladen werdest zu der wiert-
schaft, so sitz nicht an di obrist stat, daz leicht ein tewrerr dir
icht ^ sey geladen von ym vnd daz der icht choem, der dich vnd in
[101"] geladen hat vnd Sprech zu dir: gib dem di stat, vnd du
denn mit schäm müezzt haben di nidrest stat. wenn du werdest
25 geladen, so ginch vnd sitz an di nidrest stat. so denn chümt der
dich geladen hat vnd spricht zu dier : vrewnt ginch her auf paz , so
hast du sein er var den, di do sitzent. wann wer sich überhoecht,
der wiert genidert; vnd wer sich nidert, der wirt gehoecht."
1) Darüber von jüngerer hand di par. 2) Darüber von jüngerer hand
besuchet. 3) Brief an die Epheser 4,1-6. ■!) Evang. 14, 1 — 11. 5) Hs. ich.
ALTDEUTSCHE PERTKOPEN
57
LXI.
Di letzen am achtzelienteu snutagr — saud Paul '.
Priieder! ich daiich vuserm gott all zeit viii ew in der genade
gotes , di ew geben ist in Christo lesu ; wann an allen dingen seit
ir reich wardeu in im, in allem wart, in aller chraft; als di zewg-
DÜsse Christi bestaett ist in ew, also daz ew nichts geprist in ohainn 5
genaden vnd wartt der offuung vnsers herren lesu Christi , der auch
ew bestffit vutz an daz ende an misstat an dem tag der zuechunft
vnsers herren lesu Christi.
Daz ewangelij sand Matheus^.
[102*] Is gingen saducey zu lesu vnd vragten in einr vrag in 10
veisuechund: „maister, welchs ist das maist pot an der e?" dem
sprach lesus zue: „hab lieb got deinn herren von alle deim rauet,
von alle deim hertzen vnd von aller deinr sei; daz ist daz maist
vnd daz erst gepot. daz ander ist dem geleich : hab lieb deinn
nächsten als dich selbe, an den zwain gepoten hangt gar di e vnd 15
di weissagen." vnd do sich gesamten di pharisey, do vragt sew
lesus sprechund : „waz uerstet ir von Christ ? wes sun ist er ? " si
sprachen: „Dauids." er antburt: „in wie haizzt in dann Dauid:
herr sitz zu meiner zesem haut, vntz ich geleg dein veint zu deim
fuezzschamel? ob in Dauid haizzt herr, w^ie ist er denn sein sun?" 20
vnd mach iem uiement geantwurten ains warts vnd getarsst auch
an dem tag in niement nicht getragen.
LXII.
Di letzen =5 am newiitzehenten suntag- — sand Paul*.
Prueder! wert uernewet mit dem geist ewers gemüetes vnd
1102"] legt an einn newen menschen, der nach got geschaffen ist
in gerechtichait vnd in heilichait der warhait. darum legt ab di
lug vnd redt di warhait ein igleicher mit seim nächsten; wand wir 5
sein gelid an einander, zuernt vnd siint nicht; di sunn sol nicht
vnder gen über ewern zarn. nicht gebt stat dem tiefel. der e ge-
stoleu hat, der stel nu nicht; aber mer sol er arbaitten mit seinn
hauten vnd würchen daz guet ist, daz er hab von dew er gebe dem
nadturft leidunden. 10
1) 1. Brief an die Gorinther 1, 4 — 8. 2) Evang. 22, 35 — 46. 3) Hs. letz.
4) Brief an die Epheser 4, 23 — 28.
58
STEJSKAL
Daz ewangelij — saiid JSIatheusK
lesiis gie in ein sclief vnd fuer über vnd chom in sein stat.
vnd prachten vur in einn pettiiseu ligund an aym pett. do lesus
sach iren gelauben , do sprach er zu dem sieben : „ chind , gelaub
15 mir, dir werdent dein simt Hergeben." vnd siimleicb scbreiber
sprachen wider sich selben: der abitzt. vnd do lesus verstuend ir
gedaench, do sprach er: „warum gedenkht ir libel? welchz [103"] ist
pezzer ze sprechen: dir werden dein sunt uergeben oder stand auf
vnd ginch? daz ir awer wizzt, daz dez menschen sun hat auf erden
20 den gewalt zu lazzen di sunt, sprach er zu dem pettrisen: stand
auf vnd ge in dein haus." vnd er stuend auf vnd gie in sein haus,
do daz di menig sahen, do farchten si in vnd lobten got, der
samtann gewalt geit den menschen.
LXIII.
Di letzen am zwaintzkisteu suiitag — Paulus 2.
Prueder! secht wi ir sicher get, nicht als di vnwitzigen, sun-
der als di weisen ; loest zeit , wann di tag sind pcez. darum wert
nicht vnwitzig, sunder verstet, welchs sey der will gotes. vnd
5 nicht wert trunken von wein, in dem di vnchewsch ist, sunder
wert vol dez heiligen geists. vnd redt mit ew selb in psalm vnd
loben vnd geistleichen ssengen vnd singt vnd psaliert got in ewern
hertzen vnd dankht got all zeit vm all in dem nam vnserr herren
lesu Christi got vnd dem vater vnd seit [103''] an einander in der
10 farcht Christi.
Daz ewangelij — Matheus^.
lesus redt mit seinn lungern disew gleichnuzze: „daz himel-
reich ist geleich einem chünich, der ein hachtzeit macht seim sun.
vnd saut sein chuecht zu den, di geladen warn zu der hachtzeit;
15 vnd enwolten nicht chcBmen, do sant er awer ander chnecht aus
sprechund : ,,sagt den di geladen sein, ich hab mein mal gemacht;
mein stier vnd geflvigel sind getoett vnd ist allss berait; choemt
zu der wiertschaft." si versaumtens, vnd gie ainr in sein darf, der
ander zu seim markht, di andern vingen sein chnecht vnd toetten
20 sew. do daz der chunich uernam, do ward er zarnig vnd sant aus
di ritterschaft vnd verlas dew mansleg vnd uerprant ir stat. do
gepat er seinn chnechten vnd sprach: „di prautlaft ist berait vnd di
do warn geladen, di warn sein nicht wierdig; get zu den wegen
1) Evang.9, 1 — 8. 2) Brief an die Ephesero, 15 — 21. 3) Evang.
22, 1-^14.
ALTDEUTSCHE PERIKOPEN 59
vnd swen ir vint, den Inert lier in." di chnecht gingen aus vnd sam-
ten [104*] alle di si funden, poe/ vnd guet; vnd wurden erfüllet di 25
gesidel. do gie der chunich in, daz er gesa-ch di sitzunden, vnd
sach do ainn menschen , der was nicht gechlaidet mit hachtzeitlei-
chem gewant. vnd er sprach zu im: ,,vrewnt, wie pistu lier in chce-
men vnd liast nicht hochtzeitleich gewant." vnd er erstumpt. do
sprach der chünig zu den dienajrn: „mit gepunden tuezzen vnd hen- 30
ten werfft in in di aussrest vinster, do wirt wainn vnd grisgramen
der zend. vil sind geladen, awer wenich sein der erweiten."
LXIV.
Di letzen am ains vud zwaintzkisteii suntag- — saiid Paul'.
Prneder! wert chreftigt im herren vnd in dem gewalt seinr
tugent. legt ew an di waffen gotez, daz ir mügt gesten wider di
nachsetzung dez tiefeis ; wann is ist nicht zeringen wider daz vleisch
vnd daz pluet, sunder wider di fürsten vnd di geweitiger, wider di 5
ardner der weit vnd dierr vinster, [104''] wider di geistleichen schalk-
hait in den himeln. darum nemt di waflfen gotes, daz ir mugt
widersten an dem poeseu tag vnd in allen dingen uolchomen sten.
stet geguertt an ewern leichnaraen in warhait, angelegt di platten
der rechtichait vnd geschuecht an ewern füezzen in di beraittung 10
dez ewangelij dez vrydes ; nemt in allen den schilt dez gelauben , in
dem ir mügt alle fewreiue geschoz dez schalkhsestigisten erleschen;
vnd den heim dez bailes nemt vnd daz swert dez geists, daz ist
daz gotswart.
Daz ewangelij — sand lohatmes^. 15
Is was ein chünigel ze Capharnaum, dez sun waz siech, do
der hart, daz lesus chom von ludea her zu Galylee, do gie er zu
im vnd pat in, daz er dar chaim vnd seinn sun gesunt machte;
wann der wolt alebenst sterben. lesus sprach zu iem; ,,nuer ir
secht denn zaichen vnd wunder, ir gelaubt anders nicht." dez ant- 20
wurt im [105"] der chunich: „herr, chüm e mein sun sterwe." do
sprach lesus: ,,gincb, dein sun der lebt." er gelaubts, als im lesus
gesagt het, vnd gie haim. do er nahent, da leuffen im engegen sein
diener vnd sagten im: „dein sun ist genesen." er vragt sew: ,,zu
welher zeit hat er sich gepezzert?" si antwurteu im: „gestern au 25
der sibenten weil, do lie in daz vieber." do erchant der vater,
daz is di zeit waz, do zu im lesus sprach: „dein sun ist genesen."
vud gelaubt er vnd all sein haus.
1) Brief an die Epheser 6 , 10 — 17. 2) Evang. 4 , 46 — 53.
60
LXV.
Di letzen am zwai vnd zwaintzkisten ' suntag — sand Paul 2.
Priieder! wir gedingen im herren lesu, der in ew angefangen
hat daz guet werch, das er is volpring vntz an den tag Christi
lesu; als mir daz gerecht ist enphinden vm ewch all darum, daz
5 ich ew hau in dem hertzen vnd in meinn panten vnd in dem scberm
vnd hestaettung dez ewangelij, vnd gesellen meinr frewden wil [105"]
ich ew all sein, got der ist mir zewg, wie ich ewr beger in der
innerchait Christi lesu. vnd dez pitt ich, daz ewr lieb mer vnd
mer genueg in chunst vnd in allem sinne, daz ir bewaert di pez-
10 zern, daz ir seit slechtmüetig vnd an laidigung an dem tag Christi
vol der frucht der gerechtichait durch lesum Christum in glori vnd
lob gotez.
Daz ewangrelij — sand Matheus^.
lesus sprach zu seinn lungern disew gleichnüzz: „daz himel-
15 reich ist geleich eim chünich , der wolt raittung haben mit seinn
chnechten. do er begunde raitten, do pracht man yra a^ynn, der
solt zehen tausent phunt. do er nicht het, daz er uergult, do hiez
in sein herre uerchauften vnd sein haussfrauu vnd sein sün vnd
alles daz er het vnd hies in^ gesten. do viel der chnecht viir in
20 vnd pat in vnd sprach : „wis mir gensedig , ich gilt dir is alles." der
herr erparmt sich über den chnecht vnd lie in vnd uergab im auch
daz gelt, vnd do er heraus [106"] chom von dem herren, do vand
er ainn seinr mitchnecht, der solt im hundert phening. den vie er
vnd drosselt in vnd sprach : „ gilt daz du mir solt." er viel für
25 in vnd pat in vnd sprach : „wis mir genaedig , ich gilt dir is alles."
do enwolt er sein nicht tuen vnd warf in in den charicher , vntz er
im vergulte. do daz di andern sahen , do wurden si traurig vnd
gingen zu dem herren vnd sagten ims allez, wie is ergangen wa^r.^
do lued in der herr vnd sprach: „schalkhafter chnecht, ich lie dir
30 allez das gelt, daz du mir soldest, wann du mich sein psett. warum
erparmstu dich nicht über deinn mitchnecht, als ich mich erparmt
über dich?" vnd sein herr ward zarnig vnd gab in den weitzigern,
vntz er wider gsebe daz gelt alles, alsam tuet auch ewr himlischer
vater, ob ewer igleicher nicht uergeit seim prueder von alle seim
35 hertzen."
1) Hs. zweliften. 2) Brief an die Philixiper 1,6 — 11. 3) Evang. 18,
23 - 35. 4) Hs. ein. 5) Hs. w'.
ALTDEUTSCHE VERIKOPEN 61
LXVI.
Di letzeu am drei vnd zwaintzkiMten ' suiitag- — Paulus'^.
Prüeder! mein uaclifolger seit vud behalt sew [106''J di nicht
also geilt, als ir habt vnser pilde. wann ir vilgent, di ich evv dikh
gesagt hau vnd nu sag ich ews wainuud, di feint der chrewtz Chri-
sti; der ende ist di verderbnüzze, der got auch der pauch ist; der 5
glori ist in diser schendung, dew ierdischew uerstent. awer vnser
wandel ist in dem hinieln, von dew wartt wir auch vnsers hailants
dez herren Jesu Christi, der wider pracht hat den leichuam vnserr
dieniüetichait, geleich gestalt dem leichnam seinr chlarhait nach
dem werch , do er in auch alle dinch mag vndertau gemachen Jesus 10
Christus vnser herre.
Daz ewaugelij — saud MatheusK
Der luden pischolf gingen zerat mit einander, daz si lesum
viengen an der rede, vnd sauten im sein iunger mit Herodez poten
sprechund: „maister, wir wizzen wol, daz du warhaft pist vnd 15
lerest den weg gotes in der warhait vud fürchtest niement; wann
du siechst nicht an di person der menschen. [107*] sag vns, waz
dunkht dich recht: sol mau zius geben dem chaiser oder nicht?"
do lesus erchant ir poez gedanch , do sprach er : „wez uersuecht ir
mich, gleichsner? zaigt mir daz pra^kh dez zins." vnd si prachten 20
im einn phening. do sprach lesus zu in : „wez ist daz pild vnd di
Überschrift?" si sprahen: „dez chaisers." do antwurt er in: „gebt
dem chaiser, daz dez chaisers sei, vud got, daz gotes sey,"
LXVII.
Di letzeu am vier vnd zwaiutzkisteii suutag — sand P'dulK
Prüeder ! wir hcern nicht zepitten vnd zefaderu vm ew , daz ir
erfüllet wert der erchantnüzze dez willen gots in aller weishait vnd
geistleicher verstentichait ; daz ir wirdichleich get vnd got in allen
dingen gefallt; daz ir frucht pringt in allen gueten werchen vnd 5
daz ir wachst in gcetleicher chunst vnd in allen tugenten bestsett
wert nach der chraft seinr chlarhait in aller gedult vud lanchmüe-
tichait mit frewden; daz ir dankht [107''] got dem vater, der vns
wirdig hat gemacht au dem tail dez gelükhs in dem Hecht der hei-
ligen, der vns hat geloest von dem gewalt der vinster vnd hat vns lu
1) Hs. xnj , vorn ein x ausradiert. 2) Brief an die PhilipparS, 17 — 4, 3.
3) Evany. 22, 15 — 21. 4) Brief an die Colosserl, 9 — 14.
62 steJskal
gefuert in daz reich des suns seiner lieb, in dem wir haben erla-
sung vnd antlaz der sunten.
Daz ewang'elij dez selbeii suntags — Matheus^.
Do lesus redt mit der menig , do gie ein fürsst vnd pat in an
15 sprechnnd: „herr, mein tachter ist mi tad; chum dar vnd leg dein
hant auf sey, so wirt si lemtig." lesus der gie nach im vnd sein
iunger. vnd ein weih, di daz pluet gehabt het zwelf iar, di gie
hinderwertez zu im vnd berüert den säum seins gewantes vnd sprach
wider sich selb: ob ich nner rfter sein gewant, ich wird gesunt.
20 do chert sich lesus vm vnd do er sey ersach, do sprach er zu ir:
„tachter, wis gewis, dein gelaub hat dich gesunt gemacht."
Das sein di letzen - vnd ewangelij von den heiligen.
LXVIII.
Di letzen zu der liechtmezz — Malachie^'.
[108"] Dew spricht der herre: nim war, ich sent meiuu engel
vnd er beraitt den weg var meim autlütz. vnd zehaut chumt zu
seim tempel der herscher der herr, den ir suecht vnd der engel
5 dez gesch^efts, den ir weit, vnd er ist choemen, spricht der herre
dez volkhs. vnd wer mag gedenchen des tages seinr zuechunft vnd
wer stet in zesehen? wann er ist als ein zesamm plasund fewr vnd
als ein chraut der verbser vnd er wiert setzund zesamm plasund
vnd raiuigund daz silber, vnd chert di sim Leui vnd seicht &ew
als daz gold vnd daz silber; vnd si werdent ophern dem herren in
10 gerechtichait. vnd is wiert dem herreu gefallen daz opher luda vnd
Jerusalem als di tag der weit vnd als di ewigen iar, spricht der
allmsechtig herre.
Daz ewang'elij — Lucas''.
Do erfült wurden di tag Marie, daz si gerainigt werden sold
15 nach der e Moysi, do prach [108"] ten si in ze Jerusalem, daz si
in do stalten var got, als do geschribeu ist an der e: wand ein
igleicher, der von der mueter dez ersten sey geparn, sol heilig
gehaissen von got; vnd daz auch si prsechten, als geschribeu wasr^
an der e, zwo gurteltauben oder zway hüendel der tauben, ia
20 waz auch ein mensch ze Jerusalem , der hies Symeon , vnd der waz
gerecht vnd farcht got vnd wartt dez trastes Israel vnd waz mit
im der heilig geist. vnd eiiphie di antwurt vom heiligen geist, daz
er nicht sturb , er ssech e Christ, vnd chom in dem geist in den
1) Evany. 9, 18—26. 2) Hs. letz. 'S) 3, 1—4. 4) Evang. 2, 22—32.
5) Hs. w\
ALTDEUTSCHE PERIKOPEN 63
tempel; vnd daz si do in fuerten daz chind lesum seine frewnt, daz
si vm in teten nach der gewonhait der e, do nam in Symeon au 25
seinn arm vnd lobt got vnd sprach: „ nu la, herr, deinn chnecht
nacli deinem wart in vryd; wann mein äugen habeut gesehen dein
hail , daz du gemacht (109*|hast zu angesicht aller weit, ein offen
Hecht der haiden vnd ein glori deins volkhs Israel."
Lxrx.
Di letzen /u der chiiuduug^ Ezechielis'.
In den tagen is ist geschehen über mich di haut dez herren
vnd laitt mich aus in gesiebten in dew erd Israel vnd lie mich auf
einu über haben perkh, auf dem waz sani ein paw einr stat, di
sich gechert biet gegen dem asterlaut; vnd füert mich do selb hin 5
iu vnd ich chert mich zu dem tar, daz do sach gen Orient, vnd is
waz beslozzen. vnd der herr sprach zu mir: daz tar wiert besloz-
zen ; is wiert nicht auf getau vnd chain man get durch is, wann
der herr got Israel ist in gegangen durch is; vnd wirt beslozzen
den fürssten. der fürst selb sitzt iu im, daz er esse daz prat var 10
dem herreu; durch den weg dez vartars dez tares get er in vnd
durch sein weg get er aus.
Daz ewaiigelij zder chüuduug — Lucam ^.
[109^] Is ist gesaut von got ein eugel Gabriel in di stat Galy-
lee, di genant ist Nazareth , zu einr magt, di wer gemahelt eim 15
manne, dez nam waz Yoseph von Dauids haus; vnd di magt hiez
Maria, vnd do der engel waz in gegangen zu ir, do sprach er:
„gegrüezzt seistu volle geuaden , der herr ist mit dir; gesegent pistu
vnder allen weihen." do daz di magt erhart, do ward si betruebt
von seinr rede vnd gedacht , wietau der gruez weer ^ do sprach 20
der eugel zu ir: „fiircbt dir nicht, Maria, wann du hast funden
geuade peym herren. nu siech, du enphechst vnd gepierst einn
sun vnd du haizzt seinn uam lesu. er wirt graz vnd wirt genant
dez hoechsten sun; vnd geit dem got den stuel Dauids seines vater;
vnd reichseut in dem haus lacob ewichleich vnd seins reiches wiert 25
nicht ende." do sprach Maria zu dem engel: „wie mag daz gesein,
wann ich bechenn chainn man?" do antburt der engel vnd sprach:
„ der heilig geist chumt iu dich vnd dez aller hoechsten tugent wirt
dich vm schatten; vnd daz in dir geparn wirt, daz wirt genant
lesus. vnd siech Elysabeth dein muem , di hat enphangen einn suu 30
1) 44, 1 — 3. 2) Evang. 1, 16 — 38. 3) Hs. w*.
64 STEJSKAL
in irem alter vnd der moneid ist der sext der , di genaut ist vnper-
haft; wann is wirt nicht vnmngleich pey got ein igleich wart."
LXX.
Di letzeu au sand Philipp und saud lacobs tag au der weisbeit puech K
Is werdent sten di gerechten in grazzer staetichait wider die,
di sew gesengstigt habent vnd di in ab geprochen habeiit ir arbait.
wenn sy is sehent, so werdent si betruebt mit scliewtzleicher farcht
5 vnd werdent sich wnudrund der snellchait dez vngedingten hailes
vnd werdent sprechund [110''] in in selb rewig vnd chlagund var
angsten des geists: daz sind die, di wier etwenn in spot haben ge-
habt vnd in gleichnnzz dez itwizz. wir vnsinnigen achtseten ir
leben toerhaft vnd ir ende an ere. nemt war, wie si sind getzalt
10 vnder den sünn gotez vnd vnder den heiligen ist ir tail!
LXXI.
Au saud loliauues tag zesuiubeuteu di letzen — Esayas'^.
Dew spricht der herre: beert ir inssel vnd merkht ir ferrew
nolkh! der herr hat mir gerüefft von der wamp, von dem pauch
meinr mneter vnd han gedacht meins namens, vnd hat mich gesatzt
5 als ein scharffes swert; in dem schadt seinr hant hat er mich be-
schirmet vnd hat mich gesatzt als ein erweit geschos, in seim cho-
cher hat er mich nerpargen. vnd sprach zn mier: mein chnecbt
pistu, Israel; wand in dir wierd ich gewierdigt. vnd nu spricht
[111"] der herr, dew formnnd mich von dem panch im zu eim die-
10 ner: ich han dich in ein liecht der diet, daz dn seist mein hail
vntz an daz ende der erden, di chnnich werdent is sehent vnd di
fursten werdent auf sten vnd werdent an petten den herren deinn
got vnd den heiligen Israel, der dich erweit hat.
m
Daz ewangelij dez selbeu tag-ez — sand Lueam''.
15 Do di zeit Elisabet, daz si gepern sol, de waz erfüllet vnd si
gepar einn snn. do daz ir nachpaurn vnd ir vrennt ueruamen, daz
vnser herr sein parmnng biet begangen, dez sagten si im genade.
vnd am achten tag do chomen si zu besneiden daz chind vnd hies-
sen in nach seim vater Zachariam. vnd sein mueter antwurt spre-
20 chund : „vnr uams nicht, er sol haizzen lohaunes." vnd si spra-
chen zu ir: „nu ist niement in deim gesiecht, der also haizz."
vnd [111*"] winkht seim vater, wie er in sold nennen, vnd hiez im
1) 5, 1 — 5. 2) 49, 1—3. 5 — 1. 3) Evang. i, 57 — GS.
AI.TDRL'TSCHK PKKIKOPEN 65
geben einn peinsel viul scliraib: lohannes ist sein naino. vnd wun-
dert sew dez all. sotzeliant ward auf getan sein niund vnd sein
zung vnd lobt got. daz erayscliton sein nachpaiiien vnd erschullen 25
alle disew Avart in der iudischait vnd alle, dew daz uernanien, di
betracbteii in ir hertzen spreclmnd: „wen wjent ir, daz ditz cbind
werdV werleicli di genade dez heiligen geists di ist mit im." vnd
Zac.barias sein vater ward erfüllet wit dem heiligen geist vnd weis-
sagt spreclinnd : „gesegent sey got Israel, wand er bat gebaim- 30
suecht vnd bat geniacbt erledigung seins uolkhs."
LXXII.
Di letzen an saud Peters tag an der zwelf poten puech *.
In den tagen is sant der cbnnicb Herodez diener, daz er puez-
zjpt etleicb aus der cbircben. vnd er tcett lacobum , Johannes prue-
der, mit dem svvert. do er sach , daz is den luden gefiel, do [112*]
legt ir zue auch Petrum zefaheu. is warn di tag derbes prates. do 5
er in gehe, do sant er in inn charcher vnd gab in vierstuud vier
rittern zehüeten ; vnd wolt in nach astern vür fueren dem folkh.
vnd Petrus ward behalten in dem charcher ; vnd gepet geschach an
vnderlas von der chircheu zu got vm in. vnd do Herodes in nu
gedacht vür zefüeren, in der nacht waz Petrus slaffund vnder zwain 10
rittern gefangner mit zwain cheten vnd di hüetter var der tür hüet-
taten dez charcher. vnd nemt war, der engel des herren stueud
im pey vnd ein Hecht erschain in der wonung dez charicher; vnd
slueg di seytten Petri vnd wekht in sprechund : stand auf snell !
vnd is viellen di cheten von seinen heuten vnd is sprach der engel 15
zu: „wird gegiiertt vnd schüech dich mit deinn hosen." vnd er
tets also vnd er sprach zu im: „vm gib dich mit deim [112''] gewant
vnd volg mir nach." er gie aus vnd volgt im nach vnd wezzt nicht,
wand is war waz, daz do geschach durch den engel; er want sich
ein gesiebte sehen, do si durch gingen di erst vnd di ander huet, 20
do chomens zu dem eysnein tar, daz do leit zu der stat. daz ward
in auch offen, vnd do si aus geund vürgingen ain gazzen, zehant do
entwaich der engel von im. vnd Petrus zu im selb wider chom,
do sprach er: „ nu waiz ich werleich, wann der herr gesaut hat
seinn engel vnd hat mich geloest von der haut Herodes vnd aus 25
aller warttung des iüdischen volkhs."
1) Apostelgesch. 12 , 1 — 11.
ZEITSCHR. F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XII. O
66 STEJSKAL
Daz ewaug^elij au saud Peters tag- — Matheus^.
lesus chom in daz laut Cesarie Philippi vnd vragt sein iun-
ger sprechund : „ wen haizzen di lewt dez menschen sun ? " si ant-
30 wurtten im vnd sprachen: „siimleich lohannem den tauffer, etleich
Helyanij di andern leremiam , oder einn weis [113"] sagen." do
sprach er zu in: „wen haizzt aber ir mich?" do antwurfc im 8j-
mon Petrus : „ du pist Christ , dez lemtigen gotez sun.'' dem ant-
wurt lesus vnd sprach zu im : „ du pist salig Symon Bariona ; waun
35 is dir weder fleisch noch pluet geoffent hat, sunder mein vater, der
ze himel ist. vnd ich sag auch dir, daz du pist Petrus vnd auf
disen stain paw ich mein christenhait vnd di helle parten gesigent
. dir nicht an; vnd gib dir di slüzzel dez himels; vnd swaz du pin-
test auf der erden, daz wiert auch gepunten zehimel vnd swaz du
40 loesest auf erden, daz wirt auch gelcest zehimel."
LXXIII.
An saud Pauls tag- di letzeu schreibt saud Paul"^.
Prueder! ich mach ew chund daz ewangelij, daz geewangeli-
siert ist von mir, wann is ist nicht nach dem menschen; noch ich
hau is genomen von den menschen [113''] noch gelernt, sunder durch
5 di Öffnung lesu Christi, ir habt uernomen meinn wandel etwann
in der iüdischait, wie ich über di mazz lechtat di chirchen gotez
vnd erstrait sey ; vnd lert in der iüdischait über vil meinr genazzeu
in meim geshecht vnd waz genuegleicher ein nachuolger meinr
vaeterleichen aufssetz. awer do is im gefiel, der mich geschaiden
10 hat aus dem pauch meinr mueter vnd mich lued durch sein genad,
daz er ofnset seinn sun in mir, daz ich den prediga^t in den dieteu,
zehant do uolgat ich weder dem vleisch noch dem pluet; noch ich
chom gen lerusaleni zu meinn vargea3renden poten, sundei^ ich
gie in Arabiam vnd cham awer wider in Damasco. do nach nach
15 drein iaren cham ich gen Jerusalem Petrum zesehen vnd belaib pey
im fünftzelien tag. aber chainn andern poten sach ich nicht nur
lacobum, dez herren prueder. awer waz [114*] ich ew schreib,
nemt war, var got ich lewg nicht.
Das ewangelij — sancl Matheus^.
20 Symon Petrus sprach zu lesum: „wir haben allew alle vns-
rew güeter lassen vnd haben dir nach gefolget; waz geist du vns
1) Evang.16, 13 — 19. 2) Brief an die Galater 1, 11—20. 3) Evang.
19, 27 — 29.
ALTDEUTSCHli: PERIKOPEN 67
darum?" Jesus sprach zu iu: „werleicli ich sagew, daz ir mir habt
gelbiget, au dem iuugisteu tag, so dez meuscheu suu sitzt auf dem
stuel seiur mageuclirefte , so sitzt aucli ir auf den zwelif stüelen
urtailn di zweit" gesla?cht von Israel, vud swer la^t haus oder vater 25
oder mueter oder weib oder chiud oder a'kher dunli meiuu willeu,
der uymt is hundertfaltigs wider vud besitzt daz ewig leben."
LXXIV.
Di letzen au saiul Maria Mag-daleu tag- an der weisluiit imecli '.
In lueim petlein duich di nacht lum ich gesuehet, den mein
sei lieb hat; ich hau in gesuecht vud hau sein nicht funden. ich
steu auf vud vnigen di stat suechund, den lieb hat mein sei. mich
funden [117''] di wachter, di der stat hüetten. habt ir icht geseheu, 5
den do lieb hat meiu sei? vnd is geschach, do ich sew durch gan-
gen het, do fand ich, den do lieb hat mein sei. ich hielt in vnd
lazz sein nicht, vntz daz ich in in laitt in daz haus meiner mueter
vud in di slaf chamer meiner gepera^rinn.
Das eivcmgeUj — smid Lucas '^. JO
Is pat lesum ein phariseus, daz er mit im a?sse; vnd er gie
iu sein haus, vnd ein weib, di waz in der stat ein süuterinn, als
si erhart, daz Jesus gesazzen waz in dem haus dez pharysei, do
pracht si ein edlew salben vnd stuend hinder in pei seinu füezzen
vnd begunde twahen sein fuezz mit ireu zsehern vud tn'ikent sew 15
mit irm har vnd salbet sew mit der salben, do daz der phariseus
sach, der in het geladen, do sprach er wider sich selben: ob der
wser^ ein weissag, so wesst er wol, wer oder wie ditz weib w;er^,
di in do an rüert, daz is ein süuterinn [115"] ist. dez antwurt im
lesus vud sprach : „Synion, ich hau dir etwaz zesagen." do sprach 20
er: „maister, sag dar," „zwen gelter warn schuldig eini wuecher;
ainr solt im fümf hundert phunt, der ander fünftzkew. do si nicht
beten, do mit si im vergulten, do uergab ers ir ietwedrem. wer
het in lieber?" do antwurt Symon vnd sprach : „ich w»n der, dem
mer uergeben ist." er sprach: „du hast recht ertailt." vnd chert 25
sich zu dem weib sprechuud zuSymonem: „siechstu daz weib? ich
gie iu dein haus; du dwuegt nicht mein fuezz, aber si twueg sew
mit irn zaBhern vud trükhent sew mit irem har; du ga^bd mir nie
daz psetz, awer si liez nicht, si chusst mein fuezz; mein haubt salp-
testu nicht mit oel, di salbet awer is mit edler salben; wann si hat 30
1) Hohelied 3,1 — 4. 2) Evang. 7, 30—50. 3) Hs. w*.
r, *
68 STEJSKAL
vil lieb gehabt, flaruni sag icli dir, ir wirt uergebeu vil siiiiden."
do sprachen di mitessiier in in selben : wer ist der auch sunt uer-
geit? [115''] do sprach er zu dem weih: „dein gelaub hat dich hail
gemacht ; ge mit vryd ! "
LXXV.
Daz CAvaug-elij an riiser vraMii tag: zu der schiduug- — Lucam*.
lesus gie in ein casstell vnd ein weib enphie in in ir haus ;
di hies Martha, di het ein swester, di genant waz Maria, di saz
auch pey dez herren füezzen vnd hart sein wart. Martha di vlais
5 sich vm den eutzigen dienst, di stuend vnd sprach: „lierr, du
euruechst, daz mich mein swester Iset alain dienn ; gepeut ir, daz si
mir helff." dez antwurt ir lesus vnd sprach: „Martha, Martha, du
sargest vnd betruebest dich von manich dinch. ains ist doch dürf-
tig. Maria hat erweit den pesten tail , daz auch ir nicht benomen
10 wirt."
LXXVI.
Daz ewangelij an saiid Michels tag- — saiid Matlieus^.
Dew iunger gingen zu lesum vnd sprachen: „wer ist der
merer in dem himelreich?" do rief lesus einen chind zu im vnd
stelt is enmitten [116*] vnder sew vnd sprach: „werleich ich sag ew,
5 ir uerchert ew denn vnd wert als daz chind, ir chojmt nicht in
daz reich gotez. wer sich dienmüetigt als das chind, der ist der
merer in dem himelreich, vnd wer enphrecht einn samleichen in
meim namen , der enphrecht mich, wer awer ergert aynn der weni-
gen, di an mich gelaubent, daz ist pilleich, daz man dem hach
10 einn mülstain an sainn hals vnd sench in in di tieff des meres. we
der weit var ergernüzz! is muez sein, daz chcem ergernuzz; we
awer dem menschen, von dem ergrunde chümt! ob awer dein haut
oder dein fuez dich ergert, sneid in ab vnd wierf in von dir; dir
ist pezzer an haut oder au fuez zechomen in daz ewig leben denn
15 mit zwain heuten oder mit zwain füezzen chomen in daz ewig fewer.
vnd ob dein aug dich ergert, stich is aus vnd wierf is von dir;
dir ist pezzer, daz du^ aug habst [116''] choemuud in daz reich gotes
denn mit zwain äugen in daz hellisch fewer. secht, daz ir icht
uersmsecht ainn dierr wenigen; ich sag ew, daz ir engel zehimel
20 sehent zu aller zeit an daz antlütz meins vater, der zehimel ist."
1) Evang. 10, 38 — 42. 2) Ecang. 18, 1 — 10. 3) 1. ein aug.
ALTDEUTSCHE PERIKOPEN 69
LXXVII.
Daz ewaiigelij au aller heiligen abeiit — Lucas^.
leöus gie ab dem perge viid stueiid au der stat des ueldes vnd
sein iunger vnd ein micblew meuig der lewt von aller iudenscliaft,
von Teriisaleni vnd von Maritiiuam vnd Tyro vnd Sydouem , di dar
chomen Avarn, daz si in harten vnd gehailet wurden von im irem 5
Siechtum ; vnd di gemüeten von dem po3sen geist, dew wurden gele-
digt. vnd alle menig begert in zerüereu , wand genad von im gie,
daz alle di gesunt wurden, die in beriierteu. vnd er hueb auf sein
äugen hin zu seinn lungern vnd sprach: „ir armen, ir seit sa^lig,
wann daz reich gotes daz ist ewr. di seligen, di nu hungert, di 10
werdent gesatt; dew sa^ligen, di nu wainnt, di werdent lachen. [117"]
ir seit s^elig, wenn ew di lewt hazzent vnd scheltent vnd ew besun-
dern vnd eweru nam uerwerfifent als daz übel durch dez menschen
suu willen ; ir vrewt ew an der selben weil , wann ewr lan ist
graz zehimel."
LXXVIII.
Daz ewaugelij au aller lieilig-eu tag- — 3Iutheus'^.
Do lesus sach di menig choemen zu im, do gie er auf den
perkh vnd tet auf seinn mund vnd lert sew vnd sprach: „sa?lich
sind di dienmuetigen , wann daz reich gotez daz ist ir. saelich sind
di milten, wann si besitzent di erde. Scelich sind di wainunden, 5
wann si werdent getroesst. sgelich sind, di do hungert vnd tuersst
nach der rechtichait, di werdent gesatt, sa^lig sind di parmhertzi-
gen, wann di parmung chumt über sew. sselich sind, di rains hertzen
sind , wann si sehent got. sseiich sind di vrydsamen , wannd si wer-
dent gotez chind genant, di sind sa3lich, di ?ehtung dultent durch 10
daz [117*'] recht, der ist daz himelreich. ir seit seelich, so si ewr
sechtent vnd ewr fluechent vnd ew übel sprecheut durch mich, so
vrewt ew , wand ewr lan gras ist zehimel."
LXXIX.
An sand Laureuci tag daz ewaug-elij — saud lohanues^.
lesus sprach zu seinn lungern: „werleich, wer ich sag ew, is
ensterb denn daz charn des sams, daz do uellt in di erden, is
beleibt ayn; stirbt is awer, so pringt is vil vrucht. wer sein sei
lieb hab, der hazze sey in diser weit; vnd der sey hie hasst, der 5
1) Evang. 6, 17 — 22. 2) Evauy. 5, 1 — 12. 3) Evang. 12, 24 — 26.
70 STEJSKAL
belialtt sey in daz ewig leben, swev mir dient, der nolget mir;
vnd swo ich pin, do ist auch mein diener. swer mir dient, der
eret meinn vater, der datz himel ist."
LXXX.
An Saud Matlieus tag daz ewaiigelij — Matlieus \
Tesus sach einn menschen sitzen an dem zol, der hies Matheus,
vnd sprach zu im: ,,volg mir nach." vnd er stuend auf vnd uolget
im. vnd do lesus gesas in dem haus, do chomen manig offen
5 sünter vnd sazzen zu im vnd zu scinn iungern. do [118'''] daz der
luden pischolf sahen, do sprachen si zu seinn iungern: „warum
isst vnd trinkht ewr maister mit den suntern?'" daz hart lesus
vnd sprach: „di gesunten bedürffen nicht artztes , sunder di siechen,
get vnd vragt waz daz ist: ich wil parmung vnd nicht opher. ich
10 pin nicht choemen zehiden di rechten, sunder di siinter."
LXXXI.
An Saud Andres tag daz ewangelij - sand lohanues^.
Jesus gie pey dem mer Galylee vnd sach zwen prüeder, Symo-
nem der genant ist Petrus vnd Andream seinn prueder, werffen di
netzz in daz mer ; si waren vischer. vnd lesus sprach zu in : „ chojmt
5 nach mir, ich mach ew vischer der lewt." sotzehant liezzen si
dew netz vnd neigten im nach, vnd gie vürbaz vnd vand zwen
ander prueder, lacobum Zebedey sun vnd lohannem sein prueder
mit Zebedey irem vater in dem scheffe puezzund ir netz, vnd er
rüefft in ; si Hessen netz vnd den vater vnd gingen nach im.
LXXXIL
[118"] Daz ewangelij von der cliirclnveich — Lucani-^.
lesus chom in ludeam vnd durch gie Yericho. vnd ein man
genant Zacheus ein fürst der offen sunter vnd V7az reich, vnd der
begert zesehen lesum, wer er wser; do macht er nicht von der
5 menig, wann er des leibes chlain waz. vnd lief vür vnd staig auf
einen paum , daz er in gessech , wand er do vur solde gen. vnd do
er chom zu der stat , do sach lesus auf vnd sprach zu im : „ Zache,
eyl vnd ginch her ab drat, wann ich muez heut sein in deim haus."
vnd er gie eylund her nider vnd enphie in frceleich. do daz di leut
1) Evang.9, 9—13. 2) Evatuf. Mattheei 4, 18—22. 3) Evang.
19, 1-10.
ALTDEUTSCHE PKRIKOPEN 71
sahen, do iiiüimelteu si spiecliimd, daz er zu eim süiiter wter^ gechert. 10
do stiiend Zacheus vnd sprach zu lesum : ,, herr , mein giiet halbs
gib ich den armen vnd ob ich ienient han uervntrewt, daz gilt ich
viertaltichleich." do sprach zu im Jesus: „dem haus ist heut hail
begegent, do von, daz du pist Abrahams chind. dez [119''| men-
schen sun ist choemen zu suecheii vnd zu behalten, daz do ver- 15
larn waz."
LXXXIII.
Daz ewaug-elij von iuuehfraweii — suud fliatheum ■^.
lesus sprach zu seinn iungern ditz pispel: „daz himelreich ist
gleich zehen magten, di ir lampen uenient vnd gent dem preut-
kan vnd der jjratit engegen. der warn fünf tunib vnd fünf weise,
di fümf tumb di namen ir lampen mit in. di weisen namen ire 5
vas vnd daz 61 mit den lampen. vnd do der preutkan entwacht,
do slieffen si all. zder mitter nacht chom ein ruef: secht der preut-
kan chumt, get im engegen. do stuenden di magt all auf vnd zier-
ten ir lampen. di tumben sprahen zu den weisen: ,,gebt vns ewers
ffils, wann vuser lampen sind erloschen." dez antwurten di weisen 10
sprechund: „daz vns vnd ew nicht enprezzt, get zu den chauflewten
vnd chauft is ew.'' do si gingen chauffen , do chom der prewtkan;
vnd di berait warn, di gingen mit [119''1 im in zder prautloft vnd
ward di tur uersperrt. zdem lessten chomen auch di andern magt
vnd sprachen: „herr, tue vns auf." er antwurt sprechund : ,,werleich 15
sag ich ew, ich wais ewr nicht; wacht also, wann ir enwizzt nicht
den tag."
LXXXIV.
Awer ahis vou den iimchfraueu — Matheus^.
lesus sprach zu seinn iungern: „daz himelreich das ist geleich
dem uerpargen schatzz in dem akher; welch mensch den vindet, der
uerpirget in vnd var frewden get er vnd uerchauft alles, daz er hat,
vnd chauft den akher. daz himelreich ist geleich eim chaufmann, 5
der suecht guetew gymme ; vnd so er vindet ein edle gymme , so
get er vnd uerchauft, waz er hat, vnd chanfft sey. awer ist daz
himelreich geleich eim netz, daz gewarfteu wirt in daz mer, daz do
vsecht allerlay visch; vnd so is wol wiert, so ziehent sis aus vnd
sitzent an daz gestat vnd lesent di gueten visch in ir vas, di poe- 10
sen werffent si aus. also wiert [120*] is an dem ende der weit, so
gent aus di engel vnd sundernt di pcesen enmitten aus den gueten
vnd sundernt sew in daz helle fewr; do wirt wainn vnd grysgramm
1) Hs. w'. 2) Evang.25, 1 — 13. 3) Evang. 13 , 44 — 52.
72 STEJSKAL, ALTDEUTSCHE PEEIKOPEN
der zende. habt ir daz alles uernomen?" si sprachen: „ia, herr."
15 do sprach er zu in: „darum ein igleicher gelerter schreibper ist
geleieh dem menschen, der ein hauswiert ist, der do vur pringt
von seinem schätz newe vnd altew."
LXXXV.
Daz ewangelij tou eim igleiclien gotez iung-er — lohanms^.
lesus sprach zu seinn lungern : „ daz gepot gib ich ew , daz
ir an einander lieb habt, ob ew di weit hazzet, so wizzt, daz si
mich e gehazzt hat. ob ir von der weit waert gewesen , so biet di
5 weit lieb, daz ir wser^; auch ir seit nicht der weit, wann ich han
ew erweit von der weit, gedenkht meinr wart, di ich ew gesagt
han : der chnecht ist nicht merr denn der herre. ob si mein geeecht
habent, so sechtents auch ewr; obs meine wart behaltent, [120*'] so
behaltens auch di ewern. daz tuent si ew als durch meinn willen;
10 wann si erchanten in nicht, der mich do sant. vnd wser ich nicht
choemen vnd biet ins nicht gesagt, so hietens nicht di sunt; nu
mugen si sich nicht entschuldigen von iren sunten. der mich hazzt,
der hazzt ouch meinn vater. ob ich di werch nicht biet begangen,
di niemt ander macht getuen, so bieten si der sünden nicht; nu
15 habent sis gesehen vnd hazzent mich vnd meinn vater, sunder daz
di wart erfüllet werden, di an ierr e geschriben sind: si hazzent
mich."
Ein seqencen vom heilig'en g-eist.
Chüm , heiliger geist , geus aus di himlischen stral deins Hech-
tes, chum ein vater der armen, chüm ein gewer der gab, chum ein
liecht der hertzen. aller pesster troester, ein suezzer gast der sei,
5 ein suezzes taw ! in der arbait pistu ein rue , in der hitz pistu ein
chüel, in dem wainen pistu ein vrewd. o aller sseligistez [121*]
lieht, nu erfülle di inuerchait der deinen gelaubigen hertz; wann
an dein hilff in den menschen nichsnicht ist vnd nichtez sauber
noch rain an yn ist. wasch daz vnflstig ist, begews daz dürr ist,
10 mach gesunt daz uerwunt ist, prauch daz ungeslacht ist, erhitz daz
do ehalt ist, rieht daz uerierrt ist; gib vns der tugent Ion, gib vns
ein sffilige hinfart, gib vns di ewig vrewd. amen.
1) Evang.15, 12. 18 — 25. 2) Hs. w'.
ZNAIM, FEBRUAR 1880. KARL STEJSKAL.
73
GAHMUEETS WAPPEN.
Haupt bat iu seiner Zeitschrift f. deutsch, alterth. 11, 46 fgg. bei
gelegenbeit des nachweises, dass die in Wolframs Parzival 490, 15
und 498, 20 begegnenden Ortsnamen steirisclien örtlichkeiten entspre-
chen, auch die Vermutung ausgesproclien, der pantlier, der Parz. 101, 6
als Gahmurets von seinem vater ererbtes wappen angegeben werde,
möge mit dem wappen von Steiermark, einem weissen panther in grü-
nem felde, in irgend welchem zusanimenliange stehen, hat aber zugleich
vorsichtig hinzugefügt, dass er diese beziehungen zu Steiermark nicht
zu erklären wisse; denn die Ortsnamen wie das wappen seien nicht
etwa wilkürlicher zusatz Wolframs, sondern müssen bereits dem fran-
zösischen gedichte Guiots angehört haben.
Nun stamte aber Guiot, nach einer noch ungedruckten Unter-
suchung des herrn prof. Zacher, aus einer der drei nebeneinander lie-
genden grafschaften , Anjou, Maine, Touraine, höchst wahrscheinlich
aus Anjou selbst, und hat sein gedieht verfasst für seinen damaligen
landesherren , für den aus dem grafenhause von Anjou entsprossenen
könig Heinrich IL Plantagenet von England (1154 — 1189). Und fer-
ner hat Guiot, ein sehr gelehrter, viel belesener und denkender mann,
den vater Parzivals, Gahmuret, sowie seinen bruder Feirefiz und sei-
nen söhn Loherangrin zu der altüberlieferten, von ihm aber höchst
geschickt neu aufgestuzten geschichte mit wol bewuster und überlegter
absieht deshalb hinzugefügt, um durch die genealogische Verknüpfung
mit ihnen das fürsteuhaus von Anjou zu verherlichen; und diesem zwecke
gemäss ist auch in einer für seine Zeitgenossen eben so anziehenden
als wirksamen weise dasjenige gestaltet, was er von ihnen erzählt.
Demnach liegt die Vermutung nahe, dass er auch durch die ausstat-
tung Gahmurets mit dem augeblich bereits väterlich ererbten wappen
des panthers eine höfische Schmeichelei beabsichtigt habe, die zwar
unhistorisch war, weil Anjou die französischen lilien im wappen führte,^
für welche er aber nichts destoweniger algemeines Verständnis und bei-
fällige aufnähme erwarten durfte. Zur begründung dieser Vermutung
ist erforderlich , dass geschichtlich nachgewiesen werde , dass der pan-
ther, mit welchem Guiot den Gahmuret und folglich auch dessen söhn
Parzival , den hehren , iu mystischer Verklärung gefeierten urahn des
hauses Anjou ausgestattet hatte, wie er gegenwärtig das englische
1) Ob vielleicht das haus Gatinais, welches nach dem aussterben des alten
grafengeschlechtes (1060) die grafschaft Anjou erlaugte, in seinem familienwappen
den panther geführt habe, vermag ich freilich nicht zu sagen.
74 HOETZSCHANSKY
Wappen schmückt, so auch schon zu Heinrichs II zeit demselben
angehört habe. Und dieser beweis lässt sich mit voller Sicherheit
erbringen.
Sir Burke, grossbritannischer king of arms für Ulster, in sei-
nem „The general Armory of England, Scottland, Ireland and Wales.
London 1878" gibt unter der Überschrift: „The Arms of the different
monarchs since the conquest " s. 6 folgende nachrichten :
„William I (the conqueror) Gules, two lious passants guar-
dants or. Much controversy has arisen regarding leopards or lions,
but the latter would appear the more correct.
William II (Rufus) the same arms.
Henry I Arms similar to those of his predecessor.
Henry II Gules two lions passants guardants or, previously
to the kings mariage with Eleanor, when he adopted a third lion
for Aquitaine. On the Great Seal no Arms appear, the concave side
of the shieldiug only exhibited."
Zu Wilhelm I und Heinrich II gibt er die abbildung des Wap-
pens. Auch ohne dieselbe würde man aus der erklärung, die er in
der vorrede für das wort guardant gibt, ersehen, dass lion guar-
dant eben nichts anderes ist, als was die heraldik von jeher leopard
oder panther genant hat; diese erklärung lautet: „When a lion or
other beast of prey Stands upright with only one ear and one eye seen,
with the head in prolile, he is termed rampant, when Walking for-
ward, with one eye and ear seen, passant. If in any of these posi-
tions the animal look füll face, so that both eyes and ears may be
seen, the word guardant is annexed to passaut, rampant." Die abbil-
dungen bei Burke zeigen in beiden fällen die thiere als passants,
schreitend, und lassen beide äugen und obren sehen, entsprechen
demnach genau den an das heraldische bild des leopard en von der
heraldik gestelten anforderungen , wie sie dargelegt werden von Ph. J.
Speuer, historia insignium illustrium, Frankfurt 1717, pars specialis,
Seite 11: „Differentia leonura et leopardorum in re heraldica illa
notata quodhorum ad versa pinguntur ora utroque extante oculo,
illorum non nisi unus oculus conspicitur;" und Berndt, allgemeine
Wappenwissenschaft. Bonn 1849. Theil II s. 192: „Ein thier heisst
schreitend, passant, wenn es ein Vorderbein aufhebt; da der leo-
pard fast stets schreitend, den köpf nach vorn gewendet dargestelt
wird, so wird das bei ihm nicht angesagt; dagegen der löwe in sol-
cher Stellung gepardelt, leoparde genant wird. Von der Stellung, in
welcher man ein thier zum streite geschickt nent, ist die sehr ver-
schieden, in der man es nent kletternd, rampant usw. üa dies die
GAHMUBETS WAPPEN 75
gewöhnlichste Stellung des löweu ist, wird sie bei diesem nicht auge-
sagt, dagegen der leopaid in dieser Stellung gelöwet, lionne genant
wird, wozu noch gebeert, dass er den köpf nach vorn wendet, so
diiös man seine beiden äugen siebt."
üass man aber in England zur zeit der ersten Plantagenets auch
sehr wol wüste, dass das wappen leoparden, nicht löwen aufweise,
bezeugt Mathaeus Paris, wenn er bei gelegenbeit der heirat Kaiser
Fridricbs II und der Schwester Heinricbs III eines kaiserlichen gescheu-
kes von drei lebenden leoparden mit folgenden Avorten erwähnt (Histo-
ria maior ed. Wats. Londini 1640 s. 416.): „ Nuptiis igitur diebus qua-
tuor continuis magnitice celebratis, episcopus Exouieusis et caeteri qui
cum imperatrice adveuerant, ab imperatore licentia impetrata ad An-
gliam cum gaudio suut reversi. Misit ergo Imperator regi Auglorum
tres leopardos in signum regalis clypei in quo tres leopardi
figurautur transeuntes, cum aliis donariis preciosis quibus regiones
non abuudant occidentis."
Aus diesem hier nacligewieseneu Sachverhalte gewinnen auch die
Schlusszeilen in Uhlands ballade „die Jagd von Winchester " über deren
sinn die erklärer nur ungewisse Vermutungen aufgestelt haben, ibre
ebens*!) einfache als sichere erklärung. Uhland hat diese ballade gedich-
tet im november 1810, während er in Paris dem eifrigen und eindrin-
genden Studium altfranzösischer epen oblag. Den stoff dazu hat er
geschöpft aus Kobert Waces Komau de Eon, hat ihn aber nach eige-
nem freiem dichterischem ermessen der art gekürzt und umgestaltet,
dass er ihm gerecht Avurde für eine dem Charakter des Volksliedes sich
annähernde ballade. Wace (dessen betreffende stelle volständig abgedruckt
ist in: Paul Eichholtz, Quellenstudien zu Uhlands Balladen. Berlin
1879, s. 32 — 34) erzählt: König Wilhelm [II. der Kothe, 1087 — 1100]
gieng auf die birschjagd in dem neuen forste von Winchester, und ver-
teilte dazu pfeile unter die jagdgenossen. Im walde zerstreuten sich
die Jäger bald, und dem ritter Tirel widerfuhr das misgeschick, dass
er mit dem pfeile, den der könig ihm gegeben hatte, einen hirsch
fehlte, dagegen den könig selbst tötlich traf. Des königs bruder Hein-
rich [I. Beauclerc 1100 — 1137] hatte noch ausserhalb des waldes zu-
rückbleiben müssen, um die gebrochene sehne seines bogens in einem
hofe durch eine neue ersetzen zu lassen; und während dies geschah
hatte eine alte frau dem ihn begleitenden knappen geweissagt, dass
Heinrich binnen kurzem könig sein werde. Als Heinrich darauf eben-
fals nach dem walde kam, eilten ihm die jagdgenossen entgegen mit
der kimde von des königs tode. König Wilhelm ward in Winchester
76 HORTZSCHANSKY , GAHMURETS WAPPEN
begraben ; ritter Tirel aber entwich nach Frankreich , wo er in Chau-
mont noch lange lebte.
Uhland hat , um die poetische wirkling zu verstärken und zu ver-
tiefen , und um die ballade dem Charakter des Volksliedes möglichst
anzunähern , den prosaischen und für den verlauf der handlung gleich-
giltigen zug, dass dem prinzen Heinrich die bogensehne gerissen ist,
ganz getilgt , und statt dessen die echt poetische motivierung erfunden,
prinz Heinrich habe mit dem vom köuige ihm zugeteilten pfeile nicht
gemeines wild der niederen, sondern nur königliches der hohen jagd
erlegen wollen. Deshalb hat er den lezten drei strophen seiner ballade
ganz abweichend von dem berichte seiner quelle folgende fassung
gegeben :
Prinz Heinrich ritt im Wald umher,
Viel Eeh' und Hasen er fand:
„Wohl traf ich gern ein edler Wild
Mit dem Pfeil von Königs Hand."
Da reiten schon in ernstem Zug
' Die hohen Lords heran;
Sie melden ihm des Königs Tod,
Sie tragen die Krön' ihm an.
„Auf dieser trauervollen Jagd
Euch reiche Beute ward :
Ihr habt erjagt, gewaltger Herr,
Den edeln Leopard."
Den lezten beiden Zeilen gibt Eichholtz (s. 35) die deutung: „Die
vergleichung Wilhelms mit einem leoparden erklärt sich wol am ein-
fachsten aus seinem beinamen „derEothe" (li Reis Eos, Wace 14490)."
Eichtig zwar bemerkt Heinrich Düntzer hiergegen (Uhlands bailaden
und romanzen. Leipzig 1879 s. 191): „Der leopard deutet nicht, wie
Eichholtz meinte, auf könig Wilhelm, sondern auf die königswürde " ;
er verabsäumt jedoch, nachzuweisen, dass der hauptfehler in Eich-
holtzens erklärung ein logischer ist, weil ja doch nicht prinz Hein-
rich, sondern ritter Tirel, oder wie Uhland ihn nent Titan, den könig
getötet hat. Und wenn dann Düntzer weiter als eigene erklärung noch
hinzufügt: „dass als edelstes tier hier nicht der löwe, sondern der leo-
pard , das schönste aller raubtiere , genant wird , hat wol besonders der
reim veranlasst; doch ist die wähl des leoparden als eines seltener
genanten tieres auch des vollem tones wegen sehr glücklich"; so ver-
fehlt er das wirklich richtige doch kaum weniger als der von ihm
getadelte Eichholtz, weil aus seiner erklärung ja gar nicht abgenom-
SRKHER , I.AIRNBRICHTE BET WOLFRAM 77
inon wpvdpn kann, wio so (l(Min loopard oder lüwe sinl)il(l der königs-
würde sein müssp.
Vielmehr will Uliland ganz oinfaeb im stilo dor volksmässigen
ballade, in schliclitoster ausdrueksweise und mit den woni«^steii wovten
sagen : prinz Heinrich hat es versclimäht mit dem königlichen pfeile
niederes wild zu schiessen, hat vielmehr den königlichen pfeil auch
für königliches wild der hohen jagd aufgespart. Ein solches hat er
/war niclit selbst mit diesem pfeile geschossen, dennoch aber ist es
ilini durch fügung des Schicksals zu teil geworden als Jagdbeute, und
zwar grade das höchste königliche wild, der leopard, das Wappentier
des englischen königswappens, und mit diesem natürlich auch die königs-
würde selbst.
Da nun des leoparden weder gedacht ist in der erzähluug bei
Wace, noch bei Ordericus Vitalis, noch auch bei Matthaeus Paris, so
muss Uhland selbst diesen zug aus eigener erfindung seiner ballade
eingefügt haben; es muss ihm demnach aus Matthaeus Paris oder aus
irgend einer anderen quelle bekant gewesen sein , dass bereits damals
der leopard das Wappentier des englischen königswappens war.
HALLE. HORTZSCHANSKY.
DIE LAIENBEICHTE BEI WOLFRAM.
Als rutes tver (457, 3) des jungen Parzival forscht Trevrizent,
ivaz (Parzival) kumhers unde sünden hat (467, 21); und nachdem er
dies erfahren und Parzival zur reue und busse bewogen hat, löst er
ihn, obwol selbt ein laie (462, 11) von seinen sünden:
501, 15 fg.: Parzival die sivcere
truoc durch süeziu mcere,
wand in der tvirf von sünden schief.
und 502, 25 fg.: . . gi^) mir din sünde her:
vor gote ich hin din wandeis tver.
und leist als ich. dir hän gesagt.
Ebenso beichtet im Willehalm Vivianz einem laien, nämlich seinem
oheim, dem markgrafeu Willehalm (65, 24 fg. und 69, 11).
Indem wir im nachfolgenden die frage erörtern , welche bewant-
nis es zur zeit Wolframs mit der laienbeichte hatte , richten wir unsere
bemerkungen gegen San-Marte, der in der Germania (YHI s. 421 fg.)
unter der Überschrift: ,,Vergleichung von Wolframs Parzival mit Albrechts
Titurel in theologischer beziehung " auch über „ beichte und Sündenver-
gebung" spricht, wobei ihm mehrere Unrichtigkeiten unterfliessen.
78 SEEBER
San-Marte scbreibt an der citierten stelle (s. 441): Petrus Lom-
bardus „äussert sieb: vor allem müsse man gott seine Sünden beken-
nen und dann dem priester, wenn gelegenbeit dazu da sei, aber der
priester habe uicbt die gewalt, selbst zu lösen und zu bin-
den, sondern zu erklären, dass gewisse menschen gelöst oder
gebunden seien."
Dieses citat hat San-Marte nicht mit angäbe der stelle gebracht,
und natürlich ; denn im ganzen Lombardus findet es sich nicht , son-
dern sein gegeuteil, und zwar erklärt der Lombarde (sent. 1. IV dist.
17. D) zuerst: „qnod non sufficit soli Deo confiteri, si tempus adsit,
si tamen possit"; dann bemerkt er (ibid. dist. 17, a. 3. E) wörtlich fol-
gendes: „Sane hoc potest dici, qnod sacerdotis exameu requirendum
est studiose: quia sacerdotibns concessit Dens potestatem ligandi
atque solvendi. Et ideo, quibus ipsi dimittunt, et Dens dimit-
tit." cet.
San-Marte fährt fort: ,,Da hiernach (!) die teilnähme des prie-
sters nicht notwendig war, so nahm man keinen anstand, auch laien
zu beichten. Auf diesem dogmatischen Standpunkt steht Wolfram, den
er mit Walther von der Vogelweide {?), Freidank (?) und Guiot von
Provius (?) teilt, dass die eigentliche vergel)ung der sündenschuld nur
allein von gott, nicht von papst oder priester ausgehen könne, wie
er dies beim zerbrechen des Schwertes Parzivals im kämpfe
mit Feirefiz ausdrücklich ausspricht." — Wir sind nicht in
der läge, diesen „ ausdiücklichen ausspruch" Wolframs finden zu können.
Die angezogene stelle 744, 14 fg. würde nur beweisen, dass San-Marte
sündenschuld und strafe verwechsle.
San-Marte sagt weiter: „Thomas von Aquin und ferner Duns
Scotus und Bonaventura . . . verwarfen die laienbeichte als völ-
lig unwirksam." — Ich bin in der läge, wider das gegeuteil zu
beweisen , natürlich mit Stellenangabe :
Thomas von Aquin lehrt (Summa theol. supp. 9. 8. a 2. o):
„in necessitate etiam laicus vicem sacerdotis supplet, ut ei confessio
fieri possit." und (ibid. ad 1) : „ confessio ex defectu sacerdotis laico
facta sacramentale est quodammodo, quamvis non sacramentum per-
fectum, quia deest ei id quod est ex parte sacerdotis"; und extra casum
necessitatis talibus datum est, peccatum veniale remitti, sicut per tun-
sionem pectoris et aquam benedictam.
Petrus Lombardus lehrt dasselbe an der schon citierten stelle
(sext. 1. IV dist. 17. a 3. E.).
Ebenso Bonaventura (in 4. dist. 17. 9. 3. dub. 1. in a. 1. 9. 1.).
„ Duns Scotus (in 4. dist. 17. a. 3.).
LATENREICHTE BEI WOLFRAM 79
Ebenso Laufranc (de celebr. corf.).
Albertus Magnus (in 4. dist. 17. a. 58.).
„ Alexander Hallensis (suuini. )). IV. 9. 19. niembr. 1.
a. 1.) usw.
Eine menge beispiele von solcben laieubeicliten bat Martene (de
antiqu. eccl. ritib. tom. 1. 1. 1. c. G. a. 6) zusammeugestelt. Übrigeus
baben sich im vollce manche scherzhafte anekdoten über dieselbe erhal-
ten: z. b. im Pusterthale in Tyrol. So wenn eine bäuerin in eingebil-
deter gefahr ihrem maune gewisse delikate dinge beichtet („ich habe
den Jörgl nicht ungern gesehen!"), worauf dann der Zuspruch des ehe-
inanns lautet: „Säss' ich jezt nicht an gottes statt hier, würd' ich dich
liberschlagen !" u. ähnl.
Fragen wir nun , was nach den oben angeführten theologen , also
nach der katholischen tlieologie des mittelalters , von der laienbeichte
galt, so können wir folgende punkte hervorheben:
a) Mehrere, und unter diesen Bonaventura (sermo 8 in dieb. Rogai),
behaupteten : dass in casu necessitatis — ■ bei abwesenheit eines
priesters, aber bei gegenwart eines laieu , sogar die pf licht
bestehe, diesem laien zu beichten;
b) diese beichte sei jedoch kein Sakrament, imd der laie könne nicht
eigentlich absolviren ;
c) vielmehr erteile in diesem falle Christus, der unsichtbare hohe-
priester, — „si tamen dignus venia ex sacerdotis desiderio,
qni crimen confitetur socio" (Petr. Lomb.) — , die lossprechung;
d) jedoch so, dass der der gefahr entronnene gehalten ist, diesel-
ben Sünden später auch noch dem priester zu beichten;
e) in bezug auf lässliche Sünden wirke die laienbeichte, wie ein
andres sakramentale.
Für die jeztzeit behaupten die theologen, dass es nun nicht
mehr erlaubt sei, einem laien zu beichten, weil eben die gründe fort-
gefallen, die eine laienbeichte für die damalige zeit zulässig erscheiuen
Hessen, (cfr. Hurter, Tlieol. dogm. comp. t. III. s. 404. Oeniponte 1878.)
Wenden wir nun diese punkte auf die stellen im Parzival und
Willehalm an: so gibt San-Marte, was den leztern betritt, selbst zu,
dass es sich hier um eine notbeichte handelte; überdies hatte Vivianz,
wie der dichter betont (Willeh. 67^ 5) nur ganz geringe fehler an sich.
Aber wie steht es mit Parzival und Trevrizent?
Heisst es hier 499, 20 nicht ausdrücklich : „du freist swuo groze
Sünde"? Gewiss! — Wir würden freilich glauben," dass diese zwei
Sünden (Ithers uud seiner mutter tod) Parzival persönlich nicht allzu-
sehr zu imputiren wären — aus vielen gründen — ; aber Trevrizent
80 SEEBER, LAIENBEICHTE BEI WOLFRAM
nent sie einmal „grosse sünden" iu irgend einem sinn: und so wollen
wir dabei stehen bleiben.
In diesem falle muss (nach der Lehre der theologen) ein casus
necessitatis vorhanden sein. Ist dem so?
Dieser liegt wirklich vor. Denn nach der ganzen Ökonomie des
gedieh tes miiste Parzival von Trevrizent bekehrt und gereinigt
scheiden: Priester war keiner da : darum beichtete er Trevrizent , dem
einsiedler.
Aber erhält er nicht von diesem eine wirkliche lossprechung?
San-Marte sieht selbst ein, dass von einer solchen im gedieht nicht
die rede sei.
Was bedeuten dann aber die verse:
502, 25 fg.: . . gij^ wir dm sünde her,
vor gotß ich hin dm wandds wer. ?
Wer die Unterredung Trevrizents mit Parzival verfolgt, wird erken-
nen , dass sich alle ermahnungen des einsiedlers darum drehen , Parzi-
val zur reue und zur busse (insofern diese genugtuung ist) zu bewegen:
499, 27: nim huoz für missewende.
Parzival tut nun wirklich busse (501, 15 fg.), er fastet 15 tage
lang bei kräutern und wurzeln ; und da es nun zum scheiden komt,
spricht Trevrizent obige worte (502, 25 fg.).
Erinnern wir uns, dass Trevrizent für seine (458, 12) und des Anfor-
tas (480, 10 fg.) Sünden busse tut, so werden wir jene verse (502, 25)
ganz ähnlich fassen, und somit annehmen, dass Trevrizent von nun an
auch für die Sünden Parzivals vor gott sein wandeis wer durch die
busse sein wolle; freilich müsse dieser selbst auch noch genugtuung
leisten : und leist, als ich dir hän gesagt.
Daraus ist ersichtlich, dass Wolfram auch hierin mehr, als ein
oberflächlicher blick vermuten dürfte, auf dem Standpunkte der mittel-
alterlichen theologie steht, und dass die behanptungen San- Martes, mit
denen er den dichter zum „evangelischen ritter" schlagen will, zwar
sehr zuversichtlich, und ja auch begreiflich sind, aber jedes grundes
entbehren.^
INNSBRUCK, 10. MÄRZ 1880. JOSEF SEEBER.
1) So schätzbar diese belehruiig auch ist, lässt sich docli beweisen, dass
der gute Wolfram an dem, was er hier gesagt hat, völlig unschuldig ist, sondern
dass er hier wie überall nur seinem gewährsmanne Guiot getreulich gefolgt hat;
und andrerseits, dass der sehr gelehrte und in theologicis m-oI bewanderte Guiot
nicht nach den aufstellungen späterer scholastischer dogmatiker beurteilt wer-
den darf. J- Z.
LÜBBEN, FETISCH. HULFT 8l
F E T I S C H.
Nach Weigaiiil ist dieses wort (aus franz. f^tich) durch die 17G0
erschieuene schrift vuii des Brosses: „du culte des dieux fetiches" in
Umlauf gekommen.
Das wort komt indes schon 1(503 in der schrift von Leviuus Mul-
sins (Sehiftiihrt in das gokireiclie königreich Guineam. Frkf. a/M. 1603)
vor, wo es s. 23 heisst:
Wann die kinder ein monat oder zwey alt werden , so hencken
sie ihnen ein netz vmb den leib, welches gemacht ist, wie ein kinds-
hembdleiu , von basten oder rinden der bäume; dasselbe netz beheucken
sie allenthalben mit ihren fetissos, wie mit güldenen crucifixlein usw.
Die corallen aber oder fetissos, so sie dem kindt anhencken, achten
sie sehr köstlich vnd gut seyn, eins, sagen sie, sey gut für das bre-
chen, das ander für das fallen usw. Vnd dergleichen fetissos haben
sie gar viel, deren ein jegliches seinen eygenen nameu vnd besondere
tugend oder krafft hat.
S. 31. An ihren füssen haben sie viel Strohwische von röhren, die
sie nennen fetissos, von ihrer abgötterey.
S. 41. (Ceremonien beym weintrinken.) Im ersten zug darff er
den cabas nicht gar ausstrincken , sondern muss noch etwas drin lassen,
das schüttet er auss auff die erden , vnd saget : iou , als wollte er es
ihrem fetissos zu trincken geben , vnd so sie etwann etliche fetissos
an ihren armen oder füssen haben , dieselbigen bespreutzen sie mit dem
ersten trunck, den sie tun usw.
S. 69: Wann sie anfangen zu essen, so geben sie ihrem fetisso,
nemlich den strohwischlein, so sie an ihre beyne gebunden haben, den
ersten bissen usw.
S. 70: er (der könig) gehet zu einem bäume, den er für seinen
fetisso hält vnd thut daselbst ein opfter, bringende dem fetisso daselbst
zu essen vnd zu trincken , darnach schickt er den fetissero , seinen Zau-
berer, hin usw.
[Das wort stamt aus dem portugiesischen feitiyäo , Zauberei , wel-
ches sich aus lat. factitius ableitet. J. Z.]
H ü L F T.
In einer Urkunde von 1104 juui 5, ausgestelt von kaiser Hein-
rich IV ZU Mainz , betreffend den rheinzoll zu Koblenz (Hans. urk. von
Höhlbaum I, nr. 5), heisst es unter anderem: . . de regno Baldewini
venientes debent dare pellem arietis ad opertorium sellae, quod theuto-
nice dicitur hulft.
ZEITSCHR. F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XII.
82 LÜBBEN, JUDENSPIESS. LIESPPÜND
[Goth. hulistr, /.dlv/^ipa ; abd. hulß, hulf, hülst glossiert durch
supraseUa, Jiulcia, ulcia , hulcitum; mhd. hülst, hulft, hülle, decke;
im NibeluDgeuliede 1640, 1 von der decke des Schildes, den die mark-
gräfin dem Hagen schenkte :
Ein hulft von liehtem pfelle oh siner varwe lac.
Belege für das vorkommen des Wortes im alt- und mittelbochd.
sind gesammelt beiGraff 4, 880. Müller 1, 680\ Lexer 1, 1382. J. Z.J
JUDENSPIESS.
M. Heyne sagt unter diesem artikel im Deutschen wörterbuche
(4^, 2357), dass das bild „mit dem judenspiess laufen, d.h. unerlaub-
ten oder unmilssigen geldwucher treiben" niemals von eigentlichen
Juden gebraucht werde , sondern nur von Christen mit jüdisch - wuche-
rischer gesinnung. Mit dem ausdruck judenspiess wird indes, wenig-
stens in späterer zeit, algemein der geldwucher bezeichnet, besonders
wie er von den Juden selbst betrieben wird. Es gibt ein büchlein,
das den titel führt: Der verdammliche Judenspiess , Oder Kechtniässiges
und Historisches Bedenken von der Juden verdammlichen Geldwucher
usw. durch Christlieb Wucherfeind, 1688, 240 s. 8. In diesem heisst
es unter anderen , vorr. s. XI : Weil der meiste haufife (der Juden) mit
der Christen schweiss und blut sich bereichert . . so ist es zu diesen
zelten wol nötig, dass man das verdammliche Judenspiess aus dem
gründe an das tages Hecht bringe. (Bemerkenswert ist an dieser stelle,
dass das wort nach niederdeutscher weise als neutrum gebraucht wird.) ■
S. 113: Dieser Ursachen halber sind die Juden aucli am allermeisten
bey den Christen verhasset, weil sie mit ihrem verdammlichen Juden-
spiess den Christen gleichsam das mark aus den knochen brechen.
S. 115: sehr viele gottlose Christen, welche mit dem verbottenen Juden-
spiess lauffen.
Woher die redensart eigentlich stamt, lässt sich leider aus dem
buche nicht entnehmen.
LIESPFUND.
Darüber sagt Weigand 1, 951: „ein gewicht von 14 — 16 pfund,
Kichtiger lispfund. 1721 lisspfund. Aus niederl. (im käsehandel) das
lijspond , dän. und schwedisch (mit i = i) lispund, dessen Its dunke-
les Ursprungs ist."
Es wäre zu wünschen, dass jedes wort so klares Ursprunges wäre
wie dieses. Z*s ist nichts anderes als eine contraction von lives (oder
auch livcsch, wie rigcs und rigesch) , liefländisch. In hansischen, lief-
ländischen und anderen Urkunden, besonders ostseeischen, geschieht
dieser gewichtsart häufig erwähnung , lat. talentum livonicum , und wird
nicht bloss heim käsehandel , sondern auch beim handel mit anderen
waaren gebraucht, die in grösseren quantitäten verkauft werden. Es
ist ein gutes niederdeutsches wort, und die Schreibung lispfund, wenn i
kurz sein soll , ist nicht der Schreibung liespfund vorzuziehen , sondern
umgekehrt.
OLDENBURG, A. LÜBBEN.
83
LITTERATTTR.
1) Die prosa isclic Edda hu auszu<;-e nebst Vö 1 su uga- saga uud Nor-
nagests- tliiitt r. Mit aus führ liclic ni glossar herausgegeben von
Ernst Wilkeii. Thcil I: Text. Paderborn, Schöningh, 1877. 8. CVIII und
264 SS. M. G. — A. u. d. T.: Eibliothek der ältesten deut.selieu lit-
t e r a t n r - d 0 n k m ä 1 e r. XI. band.
2) Untersuchungen zur Snorra Edda. Als Einleitung „zur prosai-
schen Edda im auszuge" von Ernst Wilkeii. Paderborn, Schöningli, 1878.
8. 296 s. M. 6.
Später, als es mein wnnseh und meine absieht war, gelange ich zu einer
bespreclumg von Wilkens an der spitze dieses aufsatzes verzeichneten büchern. Die
Verzögerung findet ihren grund uud hoffentlich auch ihre entschuldigung in der
durch eine ausgedehnte neue tätigkeit gebotenen beschränkung. Ich hebe dies her-
vor, weil mir im algemeinen die kritische besprechung eines Werkes zu lange nach
seinem erscheinen nicht wünschenswert vorkomt. Sie verfehlt dadurch teilweise
wenigstens ihren zweck. Wenn ich trotzdem in dem vorliegenden falle deiu eben
ausgesprochenen satze zuwiderhandle, so veranlasst mich dazu ein zwiefacher grund,
ein sachlicher und ein persönlicher. Einmal ist der gegenständ , mit dem sich Wil-
kens bücher beschäftigen, von so hervorragender bedcutnng, dass eine eingehende
Prüfung und beleuchtung der vielen in ihnen enthaltenen neuen ansichten zur gebie-
terischen ptiicht wird. Man darf erwarten , dass die ausgäbe wenigstens , zu der
als wilkommene ergänzung ein ausführliches glossar in aussieht steht, vielfach von
anfängern wird benuzt werden, und es ist nur natürlich, dass unter diesen manche
die behauptungen der einleitung auf treu und glauben hinnehmen werden. Nach
meiner innigen Überzeugung aber und gewis auch nach der -der grossen mehrzalil
der fachgenossen ist gerade diese einleitung so durchaus und in allen wesentlichen
punkten verfehlt, dass es gilt, der Verwirrung, Avelche durch sie gestiftet werden
k(3nte, vorzubeugen, oder, wofern dies bereits zu spät sein solte, durch energischen
einspruch zu ihrer beseitigung beizutragen. Bis jezt hat nur Edzardi (Germ. 24,
352 fgg. : vgl. auch Litt. Centralbl. 1878, sp. 1448 fgg.) damit ernst gemacht. Denn
eine selbstanzeige (vgl. Gott, gelehrt, anzz. 1878, 8. 86 fgg. , 1217 fgg.) ist natür-
lich nicht die geeignete gelegeuheit für eine vorurteilsfreie kritik , die auch nach
den ausführungen Edzardi s noch keineswegs überflüssig scheint. Dies der sachliche
grund. Der persönliche wird für jeden leser der einleitung zur ausgäbe kaum
einer erörterung bedürfen. Der grössere teil dieser einleitung, der sich mit der
V(jlsuuga saga beschäftigt (s. VI — LXXXV) , gestaltet sich zu einer polemik gegen
meine Beitr. III , 199 fgg. veröffentlichten Untersuchungen über diese saga. Ich
glaube nun allerdings keineswegs, dass alle einzelheiten der genanten abhandlung
aufrecht zu erhalten sind, vielmehr hat mich fortgesezte beschäftigung mit den
einschlägigen fragen in manchem punkte zu einer von der früheren abweichenden
ansieht geführt. Um gleich hier eines zu erwähnen, so ist das Verhältnis der VqIs.
saga zur pidreks saga, wie ich schon anderwärts augedeutet habe (Jenaer Litztg.
1878, s. 540 anm.), falsch von mir beurteilt worden; ich stimme in dieser hinsieht
jezt den einweuduugen Storms Nye Studier over Thidreks saga s, 17 fgg. und Edzar-
dis Germ. 23, 75 anm. bei. Wol aber muss ich auch jezt noch die hauptresultate
meiner Untersuchung für richtig halten und glaube ich namentlich erwiesen zu
haben, was zu erweisen mein erster zweck war, dass gerade die samlung nor-
6*
84 SYMONS ,
rteiier heldenlieder aus dem Völsungensagenkreise mit eingestreuter prosa, die
eineu teil der sogenanten Siemnndar-Edda bildet, von dem Verfasser der Vol-
sunga saga als quelle benuzt worden ist. Wilken freilich ist anderer ansieht und
richtet gegen diesen teil meiner Untersuchungen in erster linie seine kritischen
pfeile. Obgleich ich nun des glaubcns bin , dass Wilkens neue theorie , der zu liebe
er die von mir vertretene verwirft, auf geringen beifall der fachgenossen wird rech-
nen dürfen, halte ich es doch für angezeigt, in kürze die gründe darzulegen, die
mich bestimmen, an meiner ansieht festzuhalten und die seinige zu verwerfen,
zugleich aber auch die punkte nicht zu verschweigen, in denen ich selber zu ande-
rer Überzeugung gelangt bin. Bedauern muss ich, dass Wilkens kritik zuweilen
eiuen gereizten und schulmeisternden ton anschlägt, zu dem ich meines wissens
keine veranlassung gegeben habe.
Von den beiden büchern Wilkens bildet das an zweiter stelle aufgeführte die
ergänzung des ersten. Dieses bietet die für den deutschen leser wichtigsten teile
der Snorra Edda: Gylfaginning, Bragartedur und die mythologischen und sagen-
geschichtlichen teile der Skäldskaparmäl , sowie V^lsunga saga und Nornagests pättr.
Die einleitung handelt nach einigen orientierenden werten über die hss. und aus-
gaben der SE ausführlich über die Vols. s. und den Np: den schluss derselben
bildet ein ,, Literarhistorischer überblick" (s. CHI — CVIII). Die einleitung zur SE
liegt in selbständiger fassung in den ,, Untersuchungen" vor. Diese Untersuchun-
gen beschäftigen sich allerdings nicht blos mit den in die ausgäbe aufgenommenen
teilen der SE , sondern mit dem ganzen werke, holen überhaujjt sehr Aveit aus und
ziehen teils in weit abschweifenden excursen , teils in sehr gehäuften und gedehn-
ten anmerkuugen, eine menge von fragen in die erörterung hinein, die nur in
sehr entfernter Verbindung mit dem gegenstände stehen. Dadurch wird das buch
sehr formlos, die benutzung ausserordentlich erschwert — glücklicherweise hilft in
dieser hinsieht das sorgfältig gearbeitete register (s. 290 fgg.) etwas — und die
lectüre wenig angenehm. Zu lezterem umstände trägt der stil des Verfassers das
seinige bei: er lässt an klarheit und einfachheit recht viel zu wünschen übrig, die
sätze schwellen öfter zu wahren rattenkönigen an, welche sich dann wol in ihren
eigenen schwänzen verwickeln. So finden wir I, s. XXVI, z. 20 — XXVII, z. 3 eine
reihe von Vordersätzen , zu denen der nachsatz in der feder geblieben ist.
Ich betrachte zunächst Vols. s. und Norn. ]>. Eine neue handliche ausgäbe
beider sagas war sehr erwünscht, da Bugges Norröne skrifter af saguhistorisk ind-
hold leider schwer zu beschaffen sind, der text in Fas. I aber nicht mehr genügt.
Da erklärende anmerkungen , deren namentlich die keineswegs leichte Vgls. saga
wol bedarf, nach dem plane der saralung ausgeschlossen waren, konte es sich nur
um einen guten text mit den nötigen Varianten handeln. Es empfahl sich deswegen
ein einfacher abdruck des Buggeschen textes. Für die Vs. hat der herausgeber
sich denn auch damit begnügt. Sein text dieser saga weicht von dem Bugges fast
nur ab in einigen kleinigkeiten der Orthographie und längebezeichnung, denen ich
meist beistimme; auch Bugges conjecturen, die dieser unter dem texte, in den
anmm. hinter dem texte, sowie auf dem Umschlag in den ,,tillaig og rettelser" gege-
ben hat, haben in den häutigsten fällen aufnähme gefunden. Die Varianten bieten
die lesart des Codex, wo im text von dieser abgewichen ist, etwaige nicht auf-
genommene, aber beachtenswerte conjecturen Björners, Rafns und Bugges, endlich
vereinzelt lesarten der papierhss. , denen man ja , wie Wilken s. VIII fg. ganz rich-
tig ausführt, den wert plausibler conjecturen nicht in allen fällen bestreiten kann.
Ich knüpfe hieran zunächst einige bemerkungen zu Wilkens text der Vs., wobei ich
ÜBKE PROS. EDDA ED. WILKEN 85
mir gleichzeitig zur bequcmlichkeit des bemitzers , die s. 263 fg. nicht erwähnten
druckt'ehler (aber nur, soweit sie den tcxt der saga berühren) zu bessern gestatte.
150, 1 shofint)!] 1. sköfiinii. 5 leitinnni] 1. leitinui. 32 frccndam] 1. fnen-
diim. 152, 15 bariiMokk] Wilken hat diese lesart im texte beibehalten, die nach
Bugges erläuterung in den AnruEerkniuger auch keiner änderung bedarf. In der
einleitung aber (s. XI , anm. 9) wird versucht , aus dem hötstokk der Vols. rim. 142
ein blöfstükk zu gewinnen. Diese conjectur ist verwerflich. Denn abgesehen davon,
dass Wilken hier und öfter den riniur eine bedeutung beilegt, die ilinen nicht
zukömt, wäre ein ,,oijferbaum" * hier wirkungslos. Der barnsfokkr dagegen, der
befruchtende bäum als symbol der fortpHanzung des heldengeschlechts , steht im
schönsten Zusammenhang mit der ganzen sage. Vgl. ausser Bugges anin. zu unse-
rer stelle auch MüllenhofP Zs. für deutsch, alt. 23, 119. — In c. 111 sind 153, 2 — 5
falsch geordnet, wie Bugge erkante. Man lese: sä maär var berfoMr ok hufäi
kn'jtt Unhröknm at beini ok hqtt sidan ä hqfäi, hann var harr" ritjqk ok cUilüjr
ok einüi/nn; sä maär hafäi sverd i hetidi, ok gengr at barnstokkinnin ; kamt bregctr
sveräimt usw. — 153, 32 hätte das von Bugge vorgeschlagene fjeri statt gerir in
den text gesezt werden sollen. — 154, 18 nä heür Vqlsungr kunungr ferdinni ok
koma ä nefndum degi] die conjectur ok vill koma ist unnötig : solche ungenauig-
keiten der construction kennen alle älteren sprachen. — 159, 18 ist Bugges hüb-
sche besserung ofrlidi für das überlieferte öfridi meiner ansieht nach trotz der
bemerkungeu Wilkens s. X fg. unbedingt aufzunehmen. Sigmund und Sintjötli
trennen sich von einander unter der Verabredung, dass jeder von ihnen es mit
sieben oder weniger leuten aufnehmen solle, ohne den andern zu hülfe zu rufen;
sobald er aber auf mehr als sieben leute auf einmal stosse , solle er rufen [en sä
läti x'dfsrqdd, er fyrir ofrlidi tjrdi). ofrlid bedeutet hier also eine Übermacht in
relativem sinne, eine zahl von mehr als sieben feinden. Sigmund trifft sehr bald
leute und ruft den söhn, der sie alle tötet. Wie viele leute Sigmund trifft, müs-
sen wir erraten , da das Zahlzeichen in der Hs. verwisclit ist. Bugge meint acht,
und dies wäre ja der Verabredung gemäss. Mit recht macht aber Wilken auf den
späteren vorwarf Sinfjötlis aufmerksam (160, 1), dem zufolge Sigmund gegen die
Verabredung nur auf sieben leute gestossen sei und doch um hülfe gerufen habe.
Müllenhoff Zs. für deutsch, alt. 23, 131 glaubt sogar, es seien noch weniger als
sieben gewesen. Gewiss ist, dass es Sigmund nur auf eine Versuchung Sinfjötlis
ankomt, und dadurch erledigt sich der einwand Wilkens gegen Bugges conjectur,
der es befremdend findet , dass Sigmund dem Sinfjötli zumuten solte , es allein mit
sieben aufzunehmen, während er selbst in einem solchen falle schon hülfe verlange.
— 163, 16 riduvi] 1. ridu. — 164, 1 fegrum] 1. fqgrum. — 164, 14 wird Gnipa-
lundi mit kurzer erster silbe herzustellen sein. Nach den von Sievers für den kvi-
duhättr gefundenen gesetzen muss jedesfalls Helg. Hund. I, 31^. 85 ^ 41*'. 51® Hild.
so gelesen werden (vgl. Beitr. 6, 314). — 164, 25 fgg. ist natürlich statt des feh-
lerhaften Granmarr der Hs. , das Wilken beibehält, überall Gadmundr zu lesen,
wie die quelle des capitels, das erste lied von Helgi dem Hundingstöter, bietet. —
167, 26 fgg. kann [EijUmi] pgkkiz sjä, at peir [Sigmimidr ok Lgugci] mnnio eigi
1) Überdies ist wol blöttrc belegt, auch dies nur ein einziges mal (Vigf. 71*),
hlötatokkr aber gar nicht.
2) So (grauhaarig) und nicht hdr (hoeh) , wie Fas. , Bugge und Wilken haben,
lese ich wegen des folgenden elUligr. Ebenso möchte ich, unserer stelle entsprechend,
in cap. 42 (2)0, 13 W.) nicht mit Bugge hdr, sondern hdrr ergänzen.
hafa eitt erendi] In der anm. wird vermutet munu eiga eitt erendi. Durch diese
äiiderung würde aber der sinn zerstört. Es soll nicht heissen : „König Eylimi
glaubte einzusehen, dass sie beide dasselbe im sinne hätten." Das weiss er ja
längst. Vielmehr heisst es ironisch: ,,E. glaubte einzusehen, dass Sigmund und
Lyngvi nicht beide den von ihnen verfolgten zweck erreichen könten, m. a. w. dass
sie nicht beide zugleich die Hjördis würden heiraten können." erendi ist hier nicht
die „botschaft," sondern „der zweck der botschaft," wie in der eddischen formal
hafa erindi sein erfidi prymskv. 9. 10, vgl. Helg. Higrv. 5, und dem prosaischen
ausdruck fara eyrendlaust ,,to go in vain" (Vigfüsson 136*). — 168, 7 keim]
1. heim. — Ob 169, 13—15 mit recht eine Ijoflahättr-halbstrophe hergestelt ist,
ist doch sehr die frage. Das ganze gespräch zwischen Hjönlis und dem sterben-
den Sigmund ist unverkenbar die paraphrase eines liedes (Beitr. III, 299 f. Müllen-
hoff a. a. 0. 137) , aber dass der sagaschreiber aus einer und derselben rede Sig-
munds die eine halbstrophe wörtlich citiert, die andere aber in prosa umschrieben
haben soll, ist wenig glaublich. — 171, 27 f. muss für das erste varäveittu not-
wendig der Gonj. vardveitti gelesen werden. — 171,33 hcstaveinyi] \. hestasveinn. —
172, 22 f Beginn »varar: sä heitir Fäfnir, er her liggr skamt heäan ä hrott , pat
heitir GnitaJieiär] Bugge fragt: ,,er her rigtigt?" Eher glaube ich, dass pat
unrichtig und in par er zu bessern ist. — ■ 175, 9 ok ek mega vinna'] 1. mega med
V. — 176, 10 astscBlli] 1. ästscelli. — 177, 3 röärtC] 1. roärii. — 179, 10 sitt] 1. sit. —
27 af hverju undri ertu alinn] 1. ertu pä alinn, vgl. aber auch Fäfu. 3=. — 182, 7
und 183, 18 sind mit Bugge nach E zu bessern: zu ersterer stelle hat W. in den
anmm. darauf hingewiesen, zu lezterer nicht. Dort hat der codex der Vs. at par
svaf madr ok lä med qllum herväpvium , während R richtiger bietet la maär ok
svaf. — 191, 4 färr] 1. fär. — 31 mansins'] 1. mannsins. — Auf s. 194 sind die
zahlen, die nach den anmm. verweisen, in Verwirrung geraten. Zu z. 30 velmentr
5) füge in der anm. hinzu 5) vel mentr B. — 197, 9 ok hafdi ofr fjär] W. ver-
mutet of. Vgl. aber Vigfüsson 464", wo unsere stelle übersehen ist. — In den
beiden Strophen 199, 1 fgg. sind folgende änderungen metrischer art erforderlich:
2 streich en; 4 himni] 1. himin, verschleift auf der Senkung ; 12. 14 fyrir] 1. fyr
(vgl. Sievers, Beitr. 5, 479 fgg. 6, 317 fg.). — In der 202, 4 fgg. angeführten
Strophe wird in der ersten zeile Sigurdr im Zusammenhang des liedes nicht gestan-
den haben; in der zweiten ist wol en zu tilgen. — 205, 21 Brynkildr svarar:
eigi sä ek svä Gunnar, at minn hugr hlceja vid hänum usw.] Bugges änderung se
statt sä ist notwendig, nicht blos, wie Wilken meint, wegen des folgenden conj.
praes. , sondern mehr noch des sinnes wegen, wie er aus Sig. sk. 10 erhellt, se ist
futurum. — 205, 24 sem äst se] 1. sem hans äst se. — In der strophe auf s. 206,
die übrigens den regeln genügt, nmss in z. 5 für svä at die ältere form svät ein-
gesezt werden. Vgl. Beitr. 5, 477 fgg. 6, 317. — 210, 27 fgg. hätte Bugges inter-
punction beibehalten werden sollen. Auf derselben seite ist in anm. 5 statt ridi B
zu lesen ridir B. — 212, 23 set] 1. sat. — 213, 15 skjqldu] 1. skjqldu — 214, 1
vildii] 1. vildu. — Schwierig ist die stelle 214, 4 fg. sä drykkr var blandinn med
jardar magni ok stc ok dreyra sönar. Der Codex liest dreyra sonar hennar. Die
stelle umschreibt Gudr. II, 22^ — « (= Hyndl. 38), und Bugge erklärte den text der
saga als misverständnis von dem ok sönar (sonö R) dreyra der vorläge. Dieser
auffassung hat sich Wilken , wie auch ich (Beitr. 3, 239) , angeschlossen. Der ver-
langte sinn scheint jeden zweifei darüber auszuschliesson. Nun hat jedoch neuer-
dings Sievers Beitr. 6 , 315 darauf hingewiesen , dass an beiden stellen der lieder-
samlung der vcrs ein verschlcifbares wort verlangt^ und meint deswegen, dass die
ÜBER PHOS. EDDA ED. WILKEN 87
angäbe der Vs. ,, keineswegs , wie man gewöhnlich anninit, zu verwerfen ist." Mei-
ner ansieht nach darf uns die metrische Schwierigkeit in den beiden stellen der
liedersaniluug nicht dazu verführen, die lesart der A^s. zu adoptieren, die unsinn
ist und bleibt. Eher wäre Gudr. II, 22 s und Hyndl. 38* ok zu tilgen, oder man
muss annehmen , dass die otlcnbar alte forme! den anforderungcn der jüngeren
motrik erfolgreichen widerstand geboten hat. Allerdings soll nicht geleugnet wer-
den, dass auch sönnrclreyra nur dann befriedigen köntc, wenn man es erklären
dürfte als ,,sonnenstrom " (vgl. Grundtvig, Edda^ 214*'). denn die gewöhnliche
erklärung „sanguis piacularis" (Egilsson lex. poet. 762"), „blood of atonement"
(Vigfüsson dict. 580") kann in der Verbindung mit erde und meer nicht richtig
sein.* Änderungen in sunnu, solar usw. liegen sehr nahe, sind aber überaus
bedenklich. Der text der Edda kann richtig sein, darf jedesfalls nicht vorschnell
verurteilt werden. — 217, 25 meämi] 1. meäan und 28 hröäur] 1. broäur. — 219, 24
Sncevttr] 1. Sncevarr. — 221, 31 henta] 1. liaräa. — 222, anm. 9 elnnC] 1. emiQ. —
225, 3 svärar'] 1. svarar. — 225, 11 min vili] 1. ininn vili und stelle in den anmer-
kungen anm. 12 und 13 um. — 227, 7 u. ö. wird Hamdir geschrieben. Weshalb
die Orthographie des namens mit ä verlassen ist, die durch die etymologie gefor-
dert wird (vgl. auch Bugge in dieser Zs. 7, 394. 99), ist nicht gesagt. Wünschens-
wert wäre es auch gewesen, überall Bandver zu schreiben als namen von jQrmun-
reks unglücklichem söhne. Der Cod. der Vs. hat die folgenden formen: nom.
RanducR (W. 227, 10), Randverr (227, 19), gen. Bandvers (227, 28), acc. Bundve
(228, 7). R bietet Bandver, acc. Bandve (Bugge 311, 12. 15). Von den perga-
menthss. der SE gibt 1 eß (SE AM II, 575) zweimal den nom. Bandver, sowie je
einmal den acc. und dat. Bandve; r scheint einmal den nom. Bandverr und ein-
mal Bandver, den acc. Bandve zu haben, doch ist absolutes zutrauen zu den bis-
herigen ausgaben der SE nicht möglich. Im grossen und ganzen empfiehlt die
Überlieferung jedesfalls die Schreibung Bandver: keinesfalls aber dürfen, wie es
bei Wilken der fall ist, ein nom. Bandverr und ein acc. Bandve gleichmässig in
einen normalisierten text eingang finden. —
Einige stärkere abweichungen von Bugges text hat Wilken sich in den citier-
ten eddischen stropheu gestattet, namentlich der Sigrdrifumäl. Ich übergehe sie
hier , da sie der saga nicht eigentümlich sind. Sigrdr. 19 ' heilum] 1. heülum. —
Von den nur in der saga überlieferten Strophen ist bereits die rede gewesen.
Auch für den Nornagestsliättr wäre ein einfacher abdruck von Bugges text
sehr empfehlenswert gewesen. Bugge hat seiner ausgäbe den Cod. AM 62 (S) zu
gründe gelegt , dessen texte er mit recht den Vorzug einräumt vor dem der Flatey-
jarbök (P)."^ Ich wüste nicht, dass die ansieht von Bugge Widerspruch erfahren
hätte, obgleich sie mehr behauptet als bewiesen ist (s. Norr. Fornkv. XLI). Die
Sache liegt aber in der tat so einfach, dass Bugge mit recht einen beweis für
überflüssig halten konte. Wilken ist jedoch anderer ansieht. Er gesteht zu, dass
S und F auf „dieselbe vorläge zurückweisen," und dass S „gewöhnlich im rechte
zu sein scheint." (s. LXXXVI), Der einzig mögliche methodische schluss , solte
man meinen, wäre demnach, dass S der gemeinsamen vorläge näher steht als F
1) Dasselbe bedenken habe ich auch gegen die deutung von Edzardi Germ. 23,
339 , der an Sdn, eins der gefässe des dichtermethes denkt.
2) A, die der ausgäbe des pättr in den Fas. I, 313 fgg. zu gründe liegende hs.,
ist abschrift Ton F : ihre lesarten haben also höchstens den wert von conjecturen
(Wilken LXXXV).
und deragemäss einer ausgäbe zu gründe gelegt werden mu.ss. Nicht so Wilken.
Er hat es trotzdem vorgezogen, ,,in F (A u. w.) die altberechtigte vulgata der
Überlieferung anzuerkeanen, S dagegen nur in einzelnen, wenn auch nicht ganz
seltenen fällen zur correctur heranzuziehen." (S. LXXXVIII). Hören wir seine
gründe. Es sind ihrer zwei. Der erste stüzt sich auf die Überlieferung der lieder-
citate, die ja gewiss die sicherste grundlage für eine handschriftenuntersuchung
bilden. In ihnen stimt in einer anzahl von fällen S zu E, während F abweicht.
Jeder wird zunächst diesen umstand zu gunsten von S in die wagschale fallen las-
sen : Wilken aber sieht hierin keine bewahrung des ursprünglichen , sondern ,, ein
nachträgliches ausgleichungsverfahren," da die abweichungen des Np sich durch den
einfluss mündlicher tradition erklären. Ich halte es für angezeigt, die ganze frage
über die Überlieferung der liederstrophen in Np etwas genauer ins äuge zu fassen.
Bekantlich citiert der Verfasser ausschliesslich strophen der Eeginsmal (str. 13 — 26
Hild.) und die ganze Helreid Brynhildar mit ausnähme der halbstrophe 6.
In einer sehr grossen anzahl von fällen weicht der gemeinsame text in SF
von dem des Eegius ab. Während Bugge fast überall den lezteren für den echte-
ren und ursprünglicheren hält (Norr. Fornkv. XLIII) , kann Wilken s. LXXXIX fg.
sich dieser auffassung nur hinsichtlich der Eegm. anschliessen , glaubt aber, dass
in Helr. Brynh. der text von Np in mehreren fällen den vorzug verdiene. Es tra-
gen indes die abweichungen in Eegm. und Helr. durchaus den gleichen Charakter:
der text des Np ist durchweg planer, verständlicher, einfacher, weniger gekünstelt,
er vermeidet die kenningar, ebnet die skaldische auseinanderreissung der werte.
Aber ist er darum auch älter? Bugge hat mit recht darauf hingewiesen, dass der
Verfasser der saga seine Überlieferung der eddischen strophen teilweise wenigstens
aus der volkstradition geschöpft hat, und Wilken teilt diesen Standpunkt.' Der
text des Nfi repräsentiert für uns also, wenigstens teilweise, die gestalt, die die
lieder im munde des volks angenommen hatten. Gerade wer, wie Wilken es, frei-
lich in übertriebener weise, tut (vgl. Gott. gel. anz. Mai 1877, st. 21. Untersuchun-
gen cap. VII), eine feste grenze zwischen eddischer und skaldischer dichtung leug-
net, wird es begreiflich finden, dass der volksmund sich bestrebte, das skaldische
und ihm unverständliche aus den sog. Eddaliedern nach kräften zu entfernen. Oder
wird es jemand bezweifeln wollen, dass auf Island der skaldenkunst ebensogut eine
volkstümliche poesie zur seite ging, wie der mhd. höfischen lyrik eine volkslyrik
1) Allerdings hat der Verfasser des NJ) auch unsere liedersanilimg in schriftlicher
aufzeichnung benuzt, oder doch wenigstens den teil derselben, der als Siguröar saga
(vgl. NJ) Bugge 65 , 5) wol früher selbständig bestand. Auf diesen von Wilken gänz-
lich verkanten umstand komme ich weiter unten zu sprechen. Einzelne fehler in der
Überlieferung der liedercitate beruhen denn auch auf lese - oder Schreibfehlern. Ausser
dem von Bugge ausgeführten hafri {Jiäfar E) unnar Regm. 16 ^ ist namentlich bewei-
send Helr. Br. 8^ «' GodpjoSn R, das die vorläge von SF verlas zu d goß pordu. So
hat S, während F ganz wilkürlich yygjar brdSttr hergestelt hat. Wüken scheint aber
wirklich die lesart von F für richtig zu halten, die von S dagegen „für eine verfehlte
anlehnung an R." (s. LXXXVII). Weswegen hat dann der Schreiber von S nicht gleich
die richtige lesart von R aufgenommen.* und was berechtigt uns anzunehmen, Hjälm-
gunnar sei der brudcr einer riesln gewesen? — Als überlieferungsfehler betrachte ich
auch Regm. 20 ^ af hrotta mcida hrapi SF] at hrottameibi hrafns R; Regm. 25 ^ kennaz
SF] kmnna'R; 25^ af minneF , af minnum S] atmorniR; Helr. 12 ^ hvarki S , Auor/ci F]
hvdrtki R; 12» enn at SF] okkart R. Vielleicht auch Helr. 1«. 5=^.
ÜBER PROS. EDDA ED. WILKEN 89
oder der lueistersingerei das Volkslied? Wie die einfachere kuiist des volks die
gekünstelte skaldendichtung nicht ohne glüek zu ebnen gesucht hat, werden einige
beispicie veranschaulichen :
R
SF
1. 14 •'• «
' prymr um qll Iqnd
frcegr um Iqnd qll
erlqg - simu
af (med F) loß i
iinu
16 5. C
' seglvigg eru
eru segl ydr
sveita stokkin
sjövi stokkin
16'
vägmarar
väpnaäir
17 -^
ä satream
ä sjä komnir
25*
ösyiit
övist
2 5 fgg.
pil he fr, vär gulls!
ef [pik] vita lystir
pii liefr vqrgum
mild af liq}idum
meini blandat
manns blöd pvegit
(mqrgnm til matar
F)
Helr.
manns hlöd gefvt.
Helr. str. 6 ist in ihrem ersten teile ganz geändert: in dieser volksmässigen Umge-
staltung darf man aber keineswegs mit Wilken s. LXXXIX anra. 10 das echte
suchen. Ebenso verhält es sich mit andern stellen , in denen Wilken das ursprüng-
lichere auf Seiten des Np sieht. Str. 1 ^ hat allerdings Hildebrand värra ranna SF
{vers annarrar R) aufgenommen , aber gewis mit unrecht. Der Vorwurf, dass Bryn-
hild noch auf dem weg zur Hei dem gatten einer andern nachläuft, darf nicht
fehlen. Wäre die lesart von SF die alte, so würde 2, 1 fgg. sie nur müssig wider-
holen. — 2^ halte ich das vd alundi (oder vä ä landi?) in N{) für einen über-
lieferungsfehler. R hat af Vallandi, allerdings eine ,,crux interpretum ," die man
aber, kritischer als Np, nicht einer wilkürliclien besserung oder einem blossen
Schreibfehler zu liebe aufgeben solte. Vgl. übrigens MüllenhofF Zs. für deutsch,
alt. 23 , 166. — Und ebenso erledigen sich die übrigen einwände Wilkens s. XC
aus der angegebnen betrachtungsweise. *
Durchweg weichen SP gemeinsam von R ab. In einigen fällen stimmen SR
gegen F: im ganzen 27 mal, 13 mal in Regm. und 14 mal in Helr. Es verlohnt
sich der mühe, diese fälle genauer zu betrachten. Wo der fehler in F auf der
band liegt, erspare ich mir jede weitere bemerkung. '^
Regm. 132 konr Sigmimdar SR] sonr F. Str. 14 ^ haben SRP Yngoa konr.
Gewiss ist dieses poetische wort, das bald veraltete (vgl. Vigfüsson dict. 350^),
auch hier das ursprüngliche.
13 ö en madr gamall SR] en ek madr gamall F. ek zerstört den vers und
ist mehr denn überflüssig.
13 '• •* (ok) er vier fangs vän at frekiim ülfi SR] af fr. ü. F.
15^ en hefiid fqäur SR] hefna F. Der vers verlangt ein einsilbiges wort.
1) Die bemerkungen Edzardis Germ. 23, 413 fgg. zu Helr. Brynh. habe ich hier,
wo es sich nur um die Überlieferung des NJ) handelt, unberücksichtigt gelassen. Mit
der erklärung von nf T'allandi s. 417 kann ich mich nicht befreunden.
2) Sievers gesetze für den kviöuhättr, die er in seinen „Beiträgen zur Skal-
denmetrik" (Beitr. 5, 449 fgg. 6, 265 fgg.) entwickelt hat, haben sich mir hei sorg-
fältiger nachprüfuug für die jüngeren lieder der Edda in allem wesentlichen als unbe-
streitbar ergeben. Ich glaube deswegen das recht zu haben, sie als kritisches hilfs-
mittel zu benutzen. Auch führe ich überall stillschweigend die metrisch erforderlichen
kürzeren formen ein.
90 SYMONS
.16* liaf SR] liafi F, unmöglich.
18^ Unikar hetu mik SR und Cod. der VqIs. s.] hetö (i. e. hetum) mik F.
Das ursprüngliche war hetumk.
21^^ täi SR] ä rä i F.
23 3 skinundi SR] sitjandi F.
23 ö er SR] sem F, die jüngere ausdrucksweise.
25^ /war at aptni {apni R) /cewr SR] hoat er a. k. F.
26'^ bitrum hjqrvi SR] breidum hjqrvi F, was Wilken aufnimt. Gewis sind
beide epitheta möglich , aber ebenso gewiss ist das erstere origineller und deswegen
ursprünglicher. Auch mhd. heisst der kämpf, der streich, das schwert bitter (Lexer
1 , 287) ; so braucht das wort auch die ältere epische spräche der germanischen
Völker: Beow. 2704 fg. u. ö. Für das an. vgl. noch Egilsson lex. poet. 55^
26 ß säs fold rydi SR] ridur F.
Helr. Brynh. 2^ ef [pik] vita hjstir SR] ef Jnn vitja F. Vgl. 5*. 7 6. Die
lesart von F erklärt sich durch Verwirrung mit 1 ''. 2^.
3'- ^ hvars menn edli okkart kimna R, pars edli menn okkat kunnu S]
peims edli mitt um kunna F. Von allem andern abgesehen wird durch die lesart
von F die lezte zeile um eine silbe zu kurz.
4^ pii hefr Gjtika SR] Gjüka fehlt F.
1 ^ ef [pik] vita lystir SR] ef pess vita lystir F. pik ist freilich ebenso
wenig ursprünglich yvie pess, aber dennoch relativ das echtere. Vgl. 5* (auch in F),
2«. Helg. Hu. II, 8*. 413. Atlm. 57 i und Sievers Beitr. 6, 332.
8 ' vard SR] var F, falsch.
10 ■'• ^ panns mer fcerdi gull | paz und Fäfni lä SR] panns foerdi vier | Fäf-
nis dynu F. Wilken s. LXXXVII hält die lesart von F für ursprünglich, und gewiss
könte man hier noch am ehesten geneigt sein, ihm beizustimmen. Dennoch wird
man diesen fall nur im Zusammenhang mit den übrigen textabweichungen beurtei-
len müssen. Übrigens lag die kenning Fäfnis dyna == gxül nahe genug: vgl. Egils-
son IM**. 1
12 5 knätti SR] mätti F.
13 3- * at ek Sigurdi \ sveefak ä armi SR] at ek Signrdi \ svcefa ä armi F.
Das ursprüngliche ist: at Sigurdi \ svcefak ä armi.
13^- *^ hat F drei geringfügige abweichungen von SR, die sämtlich Verschlech-
terungen sind.
14 2 alls til lengi SR] aus of lengi F.
14 3- •* konur ok karlar \ kvikvir {kvikir um SF) fcedask SR. Hier liest F
fordask , das den gegensatz der beiden halbstrophen zerstört. Vgl. Edzardi Germ.
23, 416, der die nicht leichte strophe zuerst richtig gedeutet hat.
An einer stelle Regm. 20* bietet F die von den neueren herausgebern auf-
genommene form dyggva {dyggja SR). Die abweichung ist blos orthographisch:
überdies sind beide formen richtig und aus *clyggvja entstanden (Bugge Norr.
Fornkv. 217).
Nur an einer einzigen stelle — wenn mau, wie billig, von der blos ortho-
graphischen abweichung Regm. 26 « hugirm S {hugin FR) absieht — stimmen FR
zusammen gegen S : Regm. 17 ^ brqndum FR = hqmrum S.
1) Das ursprüngliche dürfte sein:
panns fcerSumk gull
paz tmd FäJ'iii lä.
ÜBER PHOS. EDDA ED. WILKEN 91
Endlich gibt es einige fülle, in welchen alle drei hss. auseinandergehen. In
diesen hat überall S das relativ ursprünglichere. Folgende sind die wichtigsten :
Holr. 23 hvarfüst R] ^ hvarßynt S, hverfliint P. Bugge hat in seinen teit
von Np die lesart von F aufgenommen. Allerdings scheint nur hverflyndr belegt
(Cl-Vigf. 300"), aber gegen die hildnwg hvarflyndr ist nichts einzuwenden. Gewiss
steht S auch hier der gemeinsamen vorläge näher als F.
2'' Die halbstrophe ist, wie bereits oben bemerkt wurde, in NJ) nach münd-
licher tradition ganz geändert. In F ist die entstellung jedoch weiter gegangen;
die lesart von z. 7 nu^ryum til matar F {ineini hlandat S , viild af hqndtim R) ist
schon metrisch verwerflich , da die zweite und dritte silbe nicht verschleifbar sind.
3'' hvars inemt edli R] pars eäli menn S, peims edli mitt. Die foitschrei-
tende Verschlechterung ist nicht zu verkennen.
8^ Odu {wpo) R] auda S, audur F. Wilken hat die form von F in den
text aufgenommen, die gar keine gewähr hat. R bietet Sgrdr. B. 229, 8 hwpo,
der codex der VqIs. s. cap. 20 (B. 125, 17) fehlerhaft Agnarr eda Audabrödir. An
lezterer stelle nimt Wilken (184, 1) gleichfalls die genitivforin Audar auf. -
10 "* pai' had [liami] einn pegii R. S stelt um peyn einn, woraus F peg
(= pegar) einn gemacht hat, das metrisch anstössig und dem sinne nach kaum
möglich ist.
14** S0klcst(uj , gygjarkyn R] nü rqg gygr S, rm gygr F. Die lesart von F
mag immerhin dem liede einen ,, einfachen und gefälligen" abschluss geben (Wil-
ken s. XC): dennoch ist sie unmöglich, denn nach zahlreichen analogien (vgl. Sie-
vers beitr. 6, 327) ist das in .s0/i;/i;s^;* steckende J>it zu streichen, und dadurch würde
der vers dreisilbig.
Unsere Untersuchung der Überlieferung der eddischen atrophen in Nf hat
somit den unbedingten Vorzug von S ergeben.^
Der zweite grund, der Wilken dazu bewogen hat, seiner ausgäbe F zu gründe
zu legen , entspringt glcichfals einer irrigen auffassung. S soll in cap. 1 ziemlich
stark gekürzt haben. Allein viel glaublicher ist, dass F erweitert hat. Die Fla-
teyjarbök erweitert überhaupt mit verliebe: so in der Hallfredarsaga (vgl. Forn-
sögur edd. Vigfüsson und Möbius X) und sonst. Dass sie es auch im vorliegenden
falle tat, lässt sich leicht nachweisen. Während nach S der noch ungetaufte Nor-
nengast sich ohne wissen des erzchristlichen königs einschleicht, und dieser erst
durch die nächtliche erscheinung des elben veranlasst wird , sich am folgenden
morgen nach dem namen, der herkunft und dem glauben des fremden zu erkun-
digen, zerlegt F diesen sehr naturgemässen Vorgang in drei teile: ankunft des Nor-
nengastes am späten abend und vorläufige freundliche aufnähme von selten des
1) Mir ist nicht recht deutlich, warum alle herausgeber der Edda hvarfüst
schreiben: offenbar ist doch hvarf-fust das richtige. In NJ) ist daraus hvarf-lynt
geworden, wie Regm. 21^ aus hroörfusa E, hroörfulla SF.,
2) Über 8^ «' GoÖpjoöu E] d gob porSii S, gygjar brobur F vgl. oben s. 88 anm.
Diese stelle ist namentlich beweisend.
3) Bekantlich ist Hyndluljöö ausschliesslich in F überliefert. Nur str. 33 findet
sich auch angeführt in SE I, 44 in UWr. Diese eine strophe genügt, um auch für
dieses lied die Vermutung zu rechtfertigen, dass der text von F stellenweise willkürlich
geändert ist. 33 ^ bietet F skilberen'Sr, SE seibberendr {cn sci'bb W, in TJ fehlen z. 5. 6):
leztere lesart ist natürlich richtig.
92 SYMONS
königs, erscheinung des geistes in der Dacht, und infolge dessen weitere erkun-
digimgen des königs am nächsten morgen nach der herkunft und confession des
gastes. Der nachtgeist spielt hier dieselbe rolle , die sonst in isl. erzählungen
dem ti'aume zuerteilt wird : er weist auf eine drohende gefahr , überhaupt ein kom-
mendes ereignis hin. Weit kunstvoller und Aveit mehr im geiste des altertums ist
es, wenn die künde vom bevorstehenden unheil ohne Vorbereitung an den schläfer
herantritt. Wilken bemerkt, dass der leser sich ,,in der erzählung des nachtelben,"
wie S sie bietet, ,,wol nicht gleich zurechtfinden wird." Möglich, aber eben des-
wegen hat der redactor von P diesem Übelstande abzuhelfen gesucht. Für eine
kürzung wäre kein triftiges motiv denkbar. Überdies spricht auch ein äusserlicher
grund für erweiterung in F. Der nachtelbe tritt vor jedes bett und ,,at lyktum
kom hann til scengr eins manns, er par Id ütarlifja" {olc um siäir kern,)' hunn at
einum manni, er Id ütarliga S). Diese darstellung ist sehr verständlich, sobald
von dem neuen ankömling noch nicht die rede gewesen ist, wie in S, aber schwer-
lich, wenn dieser mit grossem wortreichtum bereits eingeführt ist, wie in
F. * — Im übrigen sind die abweichungen beider handschriften zwar ziemlich
bedeutend, ebne jedoch den kern der sache wesentlich zu berühren. Im grossen
und ganzen ist F wortreicher, zeigt ein gewisses streben nach oft überflüssiger
deutlichkeit , ändert vielfach die Wortstellung, bevorzugt das plusqpf. vor dem imp,
von S und die indirecte rede statt des lebendigeren dialogs. Dass der text von S
durchweg der bessere ist , rauss Wilken selber anerkennen , sodass ich mich des
beweises dafür überhoben rechnen darf. Schliesslich, was für Wilkens Standpunkt
freilich ohne bedeutuug ist, für mich aber von um so grösserer, auch die prosa
von R erscheint au einzelnen stellen in S treuer widergegeben als in F. Dies
mögen wenige beispiele erhärten: Bugge 55, 8 en. Hiqrdis giptiz pd Alfi K] pegar
Alfi S, Hdlfi F; 55, 19 frä forellri sinu ES] frd forelldrum sinum F; 57, 9 ok
tök i sunclr lagäinn sem vatnit RS] sem vatnit fehlt F; 6d, 1 ok svd segir i Gii-
ärünarkviäu inni foriiu R] en i Gudrünarraäu segir svd S, en igäurnar sqgäu
svd F (natürlich ein lesefehler). -
Im vorstehenden hoffe ich den beweis hinlänglich erbracht zu haben , dass
einer ausgäbe des Nornagestspättr unbedingt S zu gründe gelegt werden muss.
Wilkens ausgäbe muss ich aus diesem gründe für verfehlt halten: ein einfacher
abdruck von Bugges text hätte weitaus den Vorzug verdient. Tadeln muss ich auch,
dass Wilken nicht überall zu den liedercitaten die lesart von R vollständig anführt,
sondern sich oft mit einem ,, anders L. E.," ,,die abweichungen der L. E. vgl. 'bei
Hild." oder auch ganz ohne andeutung begnügt.
Ich wende mich jezt zu der einleitung, soweit sie VqIs. s. und Norn. p.
betrift. Dass ich diese im ganzen wie in den meisten einzelheiten für mislungen
halten muss, habe ich bereits angedeutet und werde im folgenden die gründe die-
ses Urteils darlegen.
Ij Wie ich iiauhträglicli sehe, hat auf diesen Widerspruch schon Edzardi Germ.
24, 354 aufmerksam gemacht.
2) Regm. 18* lesen alle vier codd. (li S V und der codex der VqIs. s.) hafSi.
Alle ausgaben, mit ausnähme von Hiklebrauds, ändern Itaföak. Ist diese änderung rich-
tig, so wäre dadurch die im Iczten gründe gemeinsame vorläge für alle vier stränge der
Überlieferung nachgewiesen. Ich glaube aber, dass die handschriftliche lesart mit Hil-
debrand behalten werden muss, wie andernorts gezeigt werden soll.
ÜBER fROS. EDDA ED. WILKEN 93
Der keriiimnkt von Wilkens einleitung ist natürlich das Verhältnis der an.
quellen für die Völsungeiisage unter einiinder. Ausser Vs. und Nji kounnen also
in betracht in erster linie die Eddalieder, die prosa der saniluug und der kurze
auszug in SE 1 , 352 fgg. , in zweiter linie auch die pidrekssaga, namentlich in den
mit Vs. übereinstimmenden stücken. Die Eddalieder scheidet Wilken genau von
der prosa der samlung. Au und für sich ist dies richtig und notwendig. Ebenso
notwendig ist aber eine kritische sonderung der Eddaprosa, die, wie sich bei einer
unter.suchung herausstellen wird, sehr verschiedenen wert besizt: bald sind es
Zusätze oder deutungcn des samlers, bald auseinandergefallene halbvorgcssene stro-
pheu , und jene Zusätze sind bald das werk des samlers, bald von ihm anderswoher
entlehnt. ' Übrigens wird ein grosser teil der j)rosa der samlung vom Verfasser
dt-r Sigurdarsaga , Avorüber unten mehr, herrühren, aber natürlich erhebt sich für
ihn alsbald dieselbe frage, wie für den samler der sogenanten Eddalieder.
Die Untersuchungen über das gegenseitige Verhältnis der genanten quellen
hat Wilken am Schlüsse der einleitung (s CHI fgg.) zusammengefasst. Seine resul-
tate sind etwa die folgenden: An der .schwelle der norrtenen litterarischen entwick-
lung der Völsungensage steht eine rein prosaische Sigurdarsaga, deren (zunächst
allerdings nur in mündlicher Überlieferung nachweisbare) existeuz vom anfang des
] 1. Jahrhunderts an gesichert erscheint. Auf ihr beruhen ,,als m»dir oder minder
freie Variationen " die Eddalieder. Diese prosaische ursaga ist uns nicht in zusam-
menhängender aufzeichnung ei-halten, doch liegt sie den übereinstimmenden par-
tien der jüngeren prosaquellen zu gründe, der Vs , der Skäldskpm. , des N{), der
Eddaprosa, ja teilweise sogar der ps. ; am treuesten soll die skizze der Skäldskpm.
diese urform der saga bewahrt haben. Volständig aber besitzen wir die Sigurdar-
saga in einer jüngeren recension, und dies ist eben die Volsuugasaga, die ihrer-
seits wider die Eddalieder benuzt hat, allerdings nicht nach unserer sandung, son-
dern nach mündlicher tradition (s. LXX fgg.). Zwischen den verschiedenen quellen
walten aber noch folgende Verhältnisse. Die Gylfaginuing , die Wilken in ihrer
ursprünglichen gestalt ins 12. Jahrhundert sezt (Unterss. s. 1G2 fgg.), hat in ihrem
prolog eine recension der Vs. benuzt, sodass deren älteste litterarische fixierung
damals bereits geschehen sein muste. Im anfange des 13. Jahrhunderts erfolgte
dann eine ,, ziemlich durchgTeifende Umgestaltung" der Vs. , inj ganzen der uns
erhaltenen recension entsprechend (s. CVl). Diese wird Snorri, wenn er der Ver-
fasser der Skälda war, für seinen sagenauszug benuzt haben. '^ Dagegen verrät
weder er noch der Verfasser von Np irgend eine keutnis der ps. So komt Wilken
dazu, Np mit R. Keyser um oder bald nach 1250 auzusetzen, die samlung der
Eddalieder aber noch etwas weiter in die zweite hälfte des 13. Jahrhunderts hinab-
zurücken , da diese in Gudr. III uud der einleitung zu Gudr. II eiufluss der ps.
1) Eine solche Untersuchung, wie Edzardi sie wünscht (Germ. 23, 103 aum. 2),
habe ich widerholt angestelt, gestehe aber, dass die ergebuisse mir zu unsiclier waren,
um sie drucken zu lassen. Indes denke ich bald eine solche Untersuchung in anderem
zusammenhange vorlegen zu können.
2) Merkwürdigerweise soll aber auch die Vs. „spurweise" die Skdlda benuzt
haben (s. XXVIIl fg. CVI anm. 5). Und, während hier Snorri eine recension der Vs.
benuzt haben soll, die der erhaltenen oflenbar so ähnlieh gesehen haben muss, wie der
eine tropfen wassers dem andern, wird s. XXIX mit gröster bestimtheit behauptet, dass
nur eine altere recension der Vs. , nicht unsere, in der Sk. verwaut sein kann. Eine
solche consequenz verstehe ich nicht.
94 SYMONS
zeigen soll. Demnacli müssen die Übereinstimmungen zwischen der prosa des sam-
lers und Nf>, soweit sie nicht auf gemeinsamer benutzung jener alten Sigurdarsaga
beruhen , so erklärt werden , dass der samler NJj kante. Dagegen hat Np noch
keine spur einer liedersamlung. Zu dieser wurde erst geschritten . als die ,, pro-
saische wie poetische Produktion auf grundlage der alten Sig. saga dem erlöschen
bereits sehr nahe war" (s. CVII). So korat bei Wilken die liedersamlung am
Schlüsse der ganzen Überlieferung zu stehen, wie die mündlit-he Sigurdarsaga an
ihrem anfang. Das Verhältnis der eddischen Völsungenlioder zur Sigurdarsaga soll
ein analogou finden in der von Storra vertretenen Stellung der Kampeviser zur
pidrekssaga , während das Verhältnis des Nornagestspättr zur V^lsungasaga sich
widerspiegeln soll in dem der Blömstrvallasaga zur pidrekssaga (s. CVIII).
Dass diese resultate fast in allen punkton von den bisherigen annahmen
abweichen , leuchtet ohne weiteres ein. Sie stellen das bisher von allen forschern
festgehaltene Verhältnis der prosaquellen zu den Eddaliedern geradezu auf den köpf.
Wie im einzelnen auch die ansichten auseinandergiengeu, folgendes, darf man wo 1
sagen, galt als unbestrittener aiisgangspunkt für alle Untersuchungen:
1. Die Verfasser von Vs. und NJ) benuzten für ihre erzählangen entweder
dieselbe samlung von alten heldenliedern mit eingestreuten prosastücken, die uns
in R vorliegt, oder doch eine derselben sehr nahe verwante. Die liedersamlung
ist also älter als beide erzählungen.
2. Die Eddalieder, zum teil vielfach umgearbeitet, wurzeln in mündlicher
tradition , sind aber keine poetischen Variationen einer prosaischen erzählung.
Andere punkte waren allerdings controvers: so der umfang der benutzung
der liedersamlung in der Vs. uud Np. , das Verhältnis der liedersamlung zur SE,
der Vs. zur ps. , wol auch des Np zur Vs. Wilken hat die festen grundlagen der
bisherigen forsehnng ohne genügende, hie und da ohne alle motivierung zu zer-
stören gesucht. Eine neue basis gewint er erst durch eine menge von unüberlegten
einfallen, Widersprüchen und falschen praemissen: er hat seinen oberbau aufgeführt,
bevor er eine neue und bessere grundlage gelegt hatte. Da ist es nicht Avunder-
bar, dass das ganze künstliche gebäude von funkelnagelneuen Vermutungen in der
luft schwebt, und dass eine ernste betrachtung des tatsächlichen es zusanmienstür-
zen macht.
Zunächst das Verhältnis der Vs. zu den Eddaliedern und zur liedersamlung;
natürlich ist beides nicht identisch. Dass die mehrzahl der heldenlieder der Edda
in der Vs. benuzt ist, unterliegt keincnr zweifei und wird selbstverständlich auch
von Wilken nicht bestritten (s. XXIII). Dem sagaschreiber standen ferner die frü-
her in R befindlichen, jezt durch die lückc verlorenen lieder zu geböte. Diese bil-
den die grundlage für cap. 23 — 29 der saga, wie Beitr. III, 253 fgg. nachgewiesen
ist. Ich muss hier auf die besprechung von eiuzelheiten verzichten, halte es auch
für weniger erheblich, ob der sagaschreiber ausser den algemein anerkanten noch
andere in unserer samlung enthaltene lieder gekant hat, wie ich Beitr. III, 217 fgg.
es für Helg. Hund. II, Gudr. I, Helr. Brynh. , Oddr. zu zeigen versucht habe.
Dazu vgl. Wilken s. XXIV. Wenn in der tat die Vs. unsere samlung nachweislich
benuzt hat, was ich sogleich eingehender begründen werde, komt auf den umfang
der benutzung weniger an. Wenn ferner die tatsache feststeht und nicht geleug-
net wird , auch von Wilken nicht , dass die saga die einst in R enthalteneu lieder
noch gekant und ihrer darstellung iu c. 23 — 29 zu gründe gelegt hat, wird es
weniger von gewicht sein, genau zu bestimmen, den Verlust wie vieler lieder wir
zu beklagen haben. Ich habe freilich gemeint, aus der prosawidergabe der saga
ÜBER PROS. EDDA ED. WTtLKEN 95
noch fünf bis sechs toils ältere teils jiiiif^-ere lieder erkennen zu können, die Sigurds
Iiesuch hei Heimir und verlobun«- mit Bryuhild, Gudruns träume und deren deu-
tung durch Brynhild, Sigurds ankunft an Gjukis hof und Vermählung mit Gudrun,
Sigurds ritt durch die waberlohe, den zank der königinnen und lirynliilds harui
besangen. Allein ich habe dies resultat meiner Untersuchung keineswegs als sicher
und unbestreitbar hingestelt. Es ist überaus leicht, wie es Wilken s. XLII fgg. tut,
das resultat als ganzes nicht anzugreifen, aber es in der weise zu modificieren,
dass statt jener fünf bis sechs lieder nur vier „deutlich genug angezeigt" sein
sollen, ,,um sie als wahrscheinlich gelten zu lassen." Allein man soke dies nur
mit sehr bestirnten gründen tun. Diese führt Wilken nicht au.
Im anschluss an S. Bugge Norr. Fornkv. XXXIX habe ich gegen W. Grimm,
!'. E. Müller, E. Keyser u. a. auch cap. 23 und 24 , die Sigurds aufenthalt bei Heimir
und Verlobung mit Brynhild erzählen , als para]ihrase eines liedes zu erweisen gesucht.
Die gründe für diese annähme sind einmal der umstand, dass auch ({ripisspä ein
früher in unserer samlung unmittelbar auf die Sigrdrifumal folgendes lied gekant
haben muss, das Sigurds besuch bei Heimir besang, und zweitens die unter dem
prosagewande noch hervorschauende poetische quelle. Lezterer grund hat mich
auch bestirnt, für den grösseren teil von c. 25 (B. 139, 11 fgg.) ein lied als vor-
läge zu vermuten. Den ersteren fertigt Wilken mit der bemerkung ab, dass er
für seine auffassung nicht ins gewicht fält (s. XLH anm. 100) , den zweiten mit
der sehr ähnlichen, dass er darauf nicht viel gewicht legen kann (s. XLVI). Auf
die gründe, die Wilken seinerseits gegen mich anführt, wird er wol kaum selber
., gewicht legen" wollen. Die vermeintlichen anklänge an eddischen ausdruck,
meint Wilken, kehrten auch in andern liedern wider. Natürlich; wäre dies nicht
der fall, so hätten sie sich schwerlich als eddisch nachweisen lassen. Was in
cap. 24 (B. 137, 3 fgg.) von den habichten und dem pferde Grani erzählt wird, dass
sie mismutig das haupt hangen lassen , wird allerdings bei weitem passender in
Gudr. II, 5 allein von Sigurds ross berichtet, das ohne die gewohnte bürde heim-
kehrt. Der schluss Wilkens jedoch , dass dieser zug vom sagaschreiber an unge-
schicktem orte vorweggenommen sein soll, ist um so weniger berechtigt, als dieser
ihn sich, wie ja Wilken selbst anführt, in der paraphrase des zweiten Gudrunlie-
des (B. 162, 23) nicht hat entgehen lassen. Dass aber der dichter eines jüngeren
liedes , und offenbar hat das für c. 23 fg. vorauszusetzende lied zu den allerjüng-
sten gehört, aus einem älteren entlehnte, ist in der Überlieferung der Eddalieder
gewiss nichts unerhörtes. Das ganze erste Gudrunlied ist gewissermassen ein pla-
giat. 1 Ganz ebenso ist es zu beurteilen, wenn in c. 24 (B. 13G, 17) von Brynhild
erzählt wird, was Gudr. II, 14 fg. gleichfals passender von Gudrun aussagt, dass
sie die taten des Sigurd in Stickereien darstelt. Auch diesen zug bringt die saga
an geeigneter stelle (cap. 32; B. 163, 6 fgg.). Berichtet sie hier das gleiche von
Brynhild, so folgt sie einem jüngeren liede, das die walkyrie ähnlich vermensch-
licht hat wie Oddr. 16. Durch diese einfache, naturgemässe annähme wird die aus-
führung Wilkens s. XLIII fg. gegenstandslos. 2 Was sodann cap. 25 betrift, so hält
1) Vgl. Jessen, Eddaliednr s. 52 fg. Edzardi Germ. 23, 182 fgg., aber auch
Beitr. III, 261 fg.
2) Wilken vermutet dort, dass die gesfalt der Brynhild von jeher in der sage
nicht ganz fest aufgefasst worden sei : sie sei zwar als die veranlassung des ganzen
Zwistes angesehen, aber einerseits erst durch Steigerung zur walkyrie entwickelt, ande-
rerseits „durch annäherung an das weibliche ideal (Gudrun) gemildert, schliesslich auch
96 sYmons
Wilken s. XIjII zwar ein älteres lied von Gudruns träumen für wahrscheinlich , ist
aber s. XLV „weit entfernt, hier die einfache auflösung eines Edda-liedes zu
ei-blicken." Was nun des Verfassers wirkliche ansieht ist, lässt sich natürlich
schwer erkennen. Der träum, den Gudrun der Bryuhild mitteilt, deutet unverken-
bar auf Sigurds ermordung auf der jagd, wie die nordische sage sie sonst nicht
kent. Wilken hält diese darstelluug für die ursprüngliche (vgl. auch s. LVII fgg.).
Gerade von diesem Standpunkte aus ist gar kein grund , an einer liedesvorlage zu
zweifeln. Dass von dieser ältesten fassung eines der merkwürdigsten ereignisse der
sage kein einziges lied eine spur bewahrt, denn die deutung von Brot 5 s. LVII fgg.
ist sehr gezwungen, prosaische volksüberlieferuug sie aber rein gehütet haben soll,
ist kaum denkbar. Freilich kann ich mich nun auch in der auffassung der ver-
schiedeneu Überlieferungen von Sigurds ermordung Wilken nicht anschliessen. Indem
ich die ganze frage einer späteren besprechung vorbehalte, kann ich hier nur
andeuteud bemerken, dass ich nach wie vor (Beitr. III, 284) und in Übereinstim-
mung mit Rassmann I, 207 und Edzardi Germ. 23, 335 die ermordung im bette
für das ältere halten muss. Die älteren lioder kennen ausschliesslich diese darstel-
lung , ebenso die SE : die ermordung im freien kennen nur das lange Sigurdslied
und Gudr. II. Eine Vermischung der älteren und jüngeren darstellung kent die
ps. cap. 348. Auch ist das zeugnis des prosastückes frä dauda Sigurdar (Hild. 214),
wie unverständig seine fassung auch ist, doch nicht gering zu achten. Wilkens
Vermutung, dass „die ermordung im walde in einer pause der jagd, während
Sigurd im halbschlafe ausruhte," wie Hans Sachs sie merkwürdigerweise darstelt
(HS 2 314 fg.), das ursprünglichste sei, ist allerdings beachtenswert und anspre-
chend. Es trat dann eine Spaltung ein, indem man in der dichterischen gestal-
tnng bald auf den schlaf, bald auf die jagd den poetischen nachdruck legte. Aber
die frage, welche von diesen beiden auffassuugen im norden die ursprünglichere
ist, wird dadurch nicht entschieden. Dass es die der ermordung im bette ist,
dafür spricht die Übereinstimmung aller älteren quellen. > Die lieder aber, die die
ermordung im freien kennen , zeigen zum teil auch sonst erneuten einfluss der
deutschen sage; das lied von Gudruns träumen, dem der sagaschreiber in cap. 25
folgt, zeigt diesen auch im zweiten zu Nib. 13 fgg. so merkwürdig stimmenden
träume. Weshalb man diese spätere einwirkung der deutscheu sage auf die nor-
(als ufben Gudrun entbehrlich) ganz aufgegeben ," wie im Volksbuch vom gehörnten
Sigfrid. Mit grösserem rechte behaupte ich das gegeuteil. Wenn irgend eine gestalt
in der ältesten fassung der sage, so tritt gewiss Brynhild in ganz festen, markigen
umrissen vor uns auf. Sie ist eine im edelsten sinne tragische figur, ganz so, wie in
der älteren Völsungensage Signy. Um jedoch ihre ursprügliche auffassung in der sage
richtig zu würdigen, niuss man sie sorgfältig von ihrer doppelgängerin Sigrdrifa son-
dern, der, wie wol demnächst einmal gezeigt werden Avird, von der alten sage eine
ganz bestimte rolle zugedacht war. Eine ursprüngliche Identität von Brynhild - Sigr-
drifa kann ich nur insoweit vertreten, als leztere eine Spaltung ersterer ist. Dass in
der deutschen sageugestalt Brynhild verblasst und endlich vergessen ist , ist eine so
natürliche folge der veränderten Ökonomie der sage, dass dieser umstand für die recon-
struierung der ursprünglichen sagenauffussuiig gänzlich ohne bcdeutung ist.
1) Die lezten worte des sterbenden Sigurd in cap. 30 der VqIs. s. (B. 158, 17 fgg.)
setzen eine ermordung auf der jagd voraus, wie richtig von Wilken bemerkt ist (s. XLV
anm. lOG). allein diese Worte sind, wie ich jezt ebenfals annehme, der piörekssaga
entnommen.
ÜKER PROS. EDDA ED. WILKEN 97
rcene lieldendichtiing , die auch W. Grimm glaublich fand HS ^ 4 fgg. , neuerdings
so entschieden in abrede gcstelt hat (vgl. R. von Muth, Einl. in das Nib. s. 51),
begreife ich niclit. Sie ist an sich natürlich und wäre vorauszusetzen, auch wenn
nicht lieder wie Atlm., Atlkv. , Gudr. III, wol auch Gudr. II sie ausdrücklich bestä-
tigten. Man könte sich sogar zu der frage gereizt fühlen, ob diesen liedern nicht
teilweise geradezu ud. quellen vorgelegen haben. ^
Nachdem Wilken die benutzung der Eddalieder in unserer saga ihrem umfange
nach besprochen hat , behandelt er auf s. LXX fgg. die frage nach der art und
weise der benutzung. Er beantwortet die frage, ob der sagaschreiber schriftliche
liedervurlagen gehabt hat, und zwar in wesentlich negativem sinne. Allein auch
hier tritt jenes schein öfter berührte unsichere schwanken hervor. ,,Ohne daher die
lienutzung schriftlicher aufzcichnungen ganz zu bestreiten," heisst es s. LXX fg.,
,, scheint doch das gegenteil bez. der meisten lieder für wahrscheinlicher." (sie!)
Wilken bemerkt ganz richtig, dass die ganze frage für denjenigen, der eine kent-
uis der ganzen samlung als selbstverständlich ansieht, nicht existiert. Für selbst-
verständlich halte ich eine solche kentnis nun allerdings nicht ; wol aber glaube ich
nachgewiesen zu haben, einmal, dass die saga die meisten lieder, noch vorhandene
wie durch die lücke verlorene, ferner die meisten prosastücke unserer samlung
gekant hat, und zweitens dass sie kein lied gekant haben kann, das nicht in E
steht oder einst gestanden haben wird, und zwar dass sie die benuzten lieder und
prosastücke in derselben reihenfolge gekant hat: ich glaube es dadurch in hohem
grade wahrscheinlich gemacht zu haben, dass die samlung, die dem sagaschreiber
vorlag, keine andere gewesen ist als unsere sogenante Saemundar-Edda.^ Allein,
selbst wenn dieser nachweis nicht gelungen wäre, ,,dass die saga eine samlung
benuzt hat , in der manche der gedichte und erzählungen über die Völsunge und
die mit ihnen verknüpften heldengeschlechter, die sich in R finden oder früher fan-
den, in einer form aufgezeichnet waren, die auf dieselbe schriftliche quelle wie R
hinweist" (Bugge NF s. XLI) , dies galt bisher für eine nicht bestrittene tatsache.
Wilken glaubt nun allerdings im vorhergehenden abschnitte seiner einleitung nach-
gewiesen zu haben , dass die Vs. die prosa der samlung nicht benuzt hat. Zunächst
wird es demnach nötig sein, zu zeigen, dass dieser nachweis verfehlt ist. ^ Leider
liat W. den punkt nicht im zusammenhange untersucht und durch die hiueinziehuug
der SE die Übersicht erschwert. Ich entziehe mich aus diesem gründe der Ord-
nung des buches und glaube mich überhaupt gerade hier kurz fassen zu können,
da die Sachlage sehr klar ist, und ich zum teil einfach auf die früheren unter-
1) Ohne hier auf diese frage näher einzugehen, die ich für die von mir vorbe-
reitete ausgäbe der Edda verspare, verweise ich vorläufig auf EdzarJi Germ. 23, 86. —
Wenn auch Bugge in dieser Zs. 7, 389 die ermordung SigurJs im bette „die gewiss
spätere sagenform" nent, wird er gewiss dafür seine guten gründe gehabt haben: er
führt sie aber nicht an.
2) Nicht aber die erhaltene hs. E.
3) W. billigt s. XXXIII fg. meine Vermutung, dass der Hundingssohn Hjorvarör,
den Sigurd e. 17 tötet, aus der prosa von Helg. Hund. II vor str. 13 (Hild. 165, 13 fg.)
gewonnen ist, oder, richtiger ausgedrückt, dass die verschiedenen Überlieferungen der
namen der Hundingssöhne in H.H. I, 14 und der prosa von H. H. II vom saga-
schreiber verschmolzen sind. (Beitr. 111, 218). Wie mir scheint, begeht Wilken damit
eine fatale inconsequenz, denn er räumt dadurch kentnis der Eddaprosa ein, die er
sonst so lebhaft bestreitet.
ZEITSCUR. F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XII. •
98 SYMONS
suchungen von Bugge N. F. s. XXXIV — XLI und von mir Beitr. III, s. 215 — 253
zu verweisen brauche. Dass beide relationen , die der Vs. und der Eddaprosa, nicht
unabhängig von einander entstanden sein können, d.h. also nicht aus gemeinsamer
quelle geschöpft haben, bedarf kaum noch einer abermaligen begründuug. Die
saga hat die in der samlung erhaltenen lieder von den Völsungen und Niflungen
in derselben reihenfolge^ gekant, sie hat alle irgendwie benutzbaren benuzt, sie
hat ferner kein einziges verwant , das nicht in R steht oder früher gestanden hat -.
da ist es doch gewiss die nächstliegende annähme , dass die vielen wörtliclien
Übereinstimmungen mit der prosa der samlung ebenfals auf benutzung der prosa
in der saga beruhen. Inwieweit diese Übereinstimmung schlagend ist, kann jeder
mit hilfe der Beitr. III, 220 fgg. gegebenen tabelle leicht prüfen. Es lassen sich
aber auch ganz bestirnte gründe dafür vorbringen , dass die Vs. aus der prosa der
samlung geschöpft hat. Die am besten beweisende stelle ist die erzählung von der
Vorgeschichte des hortes cap. 14 (B. 112, 11 — 114, 21), welche in der samlung
der einleitenden prosa zu Reginsmäl usw. (Hild. 186, 1 — 189, 5) entspricht. Der
samler (oder der Verfasser der Sigurdarsaga) hat hier in gröster kürze und ziemlich
unbeholfen die hauptzüge zusammengefasst : Regln erzählt dem Sigurd, wie die äsen
den Otr töten, Hreldmar sohnesbusse verlangt, und nun Loki, zum zwecke ihrer
beschaflfung ausgesant, den zwerg Andvari in hechtgestalt fängt. Str. 1. 2 bringen
das gespräch zwischen Andvari und Loki ; str. 3. 4 sind fälschlich in das lied hinein-
geraten, vielleicht aus demselben liede, das ursprünglich auch die strophen Päfn.
12 — 15 enthielt. Ob sie dem sagaschreiber .schon in ihrem jetzigen zusammen-
hange vorlagen , ist unsicher: jedesfals hat er sie nicht benuzt. Wol aber das vor-
hergehende. Auch in der saga erzählt Regln dem Sigurd: der sagaschreiber ver-
gisst es aber zuweilen und ruft sich dann gewissermassen durch ein segir Reginn
(B. 113, 1. 114, 20) selber zur Ordnung. Er hat von Hreidmar und dessen söhnen
schon im vorhergehenden capitel gesprochen; dennoch lässt er Regln seine erzäh-
lung noch einmal beginnen mit einer darlegung seiner familien Verhältnisse. Regln
erzählt von Otr, wie er den tag über in ottergestalt im wasser lebt, fische fängt
und spät am abend dem vater heimbringt. Dann auch von Pafnir. Damit ist die
exposition gegeben. Nun geht Regln zur erzählung von den ereignissen über, die
die einleitende prosa zu den Reginsmäl berichtet, und richtet sich jezt genau nach
seiner vorläge. Dabei werden ausdrücke widerholt, die schon vorweggenommen
waren; "2 diese widerholung erkläi't sich ausschliesslich aus der benutzung der genan-
ten quelle, deren unvolkommene darstellung gemildert und durcli erAveiterung ver-
ständlich gemacht werden muste. Auch die art und weise , wie 113 , 10 fg. von
1) Wilken meint s. LH, der verfas.ser der Vs. habe sich die ihm bekanten lie-
der in ,, einer ähnlichen quasi - chronologischen folge" als quellenmaterial vorgelegt,
wie wir sie in der samlung geordnet finden. Erklären lässt sich ja schliesslich alles.
2) Vgl. B. 113, 4 fgg. mit 112, 17 fg.; B. 113, 7 fg. mit 112, 20 fg. Vgl.
auch Beitr. III, 226 fg., zum teil gegen Bugge NF. s. XXXVII. — Gruudtvig (Edda'^
227") hat sehr richtig bemerkt, dass die prosa des sanilers den Audvarafors viel zu
früh nent : nicht Otr lebt in ihm , sondern der zwerg , und die worte / ßeirn forsi ....
mntar gehören erst nach z. 17 Audvarafors. Es liegt hier aber keine textverdcrbnis vor,
sondern ein irtum des samlers. Der Verfasser der Vs. begeht im anschluss an seine
quelle ganz denselben fehler. Dagegen ist die darstellung der SE I, 352 richtig und
verständig. Das Verhältnis der quellen würde schon durch diese eine stelle deut-
lich sein.
ÜBER PROS. EDDA ED. WILKEN
99
Hrcidmar gesprochen wird, als wäre nicht der söhn, sondern eine ganz unbeteiligte
person der redende, findet ihre erklärung in der unbeholfenen darstellung der ein-
loitenden prosa zu Roginsmäl z. 13 fg. Ich stelle die beiden erzählungeu einander
gegenüber, weil nur so das gegenseitige Verhältnis ganz klar worden kann, und
zeichne das übereinstimmende durcli cursiven druck aus.
VqIs. s. c. 14. (B. 112, 11 fgg. W. 173.
4 fgg.)
])at er up])haf sggu pessar, at Hreid-
marr hct fadir minn, mikill ok audigr:
son haus het Fafnir, en annarr het Otr,
ok var ok lünn [iridi, ok var ek niinstr
fyrir mer um atgervi ok yfirh'it; kunna
ek af järni gera ok af sill'ri ok gulli,
ok (af) hverjum lilut gorda ok nokkvat
n3'tt. Otr brödir minn hafdi adra idn
ok nattüru; bann var veidimadr mikill
ok umfranim adra menn ok var i otrs
liki um daga ok var jafnan i anni ok
bar upp fiska med munni ser; veidifgng-
in foerdi hann fedr sinum , ok var honnm
pat mikill st)'rkr; mJQk hefir hann otrs
liki ä ser, kom sid heim oik dt hluncl-
ancli ok einn saman, pvlat hann mätti
eigi sjä, at pyrri. Fafnir var miklu
mostr ok grimmastr ok vildi sitt eitt
kalla lata allt pat er var. Einn dvergr
het Anävari — segir Beginn — ; hann
rar jafnan i forsinum, er Anävurafors
heitir, i geddu liki ok feklc ser par vuä-
ar, ßviat ßar var fjqldi fiska i ßeim
forsi. Otr broäir minn för jafnan i
penna fors ok bar upp fiska i munni
sör ok lagdi einn senn ä land. Octinn,
Loki, Hamir foru leiäar sinnar ok kömu
til Andvarafors. Otr hafdi ßä tekit
einn lax ok dt hhindandi at drbakk-
anum. Loki tök einn steinn ok laust
otrinn til hana. Aesir pottust mjqk
hepnir af veidi sinni ok flögio hdg af
otrinum.
pat kveld kömu peir til Hreidmars
ok sijndu homim veidina ; pä tüku ver pd
hqndum ok Iqgdum d pd gjald ok fjqr-
lausn, at peir fyldi helginn af gulli ok
hyldi hann ütan med randu gtilli. pd
sendu peir Loka at afla gtdlsins; hann
kom til Rdnar ok fekk net hcnnar, för
pä til Andvarafors oh kastaäi netinu
Einl. prosa zu Reginsmäl (Hild. s. 186).
[Sigurdr gekk til stöds Hjalpreks ok
kaus ser af best einn, er Grani var kal-
ladr sidan. Vgl. Vols. s. cap. XIII.
(B. 111, 1 fgg.). pä var kominn Beginn
til Hjalpreks, sonr Hreidmars, hann var
hverjum manni hagari ok dvergr of voxt.
Hann var vitr, grimmr ok fjolkunnigr.
R.eginn veitti Sigurdi fostr ok kenslu ok
elskadi hann mJQk: hann sagdi Sigurdi
frä forellri sinu ok peira atburdum , at
(vgl. Vols. s. c. XHI. B. 110. 23 fgg.)].
Odinn ok Hccnir ok Loki hqfdti komit
til Andvarafors ; i peim forsi var fjqldi
fiska. Einn dvergr het Andvari, hann
var Iqngum i forsinum i geddu liki ok
fekk ser par matar. Otr het brödir
värr, kvaä Beginn, er opt för i for-
sinn i otrs liki;
hann hafdi tekit
einn lax ok sat u drhakkanum ok dt
blundandi. Loki laust hann med steini
til bann; pöttusk Aesir mjqk hepnir ve-
rit hafa ok fiögn belg af otrinum.
pat sama kveld söttii peir gisting til
Hreidmars ok syndu veidi sina; pd
töku ver pd hqtidum ok Iqgäum peim
fjqrlansn, at fylla otrbelginn med gulli
ok hylja ütan ok med ruudii gulli. pä
sendu peir Loka at afla gidlsins; hann
kom til Bänar ok fekk net hcnnar ok
för pd til Andvarafors ok kastadi netinu
7*
100
fijrir yedduna, en hon hljop i tietit; pä
mailti Loki:
hvat er put fiskn
usw.
Ich muss die vergleichuiig noch etwas
weiter fortsetzen. Nach citieruug von
str. 1. 2 heisst es B. 114, 4fgg. :
Loki ser gull pat er Andvari ütti; en
er hann hafcti framm reitt iiidlit, pä
liafäi hann [eptir] einn hrhu/ , ok tök
Loki hann af honuni. L>vcrgriiin gekk
i steininn ok meelti
fyr gedduna , en hön hljop i nctit; ßü
mcelti Loki:
hvat er pat fiska
usw.
prosa vor Eeginsm. str. 5 (Hild. 187) :
Loki sä aUt gull pat er Andvari ätii ;
en er hann hafdi fraiureitt gullit, pä
hafäi hann eptir einn hring , ok tök
Loki pann af hänum. Drergrinn gekk
inn i steininn ok mcelti
In E spricht der zwerg eine sehr dunkle strophe (Regui. 5) von zwei brü-
dern, denen „das gold, welches Gustr bcsass" zum tode, und acht edelingen,
denen es zum zanke gereichen werde. Die strophe gehört jedesfals nicht hierher,
oder sie ist eine ganz junge Interpolation: sie ist im kviduhättr, drei zeilen (1. 3.
4.), und, wenn man nicht Vs. 7 fear liest, sogar vier sind metrisch dreisilbig, ^ der
inhalt ist kaum verständlich, wenn man nicht mit Grundtvig (Edda'^ 227*^) in ätta
z. 6 eine tiefgehende Verderbnis annehmen will. Doch wird die strophe in ihrem
jetzigen Zusammenhang dem sagaschreiber bereits vorgelegen haben. Bei ihm sagt
der zwerg (B. 114, 6 fgg.) ut hverjnm skijldi at hana veräa , er pann gullhring
cetti ok svä alt giillit. Sieht dies nicht ganz aus wie eine summarische widergabe
eben jener str. 5, die der sagaschreiber gewiss so wenig verstand wie wir, deren
hauptgedanken er aber nicht entbehren konte? Wilken bestreitet s. XXVIl anm. 52,
vgl. s. XXX, die von mir Beitr. III, 227 beiläufig geäusserte Vermutung, dass der
Verfasser der Vs. mit den worten er pann gullhring cetti ok svä alt gnllit absicht-
lich die Zweideutigkeit von Eegm. 5, 1 pat skal gull habe beseitigen wollen. Er
fühlte, dass der fluch sich ursprünglich an den ring knüpfte (die Wünschelrute von
Nib. 1064. HS 2 393), und das gidl des liedes erlaubte ihm, an beides, den hört
und den ring, zu denken. Die wichtige eigenschaft des rings, das gold zu ver-
mehren, die SEI, 354 noch so gut kent,^ hat die unklare prosa des samlers
vergessen , und die nachlässigkeit seiner quelle hat der sagaschreiber nur notdürf-
tig gebessert. Die nun folgende erzählung von der erstattung der sohnesbusse
stimt in beiden cpiellen wider nahezu wörtlich überein : in einzelnen ausdrücken hat
R das ältere.
VqIs. s. (ß. 114, 8 fgg.):
Aesirnir reiddu Hreictmari feit ok
trääu upp otrhelginn ok settu ä fcetr;
pä, skyldu Aesiriiir hlaäa tipp hjä gul-
lina ok hylja ütan; en er pat var gert,
J)ä gekk Hreidmarr framm ok sä eiti
granahär ok bad hylja. pä drö Oäinn
hringinn af ser Andvuranaut ok huldi
härit. pä kvad Loki
Guirs Jjer nü reitt (Eegm. G)
Prosa vor Eegm. 6 (Hild. 188):
Aesir reiddu Hreiämari feit, ok trädu
upp otrhelginn ok reistu ä ftetr; pä
skyldu Aesirnir hlada upp gullinu ok
hylja; en er pat var gert, gekk Hreid-
marr fravi ok sä. eitt granahär ok bad
hylja. pä drö Odinn fram hringinn
Andvaranaut ok huldi härit.
GulFs per nü [reitt] (kvaS Loki)
usw.
usw.
1) In z. 4 niüste bana versclileift werden.
2) Eben deswegen sind die werte der SE in Loküs fluoli at ml haitgr ok pat gull
skyldi vcrda pess bani er dtti bei der besseren kentnis Snorris (oder seines Vorgängers)
ÜBER PROS. EliDA ED. WILKEN 101
Die samlung sczt. da.s g^esiiriich zwisclRii Loki und Hreuliiuirr in den stro-
l)lion 8. 9 fort, berichtet dann iu einem prosastücke die vergebliche bitte von Faf-
nir und Ifegin um bruderbusse und die crmordung Hreidmars, bringt in zwei wei-
teren Strophen das dringend verdächtige gespräch des sterbenden Hreidmarr mit
den töclitcrn (vgl. Bugge s. 413) und fährt fort (prosa vor 12): ])ä dö Hreidmarr,
en Fdf'nir tök fjidlit (dlt. pä beiddisk Beginn at liaf'a fqdurnrf sinn, en Fäfnir
galt pnr nci vid. pä leitadi Beginn räda ind LyngJieidi sijstiir sina , hvernig hann
sJqihli heimta fodnrarf sinn. Die Schwester gibt in str. 12 einen rat, der keinen
weitern erfolg hat, und der samler schliesst: pessa hluti sagäi Beginn Sigurdi. —
Man sieht, der samler liat ganz vergessen, dass Regln der redende ist: erst ganz
am Schlüsse hat er es bemerkt und doshalb die lezten Avorte hinzugefügt. Der
sagaschreiber hat statt dessen allein (B. 114, 20 fg.): siäan drap Fäfnir fqdiir
sinn ■ — segir Beginn — olc myrdi hann, olc nääa ek engii nf fenii. Dies ist gewiss
sehr summarisch, aber doch genügend, um die samlung als quelle zu erweisen.
Die saga hat sich einen augenblick durch die dritte person , in die der samler ver-
fallen war, irreführen lassen, und schreibt: siäan drap Fäfnir fqäur sinn, merkt
aber dann ihre inconseqnenz, ruft sicJi durch ein segir Beginn zur Ordnung und
fährt fort ok nääa ek ongu af fenu.^ Was den sagaschreiber zur kürzung bewogen
hat, ist schwer zu sagen. Dass aber seine darstellung gekürzt ist, gibt auch Wil-
ken s. XXVII zu. Jedesfals hatte er nicht die verptlichtuug, alles was er in seiner
quelle vorfand, auch zu verarbeiten, und, wenn er auch nicht sehr kritisch war,
so mag ihm doch das auftreten der beiden töchter, die Grundtvig vergeblich zu
verteidigen bemüht ist, ebenso widersinnig vorgekommen sein, wie ich wenigstens
gestehen muss, dass es mir vorkömt. Dass auch SE jene töchter nicht kent, ist
bezeichnend: die frage, ob Vs. den älteren teil der erzählung der SE gekant hat,
wird noch zu berühren sein.
Ich habe an einem längeren stücke den nachweis zu führen gesucht , dass
die Vs. die Eddaprosa als quelle benuzt hat, und glaube, mich mit diesem begnügen
zu dürfen. Will man ein weiteres deutliches beispiel , so vergleiche man die prosa
zwischen Fäfn. und Sigrdrifm. mit der darstellung der saga cap. 19 u. 20 (B. 124,
12 — 125, 6). Hat der sagaschreiber nun die lieder und prosastücke, welche unsere
samlung enthält, gekant, sie benuzt, soweit sie benutzbar waren, hat er ferner
keine lieder benuzt, die unsere samlung nicht enthält oder früher enthielt, ist endlich
die reihenfolge der benutzung die gleiche (Beitr. III, 220 fgg ), so ist es doch wol
mehr als walirsoheinlich , dass er eben unsere samlung benuzt hat. Damit ist nun
freilich der einfluss der lebendigen Volksüberlieferung nicht ausgeschlossen , und,
was diesen punkt betrift, muss ich jezt allerdings gestehen, dass ich in meiner
fi'üheren Untersuchung manches dem sagaschreiber als wilkürliche erweiterung und
erfindung aufgebürdet habe, was ich jezt nicht mehr als uusagenmässig betrachte.^
durchaus nicht auf gleiche iiiiie zu stelhn mit dca ähnlich lautenden des sagaschrei-
bers, wie es Wilken tut s. XXX.
1) Ich war auf diese ja sehr naheliegende bemerkuufj unabhängig von Edzardi
Germ. 24, 357 fg. gekommen, freue mich aber der Übereinstimmung.
2) G. Storm Nye Studier s. 18 (Aarb. f. nord. oldk. 1877, s. ."514) erhebt die.sen
Vorwurf mit recht gegen mich. Ich muss es mir versagen, im rahmen dieser anzeige
näher auf diesen punkt einzugehen, werde dies aber in eiuem eigenen aufsatze tun.
Hier aber muss mir die bemerkung wenigstens vom herzen, dass der teil meiner Unter-
suchungen, der sich mit dm ersten zwölf capiteln der saga beschäftigt (Beitr. III,
102 SYMONS
Weitere schriftliche quellen als unsere saiuluug, die pictrekssaga und vielleicht der
ursprüngliche teil der erzählung der SE lassen sich aber nicht nachweisen, und es
nötigt uns auch nichts zu dieser annähme.
Mit dem nachweise, dass dem sagaschreiber die Eddaprosa vorlag, steht und
fält natürlich Wilkens behauptung, dass er die Eddalieder nicht oder doch nicht
vorzugsweise in schriftlicher aufzeichnung beuuzt hat. Was jener weiter zur stütze
seiner ansieht vorbringt, ist nicht gerade von bedeutung. Der Wechsel von para-
phrase und citat^ ist nicht im mindesten auffallend, die stellenweise citierten Stro-
phen (es sind, abgesehen von Sigrdr. 5 — 13. 15 — 21 in cap. 20, nur 11 ganze und
3 halbstrophen) erklären sich zur genüge aus den lausavisur des isl. sagastils. Sie
dienen meistens lediglich zur ausschmückung, hie und da auch als belege {svä er
kredit 144, 29; svä sem JcvecUt er 148, 27; svä segir i Siguräarlcviäti 154, 14;
sem skäldit kvad 156, 18; sem kvedit er 164, 4. 186, 18; sem her segir 164, 15).
Überdies wird ja häufig die strophe erst in prosa umschrieben und dann citiert
(so bei Bugge nr. 22. 23 vgl. 144, 24 fgg. 24 vgl. 148, 25 fgg. 26 vgl. 156, 17 fg.
28 vgl. 164, 13 fgg.). In der Gylfaginning ist es nicht anders: allerdings wird
hier dem Verfasser der älteren redaction noch keine sckriftliche quelle vorgelegen
haben, sondern erst dem bearbeiter von rW (vgl. jezt E. Mogk Beitr. 6, 517. 520
u. ö.). -- Wilken führt eine anzalil fälle an (s. LXX anm. 164), in denen die feh-
ler oder abweichungen der saga von den Eddaliedern sich am einfachsten durch
benutzung aus dem gedächtnis erklären sollen. Sehen wir etwas genauer zu. In
der paraphrase des ersten liedes von Helgi dem Hundingstöter cap. 9 finden sich
eine reihe von abweichungen. Das fortwährende Gramnarr für Gudmundr (102, 21.
103 , 5. 12. 17. 22) erklärt sich doch am einfachsten aus der falschen ergänzung
eines G. der vorläge. Die irrigen lokalangabeu ör Nnrvasundum 101, 22 {i Orva-
sund H. H. I, 25''), ä Lägatiesi J03, 4 {ä nesi Sägu 40, 2), viä ey pä er Sok
lieitir 103 , 24 und 'par sem heitir fyrir Grindum 103 , 23 (i Sogn 51 =*, t grindum
51^) lassen sich auf beide weisen erklären, aber 105, 7 « prasnesi (psnesi Cd.)
für das richtigere d pörsnesi H. H. I, 41» deutet wider auf eine falsche auflösung
einer abkürzung der vorläge. Die von mir Beitr. III, 238 fg. angeführten abwei-
chungen in der widergabe von Gudr. II sind teilweise wol absichtlich (so d Fjöni.
163, 10; Valdamarr 163, 23 usw.), teilweise deutliche textverlesungen, wie z. b.
sönar dreyra Gudr. 11, 22" als sonar dreyra verstanden wurde (vgl. oben s. 86 fg).
Was ferner die widergabe von Gudr. hv. 16 — 18 in cap. 41 (B. 185, 9 fgg.) an
geht, so hat der sagaschreiber hier ohne zweifei einen nicht ganz gelungenen ver-
such gemacht , die albernheit des liedes zu tilgen. Deshalb nent er erst den tod
des Sigurd inn mesti liarmr 185, 11, dann den der Svanhild särast minna liarma
16, fügt aber hinzu eptir Sigurd. Er sah die Unmöglichkeit der vier absoluten
Superlative ein, milderte sie, aber die treue gegen seine quelle verbot eine durch-
greifende besserung. Dass übrigens gerade dieses lied ihm schriftlich vorgelegen
hat, bewiese schon der offenbare lesefehler sonr 185, 21 statt snqr Gudr. hv. 19 »^
(vgl. auch 185, 4 fg. und Bugges anm. s. 199). Damit ist die reihe der wahrschein-
lichen lesefehler nicht erschöpft: ich verweise auf Bugges anm. zu 173, 4 und
287 fgg.), vieles enthält, wa.s ich heute nicht mehr für richtig halte. Die bemerkuiigen
Wilkens über diesen teil der saga s. XV — XXII sind allerdings recht dürftig. Ein-
gehend und geistvoll, wenn auch wenig rücksichtsvoll gegen andere arbeiten, hat neuer-
dings MüllenhofF ihn behandelt Zs. für deutsch, alt. 23, 113 fgg.
1) Sieh Wilken s. LXX. LXXXIII. XCV fgg.
ÜBER PROS. EDDA ED. WILKEN 103
Beitr. III , 242. 245. 251 fg. — Ich muss auch ganz entschieden die behauptung
Wilkens bestreiten, dass es die nächstliegende annähme sei, eine meniorialbenntzung
vorauszusetzen. ,,Dass es die grenzen der niöglichkoit überstiegen habe, zehn lie-
der" — es sind nach massigster berechnung, die verlorenen natürlich eingerech-
net, fünfzehn — „von dem umfange der eddischen im ganzen und grossen annä-
hernd getreu dem gedächtnisse eingeprägt zu haben, wird wol niemand behaupten
können" (s. LXXII). Die möglichkcit wird kein verständiger in abrede stellen,
aber die walirscheinlichkeit allerdings. Man versuche nur einmal ein FJddalied aus-
wendig zu lernen, und man wird an sieh selber die beobachtung machen, wie
schwer es ist. Man wird nicht einwenden wollen , dass wir keine Isländer ' sind,
wie der sagaschreiber. Wir sind auch keine Griechen oder Eömer, und doch, wie
leicht haften Homer und Horaz im gedächtnis. Der wenig fest gefügte und daher
dem gedächtnis keinen anhält bietende Zusammenhang, vor allem aber der mangel
jedes musikalischen elements in den Eddaliedern sind wol die gründe dieser tat-
sache. Unsere saga wäre 'ohne benutzung schriftlicher quellen geradezu undenk-
bar. Man nehme beispielsweise die cap. 33 — 38, die auf einer verquickung der
beiden Atlilieder beruhen: eine solche contaminierende arbeitsweise blos nach dem
gedächtnis kann nicht im ernste behauptet werden. Oder man beachte wie in
cap. 31 zuerst (159, 16 — 160, 4) Brot 15 — 19 paraphrasiert wird, dann (160, 5 —
162, 2) Sig. III, 34 — 71, wobei der sagaschreiber die durch 159, 16-160, 4
unterbrochene widergabe dieses liedes fortsezt (caj). 30. vgl. Beitr. III, 234 fgg.):
auch diese art des arbeitens ist nur zu erklären unter der Voraussetzung einer
geschriebenen vorläge. Von welcher seite wir demnach an die Vs. hinantreten , als
sicheres resultat stelt sich heraus die ausarbeitnng der saga nach vorzugsweise
schriftlichen quellen von wesentlich derselben art wie die uns erhaltenen Vülsun-
genlieder und dazu gehörigen prosastücke. Und überaus grosse Wahrscheinlichkeit
hat der schluss , dass diese samlung, die dem sagaschreiber vorgelegen hat, keine
andere war als die uns erhaltene.
Über das Verhältnis der saga zur SE kann ich kurz sein. Beitr. III, 210 fg.
habe ich anzudeuten gesucht, dass in der gedrängten skizze der Völsungensage in
der Snorra Edda (ed. AM I, 352 — 370) zwei teile wol zu unterscheiden sind: erstens
der in Ux^ überlieferte erste teil (cap. 39. 40*), zweitens die folgende erzählung,
die sich blos in x findet (cap. 40'' — 42). Jener, welcher sich bis zum tode Hreid-
mars erstreckt, ist frei und unabhängig; dieser hat die prosa der liedersamlung
und wol auch Vs. benuzt. Da nun dem zwecke der Skalda nach, die die kenningar
für gold erläutern Avill, nicht die gesamte sage von den Völsungen und Niflungen,
1) Gegen Beitr. III, 5il4 und Wilken s. LXXIII glaube ich jezt, dass die saga
auf Island geschrieben ist, nicht in Norwegen. Vgl. G. Storni, Aarb. 1877, s. 314 und
anm. 1.
2) Mit X bezeichne ich der kürze halber die durch rW repräsentierte hanilschrif-
tengruppe , mit U nicht blos den allerdings kürzenden Upsalaer codex , sondern den
noch nicht überarbeiteten text , wie wir ihn für die Skälda ebenso voraussetzen müssen,
wie er für die Gylfaginning von Mülleuhoff Zs. filr deutsch, alt. 16, 148 fgg. behaup-
tet und jezt in der sorgfältigen Untersuchung von E. Mogk Beitr. 6, 477 fgg. meiner
ansieht nach nachgewiesen worden ist. — Auf die kritik der SE komme ich im zwei-
ten teil dieser besprechung zurück. — Der hier in betraclit kommende abschnitt findet
sich nicht in W, auch nicht der erste in U enthaltene teil.
104 SYMONS
sondern nur die sage vom horte im plane des Verfassers liegen konte/ glaubte ich
blos in der erzählung, soweit U sie bietet (ich bezeichne sie mit I), das ursprüng-
liche, in dem weiteren nur in x befindlichen abschnitte (II) dagegen eine Interpo-
lation des Überarbeiters zu erkennen. Ich halte auch jezt noch diese ansieht für
wolbegründet, obgleich Wilken sie s. XV und Unters, s. 141 fgg. zurückweist. Es
hat sich Wilken hier durch die allerdings herkömliche Unterschätzung der redac-
tion U beeinflussen lassen. Indem ich die handschriftenfrage weiter unten bespre-
chen werde, soll hier nur die berechtigung und nötigung nachgewiesen werden,
II für eine jüngere, unter einfluss der samlung und vielleicht der Vs. stehende
Interpolation zu erklären. Der teil I (cap. 39 und 40'') ist eine selbständige erzäh-
lung von der otterbusse, bei weitem die beste, die wir besitzen. Sie hat noch
zwei wichtige züge, die in der jüngeren prosaquelle verwischt oder ganz verloren
sind: die trennung des wassers, in dem sich Otr aufhält, vom Andvarafors und die
Wünschelkraft des rings. Für den ersten absatz von cap. 40 in x (SEI, 356 ''~i^)
bietet U nur das folgende: nü tok Hreiämarr gullit at sonargiqldum , en Fäfnir
oh Begimn beiddusk af nqkkurs i hröärgiqld. peir dräpu fqdur sinn. Fäfnir
lagdisk d feit ok vard at ormi, en Reginn für ä brott (SE II, 360). Ohne läug-
nen zu wollen, dass die uns erhaltene hs. hier gekürzt hat, 2 glaube ich doch,
dass im wesentlichen auch die ursprüngliche redaction der Skälda nicht viel aus-
führlicher war, und dass der erste absatz von cap. 40 in x überarbeitet ist. Der
anfang der Überarbeitung ist noch deutlich genug erkenbar durch die frage hvat er
fleira at segja frä gullinu? 356^ Hreiämarr im,ni peim enskis pennings af gullinu
scheint der älteren stelle 354 ' Luki kvaä kann eigi skyldu liafa einn penning eptir
nachgebildet. Ursprünglich scheint auch der zug, dass Fäfnir und Eegin beide
den vater töten {peir dräpti fqdur sinn U = pat vard üräd peira hrcedra , at peir
dräpu fqdur sinn til gullsins x). Wenn es dann aber nachher in x heisst (356*"):
Fäfnir svarar svd, at litil vän var, at kann mundi midla gullit vid brödur sinn,
er kann drap fqdur sinn til gullsins, wonach also Fäfnir allein den vatermord
begangen hat, so ist dieser Widerspruch, wie Edzardi Germ. 24, 360 bereits tref-
fend bemerkt hat , daraus zu erklären , dass der Überarbeiter hier bereits die Edda-
prosa benuzt hat, die natürlich den mord auf Fäfnir allein schieben muste, da
Regln der erzähler ist. Bemerkenswert ist noch , dass in U Odin den fluch spricht,
in X wie in der Eddaprosa und Vs. Loki. Die strophe Eegm. 6 deutet den Sprecher
nicht an, denn das q. l. in K ist keinesfals ursprünglich. Odin gibt den ring,
bedeckt das barthaar: solte nicht auch ihm ursprünglich der fluch zukommen? Die
erzählung von der otterbusse in SE war gewiss die nächste quelle des sam-
lers: hierin stimme ich Wilken s. XXIX fg. bei. Nach dem vorher erörterten war
sie also jedesfals mittelbar die quelle der Vs.; es wäre indes möglich, dass die Vs.
für ihr cap. 14 auch direkt aus der SE geschöpft hat. Einzelne Übereinstimmun-
gen des textes^ sind für diese annähme weniger von bedeutung als die bemerkung
1) Die kenning otrgJQld (nauögJQld Asanna, rögniälmr) soll erklärt werden, wei-
ter nichts. Vgl. SE 1, 356. II, 360.
2) Beachtenswert ist aber , dass U in cap. 39 hie und da ausführlicher ist als
x: ok haföi kann ßegar bana SE II, 359^ (auch H) ; kann var svd margkunnigr at Kann
var stundwm ßskr i vatni 359-3 = hann var ßskr i vatni x; at hann skal til ganga
ok sjd 360" = at hann skal sjd x An andern stellen hat aber U allerdings auch
gekürzt.
3) Wie z. b. Vs. 114, 6 fgg. at hverjum skyldi at bana verÖa, er ßann gullhring
fctti ok svd alt gullit vgl. mit SE I, 3f)4, 9 fg. at sd baugr skyldi vera hvcrjuin hqfudsbani
ÜBER PROP. EDDA ED. WILKEN 105
der Vs. 114, 26 fg. [liillit er sidan Icallat otrsfjjqld, olc her äccmi af teMn. Bugge
liält sie für einen jüngeren znsatz, sie kann aber auch vom sagasclireiber herrüh-
ren im anschluss au SE I, 356 1. IT, 360". So auch Wilken s. XXX anm. 61.
Ganz anders steht es mit II. Dieser teil, der in U fehlt, hat zunächst niclit
blos die Eddalieder , sondern die samlung entschieden' benuzt. Für die lassung von
cap. 40" in x ist dies bereits gezeigt. Die erzählung von der tötung F;ifnirs gibt
sich deutlich kund als ein auszug der einleitenden prosa zu Fäfnir. Ich setze die
stelle her.
Einl. zu F:ii"n. (Hild. s. 193): SE I, 358.
Sifiurär ok Reginn förn upp ä Gnita- Eptir pat förii peir Sicjurär olc Beg-
heiäi ok hittu [)ar slöd Fäfnis, fa er inn ä Gnitalieiäi; pd gröf Sigardr grqf
bann skreid til outns. par goräi Sig- ä veg Fäfnis ok settisk par i. Fm er
tirdr grqf inikla ä veginum ok gckk Fäfnir skreid til vatns , ok kann kom
Sigurdr par i. En er Fäfnir skreid yfir grqfna, pä lagdi Sigurdr sverdinu
af guUiuu, blos bann citri, ok braut i gqgnum liann, [ok var pat bans bani.J
pat fyr ofan b^fud SigurSi. En er Fäf-
nir skreid yfr grqfna , pa lagdi Sigurdr
hami med scerdi til hjarta.
Der Überarbeiter der Skälda hat deutlich die beiden mit en er Fäfnir skreM
beginnenden sätze z. 6. 9 zu einem zusammengezogen * und hat überdies aus dem
pä er hann skreid til vatns z. 3 das til vatns entlehnt. Es wird dies beispiel
genügen. Bugge N. F. s. XXX findet es mit recht auffallend , dass die erwachende
walkyre sich SEI, 360 Hilde nent, nicht, wie in R, Sigrdrifa. Die identificierung
von Brynhild und Sigrdrifa ist möglicherweise im anschluss an die "Vs. vorgenom-
men. Wenn es aber in der SE heisst : pä vaknadi hon ok nefndisk Hildr (vgl.
Helr. Brynh.63); hon er kqllud Brynhildr ok var valkyrja , so sehe ich hierin
eine bisher nicht beachtete, aber wahrscheinliche bestätigung von Svend Grundt-
vigs geistvoller Vermutung, dass Helr. Brynh. 7^10 fälschlich aus Sgrdr. in dies
lied hineingeraten seien (Edda'-' 230''; Bugge N. F. s. 416). '^ Nur füge ich hinzu,
dass auch str. 6 in volständigerer und besserer gestalt einmal zu Sgrdr. gehört hat;
so wird der Überarbeiter von x das lied in der von ihm benuzten recension der
samlung gekaut und daher den namen Hildr in seinem auszug hinzugefügt haben.
Dadurch gewänne auch die identificierung von Brynhild und Sigrdrifa in Vs. und
SE einen anhält. Die Vermehrung von Gjukis familie durch eine sonst unbekante
tochter Gudny SE I, 360 vermag ich allerdings aus der benutzung der samlung
nicht zu erklären. Dass eins der verlorenen lieder den namen bot, ist unwahr-
scheinlich, da weder Vs. noch Gripisspä ihn kennen. Ist sie eine Variante der
Gulh-Qud Gudr. I, 12 fgg.? vgl. HS'^ 359. Für die erzählung von Gudruns Selbst-
mordversuch, den Schicksalen der Svanhild und der söhne Jonakrs (SE I, 366 fgg.)
ist ausser den liedern , die diesen teil der sage behandeln, die prosa- einleitung zu
Gudr. hvQt benuzt, wie ich gegen die von Bugge N. F. s XXXI ausgesprochene
er dtti (== at sä baugr skyldl veröa at bana hverjum er cetti U). Die version der Vs. solieint
eine Verschmelzung des satzes dtr SE mit Regm. 5 zu bezwecken (s. oben s. 100).
1) Durch abirren, also unabsichtlich, meint Edzardi Germ. 24, 358 anm. 1. Sehr
richtig bemerkt dieser an derselben stelle, dass auch das aufwachsen Sigurds an Hjalp-
reks hof in SE auf benutzung der Eddaprosa deutet, da dieses nur einen sinn habe
im Zusammenhang mit der vaterrache , von der SE nichts erwähnt.
2) Wilken s. LXXXIX anm, 10 leugnet sie.
106 STMONS
ansieht annehmen rauss. Aber schon die besondere ausführlichkeit beweist , dass
hier dem Überarbeiter noch andere quellen vorlagen; der lezte kämpf der brüder
mit den mannen jQrmuureks ist nach der Eagnarsdräpa behandelt (vgl. auch Bugge
in dieser ztschr. 7, 384).
Weniger zuversichtlich als benutzung der samlung behaupte ich für den teil II
der SE auch kentnis der Vs. Diese habe ich Beitr. III, 211 zu erweisen gesucht
durch vergleichung der erzählung von Gunnars ende in beiden quellen (SE 1 , 364,
wozu ich aber die noch genauer stimmende fassung von le./J SEII, 574 hätte
halten sollen, ^ und Vs cap. 37, B. 178, 5 fgg.) Indes Hesse sich die darstellung der
SE zur not auch ausschliesslich aus benutzung von Atlm. 63 erklären, wenngleich
wesentliche züge sich auch in Akv. 32. Oddr. 29. Drap Nifl. (Hild. 239, 15 fg.)
finden. Aus diesen vier berichten hat die Vs. ihre erzählung zusamraengesezt. ^
Wahrscheinlich , aber nicht unbedingt nötig ist es , dass SE wider aus ihr geschöpft
hat. — Auf einzelne Übereinstimmungen in kleinigkeiten, wo SE näher zu Vs.
steht, als zu R möchte ich weniger gewicht legen. Auch will ich über den teil
der erzählung der SE, der mit der grossen lücke in R zusammentritt, hinweg-
gehen , da ich den sorgfältigen und erschöpfenden Zusammenstellungen von Edzardi
Germ. 24, 359 nichts hinzuzufügen hätte. Da R hier nicht zu vergleichen ist, las-
sen sich die dort angeführten Übereinstimmungen von Vs. und SE (sowie Grip. und
Sig. III, 1 — 4) zunächst nur auf gemeinsame benutzung des verlorenen teils der
samlung zurückführen.
Dagegen — auch darauf hat bereits Edzardi hingewiesen — scheint SE I, 366
die erzählung der Vs. von Atlis tod, die aus einer Vermischung von Akv. und Atlm.
entstanden ist, gekant zu haben. Wie in der Vs., lässt auch der Überarbeiter den
Atli töten von Gudrun und dem söhn Högnis nach Atlm. , dann aber die halle ver-
brennen , nach Akv. Die Versöhnung und bestattung hat er aber verständiger weise
fortgelassen. Beweisend ist auch dies zusammentrelFen nicht. Auch die identifi-
cierung von Brynhild und Sigrdrifa kann ganz wol , wie im Np , ein selbständiger griff
des bearbeiters sein, obgleich man natürlich auch hier geneigt ist, an den Vorgang
der Vs. zu denken (vgl. Beitr. III, 255 — 62). Dagegen ist von grosser bedeutung
die eiufülirung der Äslaug (SE I, 370 eptir Sigurd svein lifdi döttir er Aslaiig het,
er fcedd rar cd Ileimii^ i Hlymdqlum , ok eru padan eettir komnar störar). Wie
schon Beitr. III, 211 behauptet worden ist, deutet diese stelle unverkenbar auf
kentnis der Vs. in Verbindung mit der Ragnarssaga in der form , wie unser codex
sie bietet. Wilken scheint dies s. XV zu bestreiten: ich sage ,, scheint," denn der
satz, in dem er sich über unsere frage auslässt, ist wider so gewunden und unklar,
dass ich ihn nicht ganz verstehe. Unters. 142 findet Wilken die nachträgliche
erwähnung der Aslaug in r zwar unpassend, meint aber, dass diese unzuträglich-
keit verschwinde durch die vergleichung von le/^, wo es schon am Schlüsse von
c. 41 heisst: ej)tir Sigurd svein lifdi eptir döttir er Aslaug het; hon var uppfcedd
1) Vgl. namentlich das in r fehlende en svä lek kann hqrpuna in l&ß mit
Vs. 178, 11.
2) Vgl. Beitr. III, 244. Auf die nicht sachlichen einwendungen Wilkens s. LXV fg.
gegen die dort gegebene darstellung einzugehen, sehe ich mich nicht veranlasst. Das-
selbe unsichere schwanken zwischen allerhand möglichkeiten ohne irgend einen leiten-
den gedanken, das Wilkens eiuleituug allerwärts kenzeichnet, vertritt auch hier die
stelle einer geordneten Widerlegung. Ein gereizter und herrischer ton kann diesem
mangel natürlich nicht abhelfen.
ÜBER PROS. EDDA KD. WILKEN 107
at Heimis i Hlymdqliim oli erii pacfan Jwnmar attir slörar (SE II, 573). Ich
bestreite nicht, dass leß der gemeinsamen vorläge näher steht als r (Edzardi Germ.
21, 446. Wilken , Unters, s. 48 fgg.) , auch hier das richtige haben mag, obgleich
die unmittelbar folgende erwähnung der Vqlsnnga drekJca in 1 eß nicht weniger
unpassend eingefügt ist als an der späteren stelle in r, und jene Hs. die unzu-
träglichkoit verschlimmert hat durch weglassung der halbstro])he Bragis. Auf die
Stellung des satzes komt es aber überhaupt weniger an. Im ersten teil meiner
Unterss. über die Vs. habe ich nachzuweisen gesucht (Beitr. III, 200 — 15), dass
Vs. und Ragnarss. ein ursprüngliches ganze bilden , und dass die anknüpfung von
Eagnars geschlecht vermittelst der Aslaug an die Völsunge eine erfindung des Ver-
fassers dieser Y^lsunga-Ragnarssaga ist. ,,In der künstlichen hofgenealogie, die
den nachkommen des Harald härfagri ihre nicht übergrosse legitimität versüssen
solte, bildet diese erdichtung gowissermassen die zweite stufe." (a. a. o. s. 213).
Die Zusammengehörigkeit der Vs.-Ragn. s. , die auch Storni, Ragnar Lodbrok s. 109
und Edzardi Germ. 24, 356* behaupten, hat Wilken s. XII fgg. besprochen. Er
hält eine sonderexistenz der Vs. s. ohne Ragn. s. für wahrscheinlich, da auf eine
solche als Sigurdarsaga angespielt werde im Nj) c. 5 ex. (B. 65 , 5) und wol auch
im Hättatal c. 111 (SE I, 646). Während die erwähnung der Sigurdars. an lezterer
stelle zu nichts verwendbar ist,"^ wird für erstere noch gezeigt werden, dass nicht
Vs. gemeint ist, sondern der ursprünglich selbständige teil der liedersamlung, der
die Schicksale Sigurds erzählt. Dass aber die litterarische fiction der Aslaug als
tochter des Sigurd und der Brynhild von unserem sagaschreiber herrührt , ist Aveder
von Wilken^ noch meines wissens bisher von sonst jemand geleugnet.'' Ich sehe
in der Aslaugsage eine alte (auch in Deutschland bekante? vgl. Grimms KHM
no. 94 und Ili, 170 fgg.) in Norwegen localisierte sage, die der sagaschreiber für
seinen genealogischen zweck mit Sigurd in Verbindung gebracht hat. Den näch-
sten anlass dazu bot ihm die ältere Aslaug, die gattin Ragnars, und die Verbrei-
tung des namens Sigurd in der norwegischen königsfamilie. So lauge diese ansieht
nicht entkräftet ist — und es kann nicht in meiner absieht liegen , die gründe,
die mich zu ihr geführt haben, hier zu widerholen — wird es wol die nächstliegende
annähme bleiben , dass der Überarbeiter der Skälda seine kentnis von Aslaug und
ihren nachkommen {ok eru paäan cettir komnar störar) der VQlsunga-Ragnarssaga
verdankt. Und damit zusammengehalten gewinnen auch die ferneren oben bespro-
cheneu Übereinstimmungen zwischen Vs. und Skälda cap. 40'' — 42, obgleich au sich
nicht gerade schlagend, eine erhöhte bedeutung und machen es wahrscheinlich,
dass der Überarbeiter der SE ausser der liedersamlung für seine darstellung der
Völsungensage auch die Vs. benuzt hat.
S. LXXVII— LXXX handelt Wilken über das Verhältnis der Vs. zur pidreks-
saga. Ich habe bereits bemerkt (oben s. 83 fg.), dass ich meine beurteilung dieses
Verhältnisses Beitr. III, 263 fgg. als unrichtig erkant habe und zurücknehme, und
dass ich jezt mit Storm Nye Studier s. 18 fg. (Aarb. 1877, s. 314 fg.) und Edzardi
Germ. 23, 75 anm. die schon früher von Bugge ausgesprochene ansieht vertrete,
1) Lezterer führt eine anzahl von berührungen in stil und Sprachgebrauch zwi-
schen beiden sagas an, auf die ich verweise.
2) Ebensowenig die stelle Fms. V, 210. Vgl. noch Wilken s. LXXXl fg.
3) Vgl. Unters, s. 142 anm. 11.
4) Ich darf mich der hofnung hingeben, dass auch Gustav Storm diese ansieht
jezt teilt (entgegen der Eagnar Lodbrok s. 100 ausgesprochenen).
1 08 SYMONS
wonach die beiden sagas gemeinsamen stücke ursprünglich der ps. angehören und
aus dieser in Vs. entlehnt sind. Wilken trent cap. 22 (= ps. c. 185) in seiner
beurteil iing von den anderen gemeinsamen stellen. Jenes betrachtet er mit P. E.
Müller SB II, 66 als eine jüngere Interpolation , während er diese für unwilkürliche
Übereinstimmungen zu halten scheint, die in der Vs. nach „nordischer volksorinne-
rung" kürzer, in der ps. nach ,, deutschen gewährsmännern weitläuftiger und
genauer" widergegeben sind. Im grossen und ganzen erscheint ihm aber die Vs.
als die ältere saga. und Wilken sucht durch eine sehr gezwungene deutung der
Worte en sumt med hveäslcap die bekanten angaben des prologs zur ps. auf unsere
Vs. zu beziehen. Es liegt wol auf der band, dass die übereinstimmenden partien
in Vs. und ps. gleich zu beurteilen sind. Gehört c. 22 der Vs. ursprünglich der
ps. an, was ich nicht mehr bezweifle, so müssen wir für die anderen stellen
(B. 158, 17 fgg. 162, 11 fgg. 169, 9 fgg-) dasselbe annehmen. Da aber diese
stellen niclit aus dem Zusammenhang entfernt wei den können , wii-d auch c. 22
nicht von einem interpolator, sondern vom sagaschreiber eingefügt sein. Mit ande-
ren werten , wir müssen an dem von Bugge N. F. s. XXXV über das Verhältnis
beider sagas bemerkten festhalten. — Wie bereits oben s. 93 gezeigt wurde, sind
überhaupt Wilkens ansichten über die ps. sehr eigentümlich. Sie soll in der lie-
dersamlung benuzt sein (vgl. auch Gott. gel. anzz. 1878, s. 86), ja sogar in einem
der lieder selber, Gudrünarkvida III.' Dabei wird die möglichkeit, die notwen-
digkeit darf man wol sagen, einer jüngeren eiuwanderung deutscher sage in den
norden ganz übersehen, wie sie nicht nur Gudr. UI, sondern namentlich auch die
Atlilieder voraussetzen (oben s. 96 fg.).
Kürzer als die über die Vs. ist Wilkens Untersuchung über den Np (s. LXXXV
- CHI). Leider kann ich mich mit ihren resultaten ebensowenig einverstanden
erklären wie mit den soeben besprochenen über die Vs. Dieselbe falsche grund-
anschauung beherscht auch diese Untersuchung. Während ich über die benutzung der
Eddalieder in Nf) mich bereits oben ausgesprochen habe (s. 88 fgg.), soll hier das
Verhältnis zur samlung und zur Vs., die Wilken in §§ 15—17 bespricht, noch kurz
ins äuge gefasst werden. Wilken behauptet auch hier, dass nicht, wie bisher wol
jeder annahm, Np die samlung, sondern umgekehrt die samlung den Np benuzt
hat (vgl. s. CVII) , insofern nämlich die Übereinstimmungen in beiden quellen nicht
aus gemeinsamer benutzung der vermuteten Sigurdarsaga zu erklären sind (vgl.
s. CIV). Ferner soll aber der Np die uns erhaltene redactiou der Vs. (wahrschein-
lich schon verbunden mit der Kagn. s.) gekant haben , auf welche der Verfasser
c. 5 ex. hinweise mit den worten sein segir i sqyu Siguräar (B. 65, 5). Erwägt
man nun , dass nach Wilkens ansieht die Vs. nur eine jüngere recension der alten
Sigurdarsaga ist, so hätte der Verfasser des Np die ältere und jüngere recension
1) Ich will dabei ganz übersehen, dass s. CVII in niclit sehr methodischer weise
lieder und samlung der lieder zusammengeworfen werden. Gewiss ist Guör. III der
jüngsten lieder eines (vgl. Jessen, Eddalieder s. 59, Edzardi Germ. 23, 340 fg. Anders,
aber gewiss unrichtig, MüUenhotf Zs. für deutsch, alt. 10, 172 fg. und Martin DHB II,
xiv), aber es wird keinem menschen einfallen, es bis in die zweite hälfte des 13. jhs.
hinabzurücken. Schon die nameusform pjoörekr (vgl. E. Koch, die Nibelungensage ^
s. 51 l'g. Edzardi Germ. 23, 86) und ebenso die form Rerkja, den piörekr und Erka
der ps. gegenüber, würden es verbieten, an einen einfluss der piörekssaga zu denken.
Üb Konrad Maurer in dieser Zs. 2, 444 die Guör. III mit recht ins 11. jh. sezt, wage
ich noch nicht zu entscheiden.
ÜBER PROS. EDDA ED. WILKEN 109
derselben saga iiebeneiiuuiJer benuzt. Allerdinj^s wird es nirgendwo reibt klar,
ob Wilken sich diese allen Schwierigkeiten abhelfende Sigurctarsaga als nur in
niündlicbor Überlieferung lebend ^ oder in schriftlicher aufzeichnung neben der Vs.
bestehend vorstelt. Ferner: nach Wilkens darstellung hat die samlung neben der
Vs. den Njj benuzt (s. CVIl. anm. 10), andererseits aber soll N[) die Vs. benuzt
haben (s. XIV. XCVIII) , und alle drei quellen haben wider gemeinsam die alte
Sigurdarsaga benuzt (s. VIY). Das wäre ja an und für sich alles möglich: welche
unnatürlichen coniplicationeu werden aber hier dem leser zugemutet!
Dass zunächst die alte ansieht, dass die samlung dem N[) vorgelegen hat,
die einzig richtige und mögliche ist, wird nach dem für das ähnliche Verhältnis
zwischen samlung und Vs. bemerkten kaum noch einer umständlichen erörterung
bedürfen. Auch hier wäre schon die erzähliing Gcsts von Eegin und Sigurd bewei-
send. Diese, die hier dem Nornengast in den mund gelegt wird, ist natürlich
demgemäss eingerichtet, und übergeht den bex-icht von der otterbussc begreiflicher-
weise gänzlich. Ich will den inhalt von cap. 3 — 5 und 8 , denn nur diese vier
kommen in betracht, in gedrängter kürze auf die Übereinstimmungen mit der sam-
lung hin prüfen. Der anfang von c. III (B. 55, 1 15) entspricht im algemeinen
der prosa frä dauda Sinfiqtla nach einer algemein gehaltenen, durch die einklei-
dung bedingten einleitung. Dass der Verfasser dies prosastück ganz gekaut hat,
und nicht blos den getreu nachgeschriebenen schluss, wird wahrscheinlich durch
55, 10—12, die E 175, 1 fgg. (Hild.) entsprechen. Daran schliesst sich unmittel-
bar (55, 15 — 56, 1) eine im ganzen getreue widergabe der verwendbaren werte
aus der prosaischen einleitung zu Eegm. (Hild. 186, 2 — 6). Dort heisst es dann
hann [Reginn] sagäi Sigurdi, frä .... ßeim atbiiräum, at Oäinn olc Hcenir usw.,
und es folgt die erzählung von der otterbusse. Diese zu berichten lag nicht im
plane desNp, der also lakonisch schliesst ok svä atbnräiom undarligum. 56, 1 — 4
sind auf Gest bezüglicher zusatz. Cap. IV gibt in den ersten Zeilen (B. 56, 5 fg.)
R 189, 1 fgg. (prosa vor Eegm. 13) wider, citiert Eegm. 13. 14 und erzählt 57, 5—12
das schmieden des schwerts, fast wörtlich nach der prosa vor str. 15,'^ die citiert
wird. Die Vorbereitungen zur vaterrache werden 57, 21 — 59, 12 weit ausführlicher
berichtet als in der samlung. Doch sind vielleicht einzelne früJiere andeutungen
verwertet (frä daud. Sinf. Helg. Hund. I, 14 und II prosa vor 13). Über die namen
der von Sigurd erschlagenen Huudingssöhne in N{i vgl. Wilken XC fg. anm.'' .\i\
benutzung anderer quellen als der samlung ist nicht zu denken: die erfindung des
Nf> ist sehr übel. Eegm. 16-25 werden citiert; die dazwischeustchende prosa
60, 19 61, 4 ist etwas wortreicher als die der samlung zwischen str. 18 und 19.
Die Schlachtbeschreibung 63, 7 65, 1 (dazwischen Eegm. 26) ist recht ausführ-
lich, aber nach den andeutungen von E 192, 1 — 5 frei und keineswegs geschickt
ausgeführt. Mit der darstellung der Vs. cap. 17 zeigt sie gar keine Übereinstim-
mung: weshalb N|), hätte er die Vs. gekaut, es vermieden haben solte, ,,die schon
etwas stereotyp gehaltene Schilderung der Vs. noch einmal zu copieren" (Wilken
1) Überhaupt lässt sich von einer mündlichen saga nicht reden: das eigentüm-
liche der saga, im gegen.satz zur sage (sQgn) ist ja gerade die schriftliche aufzeichnung.
2) Der satz über den üegishelm ist allerdings nicht verwertet (Hild. 190, 4 fgg.).
Wilken s. XCII, anm. 18.
3) Die ganze Verbindung Sigurds mit den Hundingssöhnen scheint mir eine jün-
gere verAvirrung unter einfluss der Helgisage, wie ich Beitr. IV', 188 fg. zu zeigen ver-
sucht habe. Vgl. auch MüUenhotf, Zs. für deutsch, alt. 23, 138 fg.
110 STMONS
XCIII) ist niclit abzusehen. Dann wird 05. 1 — 5 in aller Iciirze hingewiesen auf
die tötung des drachen und des zwergs , die erwerhung des hortes und den bosucli
bei Brynliild , die also auch hier mit Sigrdrifa zusammengeworfen wird. Für
die weitere sage verweist der Verfasser auf die darstellung der gleich näher
zu erörternden Siguräarsaga. — Cap. VI und VII behandeln abenteuer , die
hier nicht zu untersuchen sind.i — In cap. VIII wird dann Sigurds tod erzählt:
die Version der tütung im bette gilt für die algeraeiu angenommene, auf die
abweichenden relationen wird 68, 19-69, 4 hingewiesen in nahezu wörtlicher
anlehnung an die prosa frä dauda Sigurdar nach Brot af Sig. Für die wei-
tere darstellung des todes der Bryuhild sind sicher benuzt die prosaische uach-
schrift zu Gudr. I (69, 5 — 7) und die pros. einleitung zu Helr. Brj^nh. 68, 8 — 10. 16).
Die erzählung des Nj) ist aber ausführlicher (69, 15 — 70, 8), vgl. Wilken XCIV.
Nun folgt die Helreid ganz (70, 9 — 74, 21), worauf nach einer abschliessenden
bemerkung Olafs der Verfasser in cap. VIII, B. 75, 1 zur erzählung von der beab-
sichtigten Romfahrt der Eagnarssöhne übergeht. — Sieher hat der sagaschreiber
demnach folgende stücke der samlung gekant: die prosa frä dauda Sinfjötla (den
schluss von Hild. 176, 24 an), die einleitende prosa zu Regm. und die prosaischen
stücke vor str. 13, str. 15, str. 16, str. 19 und str. 26 dieses gedichts, sowie Regm.
selbst von str. 13 an in derselben Ordnung wie R; ferner die prosaische uachschrift
zu Brot (Hild. 214, 6 fgg.) , die prosaische nachschrift zu Gudr. I (Hild. 220, 6 fgg.),
die prosaische einleitung zu Helr. Brynh. (Hild. 236, 1 fgg.) und dieses gedieht
ganz. Dass er auch den aufang des Sinfjotlalok gekant hat, ist mir wahrschein-
lich (vgl. NJ)55, 10 fgg. = R 175, 1 fg., und 58, 4 — 6), aber nicht gewiss. Er
kennt die Helgisage (55, 11. 58, 8 — 13): ob aber die erhaltenen Helgilieder, ist
wider ungewiss. Er ist ferner wol unterrichtet über den teil der sage, der zwi-
schen Sigurds vaterrache und seiner ermordung mitten inne liegt. Er erwähnt die
tötung Fafnirs und Regins, die erwerhung des hortes, die erweckung der Sigrdrifa -
Brynliild auf Hindarfjall , die Vermählung mit Gudrun (65, 1 — 7), lehnt aber die
erzählung dieser begebenheiten ab , offenbar weil Nornagest an ihnen sich nicht
wol beteiligt haben konte, und verweist für ihre darstellung auf die sagn Sujnräar.
Was meint der sagaschreiber nun mit jener Sigurdarsaga? Diese frage ist
zunächst zu beantworten. Bugge hatte in den anmerkungen zu Nf) die Volsunga-
saga darunter verstanden, wenn auch nicht gerade in der erhaltenen redaction:
dagegen bezieht er sie N. F. s. XLIII auf die samlung, welche wir Ssemundar-
Edda zu nennen pflegen. ^ Wilken s. XCVIII (vgl. s. XIV) hält an Bugges erster
deutung fest (s. auch P. E. Müller SB 2. 113, der sich jedoch viel weniger bestirnt
über eine benutzung der Vs. auslässt , als Wilken behauptet) : er erweitert sie
sogar, indem er auch nicht einmal an eine andere recension der Vs. als die uns
erhaltene glaubt denken zu müssen, also auch bereits verbunden mit der Ragnars-
saga. Neuerdings hat auch Müllenhoff Zs. f. deutsch, alt. 23, 113 sich in dersel-
ben weise ausgesjirochen : seiner ansieht nach gibt N{) nur eine nachlese zur Vs.
Müllenhoff stelt diese auffassung als selbstverständlich hin : mir aber scheint sie
nichts weniger als selbstverständlich, nicht einmal wahrscheinlich oder auch nur
1) Für Sigurds kämpf gegen die Gandall'ssöhne verweise ich auf Beitr. HI, 276
anm. 1 und die dort augtführte ILtteriitur. Vgl. auch Wilken XCIII.
2) Bugges Worte lauten: ,,IIervcd har han rimelig en nedskreven frenistilling af
Sigurds liv for öie; man da der ellers intet spor er til , at hau har kjendt Volsunga-
saga, synes det rimeligere , at herved mene.s de meddelelser i banden og ubunden form
om Sigurd, som indeholdes i den samliug , vi kalde Süeniundar-Edda."
ÜBER PROS. EDDA ED. WII.KEN 111
naheliegend zu sein. Per sagascliveüjev hat für die teile der sage, von denen er
uns berichtet, unleugbar die Vs nicht benuzt, sondern die Eddaprosa. Schon
dadurch wird es glaublich, dass er auf deren weitere darstellung mit der Sigurflar-
saga verweist. Wilken meint freilich s. XIV, anm. 15, dass die eddischen lieder
mit verbindender pros;i nicht als eiue saga Sigiirdar gelten können. So gefasst,
allerdings kaum. Viel weniger aber kann es die Volsungasaga, wie sie uns vor-
liegt, die von 43 capiteln nur cap. 13 — 30 (resp. 31), also nicht einmal die hälfte,
dem öigurd widmet. Wilken muss denn auch annehmen , dass unsere Volsunga-
saga in älterer gestalt, ausser dass sie nicht mit der Ragnarssaga verbunden war,
auch ohne die acht ersten capitel existiert hat;' in der jüngeren redaction, die
dem Nf» vorgelegen haben soll , soll dann die saga neben dem neuen auch noch
den alten namen Sigurdarsaga weitergeführt haben. Man müste aber viel weiter
gehen und auch annehmen, dass diese ältere saga auch ohne cap. 9. 10 und nament-
lich ohne die ganze schlusspartie c. 32 — 43 existiert hätte. Nur auf eine solche
würde der narae Sigurdarsaga anwendbar ge-wesen sein, nicht aber auf unsere Vs.,
auch nicht in der von Wilken vermuteten älteren gestalt.
Um die berufung des NJ) auf eine Sigurdarsaga zu erklären, muss ich mich
einer ansieht Edzardis anschliessen, die dieser bereits widerliolt und, wie mir
scheint, mit gutem gründe geäussert hat (Germ. 23, 18G ig. 24, 350. 3(!2 fg.).
Edzardi glaubt, dass die Sigurdslieder in R einen abschnitt für sich bilden, der
Hild. 176, 24 anhebt und ursprünglich bis zur prosa von Helr. Brynh. reichte.
Eine fortsetzung dieses abschnitts bildet die weitere prosa bis vor Gudr. III. Die-
ser abschnitt, die Sigurdarsaga, bestand wahrscheinlich schon vor unserer samlung
und ward dieser als ganzes eingefügt, jedoch so, dass der Vorrat an liedstrophen
vom samler beträchtlich erweitert worden ist. Aber es können bereits vor der ein-
fügung in die samlung die Strophen die prosa weit überwogen haben, wie die
Hälfssaga und Hervararsaga zeigen. Andererseits macht es Edzardi glaublich, dass
der Verfasser der Sigurd. s. mit den Worten svä sein secfir i Sigurdarkvidu inni
sTcqmmw (Hild. 220, 9 fg.) ursprünglich nur auf Sig. sk. 42 fgg. hingewiesen und
nur diese citiert haben wird. Erst der samler ergänzte den anfang des liedes, wie
ähnlich die SE ursprünglich nur den anfang des Grottasöngr, die Hkr. nur den
anfang der Häkonarmäl hat eitleren wollen (vgl. Möbius Edda s. IX) , die dann ein
späterer abschreiber vervolständigt hat. Diese ansieht Edzardis ist allerdings vor-
läufig nur eine hypothese, aber eine wolbegründete und ansprechende hypothese.
Ein diplomatisch getreuer abdruck des betreffenden abschnitts von R, dem wir wol
bald entgegensehen dürfen, wird notwendig sein, bevor in dieser frage das lezte
wort gesprochen Averden kann.''^ Unleugbar aber gewint Edzardis Vermutung eine
1) Über die ursprüngliche Verbindung von Vs. und Rs. vgl. oben s. 107. Über
die von mir bestrittene, von Wilken im anschhiss an Möbius wider vermutete ältere
vecension , die den rimur vorgelegen haben soll, habe ich dem Eeitr. IIl, 202 fgg.
bemerkten nichts hinzuzufügen, da Wilken keine wesentlich neuen gründe vorbringt.
2) Doch beachte man vorläufig folgendes. Die prosa in R Hild. 176, 24 —
236, 9 bietet eine zusammenhängende, fortschreitende erzählung , von Signrtls geburt
bis Brynhilds tod. Dass der samler, namentlich in der prosa der Regm., interpoliert
hat, ist glaublich. Die einleitende prosa zu Fdfn. ist in R ebensowenig von der schluss-
prosa der Regm. getrent, wie Sgrdr. und Fäfn. Während Sgrdr. überhaupt keine Über-
schrift hat, hat R einen titel fra daupa f unmittelbar vor VMn. str. 1. Ebenso folgt
die prosa zu Guör. I ohne trennungszeiehen auf die schlussprosa von Drot, und erst
112 SYMONS, ÜBER PROS. EDDA ED. WILKEN
kräftige stütze und zugleich eine erliöhte bedeutuiig durch das citat des N[». Die
sicher benuzten stücke der samlung gehören alle zu jenem wahrscheinlich früher
für sich bestehenden teile, der die Sigurdssage behandelt. Ebenso diejenigen par-
tien , deren erzählung der Verfasser mit einem hinweis auf die Sigurdarsaga über-
geht. So werden wir zunächst mit Bugge die citierte saga Sigurdar auf den teil
der samlung , der Sigurds Schicksale in gebundener und ungebundener form erzählt,
beziehen müssen, den namen aber dadurch erklären, dass dieser teil ursprünglich
als Sigurdarsaga für sich bestand. In der Hs. der samlung, die der Verfasser
bennzte, war vielleicht dieser abschnitt noch als besonderer teil gekenzeichnet durch
den namen Sigurdarsaga. Denn , dass er diese noch in ihrer selbständigen gestalt
benuzt hat, ist unwahrscheinlich: einmal scheint doch auch der anfang des Sinf-
j(jtlalok ihm bekant gewesen zu sein , und ferner wird die Sigurdarsaga kaum alle
Strophen der Eegm. 13 fgg. bereits in der reiheufolge des samlers enthalten haben.
Ob der Verfasser nun auch die Vs. gekant hat , ist ziemlich gleichgültig , da
sie keinesfals von ihm benuzt ist. Dass Nf) c. 4 (B. 58, 19), wie die prosa frä daud.
Sinf., SE I, 26: 522, Frakkland als Sigmunds reich nent, die Vs. dagegen liüna-
Itmcl (vgl. Beitr. III, 292 fg. und vor allem jezt Müllenholf a. a. o. 23, 165 fg.)
spricht nicht gerade dagegen, und das gleiche wäre über die von P. E. Müller,
Wilken und Edzardi angeführten differenzen zu sagen. Dass Np wie Vs. Sigrdrifa -
Brj'nhild zusammenwirft, spricht nicht dafür : deren identität war wol die algemeine
jüngere auffassung. Ebensowenig kann die erzählung in cap. 8 eine kentnis der
Eagnarssaga beweisen oder nur glaublich machen: die dort erzählte unterbrochene
Eomfahrt der Lodbroksöhne stinit im grossen und ganzen den tatsacheu nach
überein mit Eagnarss. cap. 13 (Fas. I, 276 fg.), die form aber ist durchaus
abweichend.
Auf die eiukleidung des Np (Wilken s. XCIX — CHI) will ich hier nicht ein-
gehen.
Im vorstehenden hoffe ich angedeutet zu haben , wie im gegensatz zu Wil-
kens Umsturztheorien das gegenseitige Verhältnis der Eddalieder, der samlung, der
Skälda I und II, der Vs. , des Np und der ps. zu beurteilen ist. Jene von Wil-
ken als Urquelle für die ganze uorrcene Überlieferung der Volsungensage vermutete
Sigurdarsaga ist uns dabei unter den bänden in nichts zerflossen. Zwar eine Sigur-
darsaga nehme auch ich an, aber eine wirkliche saga von Sigurd, die, ursprünglich
für sich bestehend, als besonderer abschnitt in unsere samlung übergegangen ist.
Im übrigen galt es in den meisten fällen , wolbegründete ältere ansichten zu stützen
und gegen vorschnelle Verwerfung zu sichern, sowie andererseits früher geäusserte
ansichten, von deren Unrichtigkeit ich mich überzeugt habe, zu verbessern und
richtigere an ihre stelle zu setzen.
Es wird jezt kaum noch der ausdrücklichen bemerkung bedürfen, dass ich
auch Wilkens auffassung der Eddalieder als ,,mehr oder minder freie Variationen
einer prosaischen Sigurdarsaga" (s. CHI. vgl. Unters, s. 274 fgg.) entschieden ver-
werfe. Die bcsprechung von Wilkens Untersuchungen zur Snorra Edda wird mir
gelegenheit bieten, auch dieser frage näher zu treten. Da ich aber auch über die-
ses buch Wilkens manches zu sagen habe und doch die vielleicht schon zu ausführ-
lich geratene recension nicht noch mehr anschwellen möchte, breche ich zunächst
vor Guör. 1 , 1 hat E, guSrunar qvipa. Am Schlüsse dieses licdes heisst es svd sein segir
i SiyurdarkviÖu inni skqmmu, und danu folgt in R die Überschrift qviSa SigurÖar. —
Ltider ist gerade liier die liicke in R ausserordentlich störend.
SEILER, ÜBER SCHERER, DEUTSCHE LITT. -GESCH. 113
hier ab. Aus demselben gründe nniss ich es mir auch versagen, auf einzelhei-
ten in den Vorbemerkungen oinzugelien , wozu sich fast auf jeder seite veranlas-
sung böte.
Lieb wäre es mir, wenn ich den lierausgeber, dessen fleiss und mühe ich
alle anerkennung zolle, von der Unrichtigkeit seiner neuen ansichten über die VqI-
sungasaga und den Nornagestspättr überzeugt hätte. Eine eingehende besprechung
eines werkes, auf welches viel arbeit verwant worden ist, mit dem geständnis
schliessen zu müssen, dass es die forschung nicht gefördert, sondern auf abwege
gebraclit hat, ist unerquicklich. Ich freue mich deswegen, schon hier die Unter-
suchungen nutzbringender und begründeter finden zu können , wenn freilich auch
in diesem buche vieles zu entschiedenem Widerspruche herausfordert. Über sie
gedenke ich, in einem zweiten artikel in dieser Zeitschrift mich auszusprechen.
GRONINGEN, IM NOVEMBER 1879. B. SYMONS.
Geschichte der deutschen literatur von d r. Willielm Scherer , profes-
sor der deutschen literaturgeschichte an der Universität Berlin.
Er.stes heft. Berlin, Weidmann. 1880. — Berechnet auf ca. 40 bogen, in etwa
8 lieferungen ä 1 mark.
Wider eine neue litteratiirgeschichte , als hätteu wir deren noch nicht genug
und übergenug! — Das ist wol der erste gedanke, der jeden bei lesung des obigen
titeis befält. Und nur alzu berechtigt ist dieser gedanke. Vergleichen wir das
kürzlich erschienene erste heft des ,, Jahresberichtes über die erscheinungen auf dem
gebiete der germanischen philologie, herausgegeben von der geselschaft für deut-
sche Philologie in Berlin" 1879, so finden wir unter der Überschrift „literatur-
geschichte" als im vergangenen jähre teils ganz neu, teils in neuer aufläge her-
ausgekommen verzeichnet nicht weniger als 13 volständige litteraturgeschichten,
darunter eine englische und eine italiäuische und zwei sogar mit Illustrationen,
und 11 abrisse, grundrisse, umrisse, einführungen , überblicke, leitfäden u. dgl.
Wahrlich, wenn irgendwo, so scheint hier ein ohe, jam satis est! am platze.
Allein ein grosser teil dieser Schriften ist nur compilation aus den grösseren
grundlegenden werken. Gervinus, Koberstein, Kurz werden in immer neuer gestalt
immer wider aufgetischt; daher komt es denn, dass sich durch alle solche bücher
gewisse Unrichtigkeiten und fehler wie eine ewige krankheit fortschleppen (vgl. den
Jahresbericht unter nr. IIG). Ferner haben diejenigen unter den Verfassern solcher
bücher, welche wirkliche eigene studien gemacht haben, diese doch fast regelmäs-
sig auf eine der beiden grossen hälften unserer litteraturgeschichte beschränkt,
entweder auf das mittelalter oder auf die neuzeit, gewöhnlich auch da nur auf klei-
nere Unterabschnitte. In den teilen, wo sie nicht zu hause sind, entbehren ihre
bücher dann der Selbständigkeit und bewegen sich in den alten ausgefahrenen
gleisen.
In der neuen litteraturgeschichte, deren erstes heft uns vorliegt, sind diese
beiden letalen mängel von vornherein ausgeschlossen. Scherer vereinigt die popu-
läre ader des ästhetisierenden litteraturfreundes und -forschers mit der gründlichen
sachkentnis und der strengen methode des germanistischen fachmanues Lachraann-
scher schule. Während er als solcher im engeren kreise der ,, deutschen'- philo-
logen hochgeschäzt dasteht, ist er auch einem grösseren publikura bekant durch
seine aufsätze in der tages - und monatlitteratur. Dass er somit überall aus den
ZEITSCHR. F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XII. 8
114 SEILER
primären quellen direct schöpft und sich nicht etwa mit secundären abgeleiteten
begnügt, ist selbstverständlich. Ferner ist er, während er wol von hause aus und
in den meisten seiner schritten die altdeutsche litteratur und spräche zum gegen-
stände seiner forschung gemacht hat , doch auch in der neuern seit der reformation
nicht blos wo! bewandert, sondern auch selbständig forschend, wie unter andern
seine zerstreuten aufsätzo zur Goethelitteratur und sein buch über die anfange des
prosaromans in Deutschland (QF. XXI) erweisen. Auf eine in allen teilen selb-
ständige, auf der höhe der heutigen Wissenschaft stehende, duvchuus eigenartige
darstellung, auf etwas wirklich neues darf man also von vornherein rechnen, wenn
man das buch zur band nimt.
Es repräsentiert aber aucli in einer andern beziehung einen weiteren schritt
auf einer noch nicht alzulange betretenen segensreichen bahn. — Das buch ist
keine gelehrte litteraturgeschichte , wie die Wackernagelsche oder Kobersteinsche.
Eine „ankündigung" auf dem hinteren umschlage bezeichnet ,, künstlerisch freie
anordnung" und „ beschränkung auf das wesentliche" als die grundsäulen seiner
darstellung. Dem entspricht die elegante äussere ausstattung, die deutschen let-
tern, und vor allem die volständige abwesenheit jeglicher gelehrter zutat; es
schreitet nicht einher in der schweren hoplitenrüstung texterstickender anmerkun-
gen; nicht einen einzigen litterarischen hinweis, nicht einmal eine zahl (ausser
einigen geschichtlichen daten) findet man in dem ganzen hefte; das heisst, das
buch wendet sich nicht an gelehrte, nur an gebildete, es ist populär. Die Popu-
larisierung der Wissenschaft — ein zug, der wesentlich zur Signatur unserer zeit
gehört — ist von vielen Seiten beklagt worden und hat allerdings weniger für das
Volk als für die Wissenschaft und ihre jünger eine rückschlagende, wol auch gefähr-
dende Wirkung — von dem populären schreiben ist nur ein schritt zum populären,
d. h. oberflächlichen denken — ; die grossen begründer der germanischen philologie
enthielten sich ihrer völlig. „Lachmanns schritten tragen grossenteils einen Cha-
rakter, den man wol am richtigsten einen esoterischen nennen kann. Selbst
wer schon recht leidliche vorkentnisse zu ihrem Studium mitbringt, wird ohne die
beihülfe mündlicher Unterweisung nur durch angestrengte und beharrliche arbeit zu
ihrem vollen Verständnisse gelangen." (Zacher in den neuen Jahrbüchern für phil.
und paed. 78, s. 171.) ,, Lachmann liebt es, von seinen entdeckungen oft nur die
segelspitze zu zeigen , und zumal , wer am ufer steht , muss genau acht geben und
scharf sehen." (Wilhelm Grimm , Gott. gel. anz. 1827, stück 204.) Auch die unmit-
telbaren schüler Lachmanns hatten mehr oder weniger diese art, und die deutsche
Philologie bekam durch diese völlige Ignorierung des publicums etwas disciplinier-
tes und straffes , was wesentlich mit zu ihrer raschen und grossartigen entwicklung
beitrug. Andrerseits hatte aber diese esoterische haltung der schule die natürliche
folge, dass sowol die resultate als auch die methode der forschung auf verhältnis-
mässig kleine kreise beschränkt blieben. Da begann die einwirkung auf ein grösse-
res publicum von andrer seite , von mäunern , welche mit anerkennenswertem eifer
aber mit weniger ausgebildeter technik und infolgedessen grösserer zugänglichkeit
für äusseren schein und spielende hypothesen zu werke gingen und die resultate
ihrer bemühungen in popularisierenden handausgaben mit erklärenden anmerkun-
gen elementarer art dem publicum handlich und fasslich zu machen suchten. Da
ihnen bei diesem streben die von Franz Pfeiifer begründete Germania, welche durch
recensionen und eine jährliche bibliographie die menge derer anzog, welche sich
nur oberflächlich mit den jeweiligen neuen resultaten der Wissenschaft bekant
machen wollen, hilfreiche band leistete, so kam es bald dahin, dass die Lach-
ÜBER SCHKRER, DEUTSCHE LITT. -GESCH. 115
maniisclie schule in den äugen des publicums an ansehu mehr und mehr eiubüsste,
dass ihre Vertreter als Sonderlinge zu erscheinen anfiengen, die in einseitiger Ver-
bissenheit auf die worte des meisters schwören , dass insonderheit in der Nibelun-
genfrage — wenn man eine frage, die im wesentlichen gelöst ist, noch als solche
bezeichnen darf — Lachmanns wolbegründete resultate als beseitigt ausgegeben
und ungesehen wurden und eitles phantasiespiel sich an ihre stelle zu setzen drohte.
Das organ der Lachmannschen schule, Haupts Zeitschrift für deutsches altertum,
beschränkte sich auf fachwissenschaftliche aufsätze und Untersuchungen allerdings
wertvollster art, entbehrte aber der kritik und besprechuiig neu erscheinender
bücher, das heisst: es arbeitete nur mit dem pflüge, nicht mit dem Schwerte, ver-
mochte also die gegner nicht abzuwehren. In folge dieser Sachlage sah sich denn
auch die Lachmannsche schule veranlasst, ihre aristokratische Zurückhaltung auf-
zugeben und eine mehr exoterische Wirksamkeit zu beginnen. Zunächst begründete
J. Zacher „die germanistische handbibliothek " und die ,, Zeitschrift für deutsche
Philologie," beide an die weiteren kreise insonderheit der deutschen lehrerschaft
sicli wendend, womit die alleinherschaft der Germania und der „Classiker des
deutschen mittelalters " gebrochen war. Dasselbe ziel, heranziehung der gebildeten
kreise an die interessen und arbeiten der germanistischen Wissenschaft, hat nun
auch W. Scherer schon seit einer reihe von jähren in vortragen und in artikeln,
welche besonders in den preussischen Jahrbüchern erschienen , verfolgt. Seine
„deutsche litteraturgeschichte " tut auf dieser bahn einen gewaltigen schritt vor-
wärts. Wir können dies nur wilkommen heissen; denn so schädlich bei dem auf-
bau unserer Wissenschaft das streben nach gemeinfasslichkeit, das appellieren an die
teilnähme des publikuras gewesen wäre, weil dadurch die erste und notwendigste
aufgäbe, die möglichst sichere, schnelle und gründliche erforschung der tatsachen,
nur hätte verdunkelt werden können , so notwendig erscheint dieses streben jezt,
wo eine recht statliche fülle festbegründeter resultate gewonnen, wo — um mich
bildlich auszudrücken — der hört aus dem berge getragen ist. Jezt gilt es auch,
diesen bort in klingende gangbare münze auszuprägen. „Aus dem schuft der Jahr-
hunderte in den staub der bibliotheken , das ist ein schritt aus einer Vergessenheit
in die andre. Dem ziele führt er nicht merklich näher. Dieses ziel ist das herz
der nation.'' (Simrock.)
Das Scherersche buch ist recht dazu angetan, die bezeichnete aufgäbe zu
fördern ; es wird sich weite kreise erobern und insonderheit eine empfindliche lücke
unserer schulbibliotheken ausfüllen — denn welche litteraturgeschichte solte man
eigentlich bisher dem belehrung und anregung suchenden primaner in die band
geben? — ; es wird auch in den familienbibliotheken dem daselbst annoch her-
schenden Vilmar bedenkliche concurrenz machen; denn es ist eine interessante
lectüre. Koberstein begint: „Die litteratur der Deutschen überhaupt umfasst die
gesamtheit usw.," Vilmar: „Die geschichte der deutschen litteratur, welche auf
diesen blättern dargestelt werden soll usw.," Scherer: „Um die zeit, in welcher
Alexander der grosse Indien für die griechische Wissenschaft aufschloss, segelte ein
griechischer gelehrter, Pytheas von Marseille, aus seiner Vaterstadt usw." Wel-
cher von den drei anfangen ladet nun am meisten zum weiterlesen ein ? Und ex
ungue leonem! derselbe frische hauch durchzieht das ganze heft. So lässt sich
Scherer z. b. auch nicht den vielgelesenen ronian ,,Eckehard" von Scheffel ent-
gehu; und welchen leser möchte es wol nicht interessieren, zu vernehmen, dass
der Waltharius nicht — wie Scheffel dichtet — in der romantischen einsamkeit des
hohen Säntis unter lawinengedonner und bärengebrumm entstanden ist, sondern
8*
116 SEILER
ganz nüchtern und prosaisch auf der Schulbank als ein vom lehrer corrigiertes
exercitium?
Die fünf vorliegenden bogen des ersten heftes enthalten drei capitel volstän-
dig, von dem vierten den anfang. Capitel I ,,Die alten Germanen" erzählt zunächst
kurz von Pytheas , Caesars , Tacitus forschungen , berichtet dann von dem arischen
urvolke , dem stände seiner cultur, seiner „Weltanschauung." Denn — das sei hier
gleich bemerkt — Scherer beschränkt sich nicht auf eine blosse geschichte der
litteratur, er will ein bild der gesamten geistigen entwickelung der uation geben.
Hier zeigt sich widerum seine art der psychologischen betrachtung, sei es nun
eines einzelnen menschen, oder einer zeit, oder eines ganzen volkes, wie ich sie
in dieser ztschr. VIII, 356 fg. charakterisiert habe. Es folgt ein kurzer abschnitt
über die germanische religion, dann die rcste der ält(?sten dichtung : chor - und
hymnenpoesie , rätsei, Sprüche. Das II. capitel: ,, Goten und Franken" schildert
die zeit des germanischen heldengesanges. Der Verfasser nimt nämlich abweichend
von der algemein üblichen einteilung unserer litteraturgeschichte drei blüteperio-
den deutscher poesie an , die erste ist die periode des altgermanischen heldengesan-
ges, der von den Goten begonnen, von den merovingischen Franken zur höchsten
entwicklung geführt wurde. Allerdings ist aus dieser periode nur ein einziges
bruchstück eines einzigen liedes (des Hildebrandsliedes) erhalten , ,, aber — sagt
Scherer — verlorene gedichte sind ebenso wichtig wie erhaltene, wenn man ihre
existenz beweisen und ihre nachwirkungeu feststeilen kann," eine anschauung, über
die sich streiten lässt; indess komt auf die bezeichnung „blüteperiode" an sich
wenig genug an. Die hauptsache ist , dass Scherer nachdrücklich darauf hinweist,
wie das sogenante volksepos des 12. und 13. Jahrhunderts (Nibelungen, Kudrün,
Hug- und Wolfdietrich usw.) dem gehalte nach aus jenen epischen liedern , die
um 600 gesungen wurden , hervorgegangen ist. In demselben capitel wird noch
Ulfilas behandelt und die geistigen zustände im Merowiugerreiche charakterisiert. —
Capitel III „ das erneute kaisertum " enthält Karl den grossen und seine zeit,
Heliand und Otfrid , dann einen abschnitt über ,, die mittelalterliche renaissance"
sowol unter Karl als unter denOttonen, welcher die versuche die alte Eömerherr-
lichkeit wider herzustellen auf politischem , künstlerischem und litterarischem gebiete
durchgeht und dabei insonderheit die bestrebungen der Set. Galler und die werke
der Eosvitha würdigt ; den beschluss des capitels macht die spielmannspoesie der
damaligen zeit mit einer hübschen Charakteristik dieses ganzen genres , zu welcher
auch diejenigen züge und anekdoten aus den historikern herangezogen werden,
welche aller Wahrscheinlichkeit nach den spielleuten ihren Ursprung verdanken. —
Capitel IV ,,das rittertum und die kirche" skizziert das wesen des sich entwickeln-
den rittertumes und führt es auf die eigenart der romanisch- germanischen Nor-
mannen zurück, bespricht alsdann die lateinische litteratur des 11. und 12. Jahr-
hunderts und geht auf ,,frau weit" über; hier bricht das heft ab; im folgenden
wird dann wahrscheinlich der parallelismus zwischen weltfreudiger und weltfeind-
licher richtung weitergeführt und gezeigt werden, wie beide miteinander ringen
und sich gegenseitig ergänzen.
Aus dieser kurzen Inhaltsangabe ersieht man die volle Selbständigkeit und
eigenart des Verfassers. Er weicht durchaus von den gangbaren littcraturgeschich-
ten ab in zweierlei beziehung: erstens in dem was er verschweigt, zweitens in dem
was er mit besonderer ausführlichkeit behandelt. — In der ,,ankündigung" spricht
er seinen grundsatz aus , „ das mass der darstellung nach dem werte der gegen-
stände" einrichten und nicht möglichst viele schriftstellernamen häufen zu wollen;
ÜBER SCHERER, DEUTSCHE LITT. -GESCH. 117
dem entsprechend fehlt eine menge dessen, was man sonst zu finden gewohnt ist.
So haben wir mit genugtuung bemerkt, dass das seit J. Grimm in den litteratur-
geschichten spuliende, anscheinend nicht zu bannende ]ihantom einer urgermanischen
„tiersage," welche der götter- und heldensagc parallel laufen soll, hier endgiltig
ignoriert ist. Ferner verschont der Verfasser mit recht das publicum mit dem
ganzen schwall der geistlichen litteratur des XI. und XII. Jahrhunderts; von den
stücken D. XXX — XLVI ist nicht eines erwähnt, auch nicht Ezzos gesang von den
wundern Christi, der es noch am meisten verdient hätte und den der Verfasser
selbst verhältnismässig sehr hoch schäzt (Geschichte der deutschen dichtung im
elften und zwölften Jahrhundert QF. XII, s. 29 fg.); auch genesis, exodus usw. feh-
len! Auch abgesehen von der rücksicht auf das interesse des publicums gebot die
Ökonomie des buches dem Verfasser, solchen schweren ballast über bord zu werfen;
wer auf 640 seiten eine deutsche litteraturgeschichte geben will, und dabei mehr
in die tiefe als in die breite strebt, darf sich damit nicht befassen.
Statt dessen findet man nun vieles ausführlicher besprochen, was in den
gangbaren litteraturgeschichten , selbst Wackernagel und Koberstein nicht ausge-
nommen , sehr zu derer schaden kaum mit flüchtigen erwähnungen abgefunden ist.
Im ersten capitel treten uns in dieser hinsieht die friesischen rechtsbücher
und die prachtvollen hochpoetischen stellen aus denselben entgegen, die sicherlich
kein empfängliches gemüt unentzündet lassen. Besonders aber wendet der Verfas-
ser sein augeumerk auf die lateinische litteratur, welche bisher sehr zu
unrecht das Stiefkind der litterarhistoriker gespielt hat. Erwähnt doch Wacker-
nagel die Eosvitha von Gandersheim nur in einer anmerkung (2. aufl. s. 95, 19),
wo er sagt, .sie sei ,,mehr nur eine notiz als eine tatsache " selbst für die latei-
nische schauspieldichtung. Freilich hat sie auf die litteratur weiter keinen grossen
einfluss ausgeübt, aber sie ist eine höchst charakteristische erscheinung, ein wah-
res zeichen ihrer zeit und kann daher, wenn man das geistige leben des X. und
XI. Jahrhunderts schildern will, nicht umgangen werden. Das will aber Scherer;
so findet denn auch die Gandersheimer nonue, ,,der erste dramatiker der nach-
römischen weit," die ihr gebührende Würdigung. — Ebenso das weitaus interes-
santeste litteraturproduct des XI. Jahrhunderts, der Ruodlieb, der übrigens —
wie ich zu beweisen hoffe — nicht von Froumund ist, welchen namen Sche-
rer mit recht gar nicht genant hat. Bei Wackernagel und Koberstein findet er
sich als ,, bruchstück " sehr kurz abgetan. Scherer hat erkant, was der ,, kost-
bare torso" (Voigt) wert ist und betrachtet ihn deshalb eingehend, rühmt die künst-
lerische composition , die realistische darstellung , die fülle von lebensbildern , welche
das gedieht vor dem leser ausbreitet , zugleich die grössere milde und einen gewis-
sen sitlich -humanen zug in dem gedichte. Zwei bemerkungen seien mir bei die-
ser gclegenheit gestattet. Erstens ist mir der von Grimm (Lateinische gedichte
des X. und XI. Jahrhunderts s. 220) für möglich gehaltene , von Scherer weiter ent-
wickelte Zusammenhang zwischen dem beiden des lateinischen gedichts einerseits
und dem im Eckenliedo erwähnten könig Euotliep, den Scherer gradezu für aus
dem lateinischen gedichte durch spielleute dahin übertragen ansieht, mindestens
sehr zweifelhaft. Wenn zweitens Scherer den begriff des ,, stolzen" auftretens im
Euodlieb aus dem öfter vorkommenden stultus ableitet — wie es den anschein
hat, weil er stolz durch anführungsstriche als citat bezeichnet — so ist zu entgeg-
nen, dass stultus an den betreffenden stellen des Ruodlieb IV, 121, 123. V, 50
nur töricht, übermütig, nicht statlich bedeutet. — Drittens endlich finden
meines wisseus in dieser litteraturgeschichte zuerst die lateinisch singenden vagie-
118 SEILER
renden cleriker diejenige berücksichtigung , welche ihnen znkomt, weil nicht
nur ihre lyrik an gewandheit nnd Schönheit des ausdrucks die minuigliche, ritter-
liche erreicht, an kraft der diction, Wahrheit und natürlichkeit der empfindung sie
weit überragt, sondern auch ihre epik und dramatik aller achtung wert ist (vgl.
s. 76 fgg.).
Überhaupt bespricht Scherer das, was wirklich wichtig ist, genau und geht
auch auf einzelnes ein und überall ist ihm die Charakteristik, die psychologische
motivierung hauptsache; so behandelt er das Hildebrandslied, den Verfasser des
Heliand, dessen rühm er auf das richtige mass hefabsezt, indem er bemerkt, dass
die anwendung dessen, was uns am Heliand entzückt, des altepischen costüms, nicht
das verdienst des dichters ist, ferner Otfrid, Eabanus Maurus , endlich Bonifacius,
dessen Charakterisierung als eines mannes von beschränktem geist und geringer bil-
dung, als eines zuchtmeisters im namen päpstlicher Orthodoxie wir allen denjenigen
empfehlen, die diesen Zerstörer der deutschen kirchenfreiheit in den himmel erhe-
ben, oder gar als den beglücker Deutschlands einem Arminius an die Seite stellen,
wie dies herr Joseph Venn tut in seinen ,,250 dispositiouen zu deutschen auf-
sätzen," einem buche, das nur seiner grossen Oberflächlichkeit und eselsbrücken-
haftigkeit seine weite Verbreitung, besonders unter der Schuljugend, verdankt. —
Die politischen bestrebungen Karls und der Ottonen werden mit den litterarischen
aus einer gemeinsamen wurzel abgeleitet : Sehnsucht nach der grosse und Schön-
heit der antiken weit. Auch die Volksseele und ihre äusserungen werden in die-
ser weise aufgefasst. Wie fein ist die bemerkung s. 12, dass das germanische
accentgesetz , wonach einzig und allein die Stammsilbe betont wird — ein gesetz,
welches die forraelemente des wortes der sicheren Zerstörung preisgegeben hat und
damit verhängnisvoll für den leib der spräche geworden ist - zusammenhängt mit
,, einem frühzeitigen dränge germanischer art," das charakteristische mehr als das
schöne , den gehalt mehr als die form zu schätzen ; denn die cousonanten seien das
knochengerüste der spräche ; die vokale geben blute und färbe , für diese sei der
altgermanische sinn nicht offen.
Davon ist nun freilich das, was der Verfasser auf s. 40 über die spräche
Otfrids sagt, das grade gegenteil. Hier heisst es: ,,die spräche war sehr vokal-
reich und melodisch, an Weichheit und sanftem klänge dem italienischen vergleich-
bar," dann folgen die ausdrücke ,, schwelgen in vokalen," ,,freude an der färbe"
(man vergleiche den eben citierten ausspruch von s. 12. 13: ,,für blute und färbe
ist der altgermanische sinn nicht offen"), ,, unbedingtes streben nach wollaut."
Der Widerspruch liegt auf der band. Der altgermanische sinn müste sich demnach
bei Otfrid und seinen Zeitgenossen in sein grades gegenteil verwandelt haben,
was schwer glaublich. Wir lassen die erste bemerkung gern gelten; die zweite
halten wir für zu subjectiv gefärbt; nicht freude an der färbe, nicht streben nach
wollaut war es, welches die klangreiche spräche Otfrids schuf; der blosse blasse
Zufall oder vielmehr die notwendigkeit der sprachentwickelung brachte sie zu wege.
Die vokale waren eben noch volltönend, weil das accentgesetz seine zerstörende
einwirkung auf die flexionssilben erst begonnen hatte, und dass die otfridischen
assimilationen wie ivolkono für ivolkano eine Steigerung des wolklangos bewirkt
hätten, möchte schwerlich zu behaupten sein. Noch weniger kann ich es verste-
hen, wenn Scherer gar aus diesem angenommenen streben nach vokalischem wol-
laut die gesamte consonantischc lautverschiebung zu erklären vermeint.
Man habe — das ist seine argumentation — so sehr auf die vokale und ihren melo-
dischen vollklang geachtet , dass man darüber die cousonanten vergessen und ver-
ÜBER SCHEREB, DEUTSCHE LITT. -GESCH. 119
nachlässigt habe; die lautverschiebung sei eine ,,aufiösung" des consonautismus.
Ich muss gestehen, dass mir diese coinhination von allen, welche ich in dem hefte
augetroffen habe, am wenigsten zugesagt hat. Man braucht nur einige wenige
Sätze niederdeutsch neben eine probe hochdeutschen , am besten alemannischen
dialectes zu halten ; da wird einem jeden sofort ins ohr fallen , wie der nieder-
deutsche consonantismus weit weicher ist, als der hochdeutsche mit dem Über-
gewicht seiner tenues und Spiranten; ,,dat water" klingt doch weicher als das
scharf zischende „da:; wa??er" und nun erst die rauhen alemannischen ch! Und
in Aleraannien hatte doch, wie Scherer selbst s. 39 unten angibt, die lautverschie-
bung ihren Ursprung, hier bildete sie sich am reinsten durch; in ihrer dortigen
gestalt ist sie also zu erklären. Es ist nicht denkbar, dass eine solche algemeine
Verschärfung und fortschiebung des consonantismus aus blosser Vernachlässigung
hervorgegangen sei; eher wäre zu glauben, dass physische gründe, die gebirgsluft,
das klima den keim zu dieser Umwandlung gelegt haben , oder dass das unruhigere
streben und drängen der hochdeutschen stamme gegenüber der grösseren ruhe und
Stabilität der sächsischen und überhaupt niederdeutschen bevölkerung auch auf die
spräche in dieser weise rückgewirkt habe. Doch das sind hypothesen!
Ich bediente mich eben des ausdrucks: subjectiv. Ich muss ihn hier veralge-
meinernd widerholen: Scherer ist überhaupt ein durchaus subjectiv er schrift-
steiler; das gilt sowol vom Inhalte als von der form. Die tatsachen, welche er
anführt, sind alle objectiv richtig und überall den neusten forschungen gemäss;
die kleine ungenauigkeit s. 41: ,,zu Strassburg am 14. februar 842 legten Karl der
Kahle und sein beer einen eid in französischer spräche ab, Ludwig der Deutsche
und die seinigen in deutscher spräche" ist kaum des rügens wert: nur die beere
legten quique propria lingua den eid ab, die führer schwuren jeder in der
spräche des andern heeres , LodJmtvieus romana , Karolus vero teuclisca lingua ;
aber die art wie er die tatsachen gruppiert, combiniert und motiviert, ist sub-
jectiv; die person des Schriftstellers mit ihren ideen tritt hier überall hervor.
Ich meine so. Eine gemäldegallerie kann auf zwiefache weise der betrachtung des
publicums geboten werden. Entweder , die geniälde werden nach einem bestimten
prinzipe aufgehängt — etwa nach der Chronologie, oder nach malern und maler-
schulen, oder nach den gegenständen der darstellung — , dies wird dem beschauer
mitgeteilt und nun wird er hineingelassen und ohne weitere führung seinem eige-
nen urteile und geschmacke anheimgegeben. Oder, ein kundiger führer wird dem
eintretenden mitgegeben und dieser zeigt ihm nun die hervoi'ragenden bilder, weist
ihn auf ihre technik, ihre Schönheiten, ihre mängel hin, zieht ihn von einem zum
andern , führt ihn oft plötzlich quer durch die ganze gallerie an die entgegengesezte
wand, um auf gewisse ähnlichkeiten , die sich in einer ganz andern cpoche bei
einer ganz andern schule finden, aufmerksam zu macheu, kurzum er leitet die
betrachtung des beschauers und bestimt sein urteil durch fortwährende conversation.
Alle vergleiche hinken, aber in etwas wird dieser Scherers art verdeutlichen.
Gewisse richtungen dieser subjectiven, combinierenden und comparativen
betrachtungsweise , welche schon aus den früheren schritten des Verfassers bekant
waren, treten uns in dieser widerum entgegen. — So besonders die hochschätzung
des fraueneinflusses auf die gesittung und damit auf die litteratur. Diese ist an
sich ja auch volkommen berechtigt und der weibliche einfluss auf die mittelalter-
liche litteratur ist bisher entschieden zu wenig gewürdigt worden , weil man eines
solchen von der altclassischen litteratur her, an welcher die litteraturgeschichte
gross gezogen ist, ungewohnt war. Mehr in das gebiet des subjectivisnms gehört
120 SEILER
es, wenn der Verfasser bestirnte männische und frauenhafte epochen uuter-
sclieidet, welche in der geschichte unserer litteratur alternirend auf einander fol-
gen sollen, ein gedanke, den er hier nur auf s. 11 andeutet und bei besprechung
des Euodlieb wider aufnimt, den er aber finiher einmal (QP. XII, 1 fgg.) eingehend
ausgeführt hat. Ganz subjectiv aber und wol auch nicht grade wahrscheinlich ist
es, wenn er diesen Wechsel selbst auf die urgraue vorzeit des germanischen Volkes
überträgt, auf die zeit, in welcher die germanischen eigennamen entstanden. Die
beiden gruppen der frauennamen nämlich, diejenige, welche das „liebliche und
anmutige, das woltätige und erfreuende zu bezeichnen sucht" und diejenige, welche
,,die frau des kampfes froh, waffen führend, fackelschwingend, zum siege stür-
mend" zeigt, sollen zwei verschiedene frauenideale anzeigen, welche ,, nicht wol
in derselben zeit und auf demselben boden gewachsen sein" können, und zwar soll
die erste gruppe auf eine uralte epoche von ,, reiner Weiblichkeit" schliessen las-
sen (s. 22). Demnach wären also die kriegerischen frauennamen zu einer ganz
andern zeit entstanden als die sanften , milden. Indess sind doch in der natur der
frau beide selten unauflöslich miteinander vereinigt; sie ist auch heutzutage noch
sowol freodovebbe als Brünhilt, wenn auch in civilisierten formen; die natur des
menschen ändert sich nicht; es wird in der vorzeit ebenso gewesen sein; warum
sollen nicht beide selten nebeneinander in den nameu ausgeprägt worden sein?
Dieselbe uralte Wandlung sittlicher ansichten sucht Scherer aus dem mythus
zu erweisen. 1) Arische Sonnengott = männer-, 2) ,, liebe sonne" = frauen-,
3) Sindguud-Brünhild = männerepoche. Denn Sindgund — meint Scherer —
ist die sonne selbst. Schwerlich! Denn dann wäre auch Frija mit Volla, der
schmuckmagd, identisch und wir hätten, dächt ich, der mythologischen identifica-
tionen seit Müller - Muth genug. Eher scheint Sindgund das die sonne begleitende
Wandelgestirn, den morgen- und abendstern, zu bezeichnen.
Auch die übrigen mythologischen hypothesen, namentlich die hypothese von
Wodan s. 8 , der ursprünglich ein rheinfränkischer gott und symbol der höheren
cultur, welche die rheinischen stamme von den keltischen nachbarn empfingen,
von dort aus ganz Germanien im sturmessiegeszuge sich unterworfen und damit
sich selbst immer mehr vergeistigt habe, sind hypothetisch im Superlativ. Über-
haupt lässt sich über deutsche mythologie grade jezt, wo ihre grundlagen durch
die neusten norwegischen forschungen bedenklich erschüttert worden sind, schlecht
reden; ist die ganze götterdämmerung und die darauf folgende erneuerung wirk-
lich altheimisch und altheidnisch? ist Baldrs tod nicht eine nachbildung von
Christi tod?
Mit dem Wechsel der frauen- und männerepochen hängt die neigung Sche-
rers, verschiedene oft sehr entlegene culturepochen zu einander in beziehung und
parallele zu setzen , zusammen , auch etwas , was er bereits früher vielfach durch-
geführt hatte. Er denkt — wie er selbst QP. XII, 9 gesteht — sehr gross von
der wissenschaftlichen bedeutung der analogie. Diessmal sind es die jähre 600
1200 1800, welche er s. 19 in parallele sezt und dem entsprechend das 10. und
16. Jahrhundert als Jahrhunderte des tiefsten Verfalls der dichterischen bildung.
Den gang der deutschen litteraturgeschichte bringt Scherer somit auf folgendes
,, merkwürdig einfaches Schema: drei grosse wellen, berg und tal in regelmässiger
abfolge."
Dieselbe neigung zu vergleichenden parallelen zeigt sich auch im kleinen.
So z. b. sind die sätze am Schlüsse des dritten capitels, welche das 10. und 11. Jahr-
hundert parallclisieren , oder der satz: ,,wie Shakespeare novcUen, so bearbeitet
ÜBER SCHERER, DEUTSCHE LITT. - GESCH. 121
Rosvitha legenden" für die Scherersclie art zu denken und zu schreiben bezeich-
nend. Ja, diese neigung führt ihn dazu, dass er öfters — ein zweiter Momrasen —
die allermodernsten begriffe auf das mittehilter überträgt. So charaliterisiert er
die stücke der Rosvitha folgeudermassen : Gallicanus ist eine historische tragö-
die, Dulcitius streift an die posse , Abraham scheint das bürgerliche rührstück
vorzubereiten, Callimachus gibt ein beispiel einer liebestragödie mit den sonder-
barsten anklängen an Shakesjieares Romeo und Julia. Die fahrenden spielleute
sind ihm ,, die waudernden Journalisten" des mittelalters , ihre tätigkeit gleicht —
einem illustrierten witzblatte, indem ihre eigene person die Illustration zu dem
texte liefert. Das Ludwigslied ist ein — „ leitartikel , ein wolgefüUtes weih-
rauchsfass."
Wir sind hiermit an die stelle gekommen, wo sich Inhalt und form berüh-
ren; auch das, was man den stil zu nennen pflegt, ist von der subjectivität des
autors durchtränkt. Das zeigt sich schon in dem verhältnismässig sehr häufigen
gebrauch des personalpronomeus der ersten person , ferner in wendungeu , welche
bestirnt sind, das kategorische zum hypothetischen herab zustinnnen wie: ,,über die
richtigkeit des einen oder andern zuges kann gestritten werden" (9) — ,,das ist
freilich nur ein versuch zu deuten" (11) — ,,wie ich glaube" (25) — ,,wir glauben
zu erkennen " (28) — ,,wenn ich einer Vermutung ausdruck geben darf" (38) und
ähnlichen. Sodann hat die ganze satzbildung und ausdrucksweise etwas eigentüm-
lich stimulirendes. Rednerische figuren, namentlich anaphora und antithese, tra-
gen dazu bei, aber dennoch ist die diction im algemeinen frei von dem eigent-
licben pathos des redners; poetische vergleiche wie der prachtvolle s. 23 der Ger-
manen vor der völkerAvanderung mit einer brausenden see und auf erweckung der
begeisterung berechnete toaste , wie etwa der schlusspassus des ersten capitels sind
selten; lange schwungvolle perioden liegen auch nicht in Scherers art. Vielmehr
sind die sätze durchgängig kurz und lose aneinandergereiht , die Übergänge stets
geschickt, die gedanken oft wie spielend aneinandergereiht. So gleicht der stil —
und damit glaube ich sein wesen am besten bezeichnen zu können — demjenigen
tone, welcher in geistvoller conversation üblich ist; wer den reiz einer solchen
zu würdigen weiss, der wird es verstehen, wie gern man den Schererschen aus-
führungcn folgt, grade weil sie sich nicht in docirendem tone aufdrängen.
Zum schluss noch eine äusscrlichkeit. Der göttliche dulder hat doch wahr-
lich zu lande und wasser genug auszustehen gehabt, so dass man ihn nach einigen
Jahrtausenden wenigstens verschonen dürfte. Nun muss er es sich aber dennoch
selbst in diesem buche noch gefallen lassen, in jener schauderhaften entstelluug
seines tref liehen namens , welche weder griechisch noch lateinisch ist, auf s. 28 (auf
s. 76 können wir sie als Schreibung des archipoeta eher passieren lassen) citiert
zu werden. Hier hoffen wir, dass bei einer zweiten aufläge, welche ohne zweifei
über kurz oder lang nötig wird , — um parlamentarisch zu reden — wandel
geschafft werde.
Fassen wir unser urteil zusammen. Das buch entspricht in der tat einem
vorhandenen bedürfnis. Denn es ist erstens von einem gründlichen und selbstän-
digen kenner der sache und zweitens in anziehender und anregender weise geschrie-
ben — zwei Vorzüge, die sich nicht grade häufig zu vereinigen pflegen. Wenn
dem leser auch einige unerwiesene und unerweisbare combinationen vorgetragen
werden, so ist das kein unglück; denn wesentlich falsch wird dadurch das bild,
welches er von den geschilderten zuständen bekomt , nicht; sie erscheinen ihm doch
so, wie sie nach dem neusten stände der forschung gewesen sein müssen. Wir
122 GEBING
glauben somit dem buche eine ziemlich weite Verbreitung und erfolgreiche concur-
renz prognostizieren zu können und wünschen dieselbe im Interesse unserer deut-
schen nation ; denn das endziel des Verfassers ist, „die Überzeugung zu wecken,
dass das heil der deutschen cultur nur dort zu finden ist, wo es unsere grossen
classiker zu finden glaubten."
TBARBACH A. T>. MOSEL, APRIL 1880. F. SEILER.
Beöwulf. Mit ausführlichem glossar herausgegeben von Moritz Heyne.
Vierte aufläge. Paderborn 1879. VUI,287ss. 8. (A. u. d. t.: Bibliothek
der ältesten deutschen litteraturdenkmäler. III. band.) 5 m.
Es unterliegt keinem zweifei , dass von allen bisher erschienenen Beowulf-
ausgaben die von Heyne die beste und brauchbarste ist, und somit wird es gewiss
von allen selten freudig begrüsst worden sein, dass er sich trotz mannigfacher
bedenken dazu entschlossen hat, eine neue aufläge zu veranstalten. Diese muss
unbedingt als eine wesentlich verbesserte bezeichnet werden, wenn auch eine kleine
zahl von fehlem und unvolkoramenheiten sich nachweisen lassen , die bei grösserer
Sorgfalt hätten vermieden werden können. Sie fanden sich ungesucht, als ich im
verflossenen Winterhalbjahr in meiner societät die ersten zwölf abschnitte des gedich-
tes interpretierte , und sollen hier mitgeteilt Averden , nicht aus lust am tadeln,
sondern um den verdienten herausgeber darauf aufmerksam zu machen, wo etwa
bei der fünften aufläge noch die bessernde band anzulegen wäre.
Wenn ich zunächst daran gehe, anzugeben, wodurch sich die vierte ausgäbe
von den früheren unterscheidet, so will ich den umstand, dass im texte das zei-
chen V durch ZV ersezt ist , nicht besonders hervorheben : es ist das eine äusserlich-
keit, der ich wenig bedeutung beilege. Von weit grösserer Wichtigkeit ist es, dass
die neueren Beowulfforschungen in ausgiebiger weise verwertet worden sind. So
ist z. b. überall auf die neue collation der liandschrift durcli Kölbing rücksicht
genommen , die freilich für die berichtigung des textes ziemlich ergebnislos gewe-
sen ist. Sodann haben die in verschiedenen Zeitschriften veröffentlichten textkriti-
schen aufsätze verdiente berücksichtigung gefunden; und zwar sind es namentlich
die glänzenden emendationen von Sophus Bugge, die in der tidskrift for philo-
logi og pasdagogik (VIII, 40-72. 287—305) und in dieser ztscbr. (IV, 192 — 224)
publiciert wui-den, welche auf die textgestaltung den wesentlichsten einfluss aus-
geübt haben. Während Heyne noch in der dritten aufläge die vorschlage von
Bugge meist vornehm ignorierte, ist er ihnen in der vierten fast immer gefolgt:
so schreibt er jezt mit Bugge v. 19 eafera statt eaferan und schliesst v. 18 '^ in
klammern ein, während er in der dritten aufläge noch gegen Grundtvig und Grein
polemisiert, die dasselbe vorgeschlagen hatten; v. 84, wo Bugges Scharfblick zuerst
das richtige erkante, ist Heyne ebcnfals dem genialen Norweger gefolgt; v. 369
fasst er jezt mit Bugge ge-ähtlmi,^ als gen. sg. eines sw. m. oder f. in der bedeu-
tung „hochschätzung"; v. 770 steht jezt nach Bugges Vorschlag ealii-scerwen
(nom. sg. eines st. f.); vgl. ferner v. 835 — 36, wo die interpunction nach Bugge
geändert ist; v. 977, wo jezt mit Bugge ni/d-gripe gelesen wird; v. 1366, avo nach
Bugges Vorgang das handschriftlich nicht überlieferte man wider gestrichen ist;
v. 2447, wo Heyne sich ebenfals durch Bugges ausführungen bestimmen Hess, die
1) Über die quantität der Wurzelsilbe s. u.
ÜBER BEOWULF ED. HEYNE 123
lesart des codex {lorece) widerherzustcUen ; v. 3105 {neän mit Bugge statt ne on)
usw. — Auch iu der ansetzung der Wortbedeutungen im glossar ist Heyne mehr-
fach Bugge gefolgt, was in der ausgäbe vielleicht ausdrücklich hätte erwähnt wer-
den können: so wird (cfen-grom jezt mit recht als „nachtfeind" erklärt (früher
cefen-gröm, custos vespertinus) ; o'r-gdd als „von lange her gut" (früher „gut an
ehren"); dced-hata als „der durch seine taten verfolgende" (früher d(vd-hdta,
tatengebieter); ealand wird nicht mehr durch „insel" übersczt, sondern durch
„wasserreiches land"; statt ealet „weilen auf dem wasser" finden wir jezt eolet
„meer"; feorhlagu gibt Heyne jezt durch „das vom Schicksal bestirnte leben"
(früher „niederlage des lebens, tod"); helrüna durch „zauberer" (früher „vertrau-
ter ratgeber der höUe"); 0)i-h6hsnian durch „hemmen" (früher ,. vertreiben ")
u. a. ra.
Ich hätte nun freilich gewünscht, dass Heyne noch öfter den neueren for-
schem gefolgt wäre. So halte ich v. 31 Eiegers änderung des handschriftlich
überlieferten leöf in Uf (iu dieser ztschr. III, 881) für unumgänglich notwendig;
aus dem verbum weöld ein subst. geiveald zu ergänzen, wie Heyne vorschlägt, ist
denn doch eine etwas starke Zumutung. Dass die „dichterischen und seltneren aus-
drücke für fürst ohne eine nähere bestimmuug (durch adjectiv, possessiv oder gene-
tiv) im ags. kaum vorkommen," wie Heyne behauptet, ist unrichtig: vgl. z. b.
Andr. 1662 ßät iväs ßam loeorode iveor tö geßoligenne, pät hie se leödfruma
leng ne tvolde ivihte gewunian; Elene 191 ät ßam se leödfruma fuhvihte onfeng ;
Metra I, 2ß ßeäJi iväs magorinca möd mid Crecum, gif hi leödfruman Icestan
dorsten; Beöw. 2131 ßät iväs Hrödgäre hreöiva tornost ßära ße leödfruman lange
hegeäte usw. — Dass isig (v. 33) noch immer durch ,,erzgläuzend" erklärt wird,
lässt sich in keiner weise rechtfertigen : das erz heisst ags. är, eer und das davon
abgleitete adjectiv ceren ; dass gotischem ai jemals im ags. i entspräche, ist mei-
nes Wissens bisher nicht nachgewiesen, und wie wolte man die erhaltung des
ursprünglichen s in isig (got. *aizeigs) erklären? Leo selbst hat später nicht mehr
an seine von Heyne adoptierte deutung geglaubt: im ags. glossar s. 260 ist isig
mit recht zu is gestelt. — seomian (v. 161) übersezt Heyne durch ,, in fesseln
legen, fangen"; diese bedeutung findet jedoch durch keine parallelstelle eine stütze
(auch nicht durch Exod. 209, wo Leo, ags. glossar 138, das verbum fälschlich in
demselben sinne fasst); es ist vielmehr mit Grein seomian auch hier in seiner
gewöhnlichen bedeutung „weilen, harren" zu nehmen. Dann muss man natürlich
nach geogoäe stark interpungieren und nach syrede nur ein komma setzen ; die
Übersetzung Greins : „er lag unheilbrütend" ist dem sinne nach durchaus richtig. —
V. 303 — 305 sind von Bugge (in dieser ztschr. IV, 195 fg.) im wesentlichen richtig
erklärt und Heyne hätte an dem ,,ferkel," welches bereits Grundtvig beanstandete,
nicht festhalten sollen, hleorberan liess Bugge unberührt, weil er das wort nicht
sicher zu deuten wüste. Heynes Übersetzung „wangenträger" ist nicht zu brauchen,
es wäre das eine wunderliche bezeichnung für den ,,teil des helmes, der die wange
schüzt"; auch solte es schwer fallen, ein analogen zu finden. Das richtige lässt
sich, wie ich meine, durch eine einfache änderung herstellen: man lese hleör-ber-
gan — es ist oifenbar derselbe teil des helmes gemeint, der Exod. 175 cinberg
genant wird. Die namen der schutzwatten sind häufig mit dem werte beorh, beorge
gebildet, vgl. heulsbeorh, liealsbeorge (mhd. /tttZsöerc, halsberge), Haupts ztschr. IX,
423.521; breöstbeorliLeo, ags. glossar 232; bänbeorh ehda; heafodbeorh Beövf. 1031.
e für eo findet sich auch sonst im Beöwulf: Heregär 467, etonisc 2617, ferh 2707,
gehäo 3096 , medu 2634 u. ö. , metod (nur 1078 meotod) , iverod 652 u. ö. — V. 414
124 GERING
schreibt Heyne hädor, das eiu st. in. sein und „lieiterkeit" bedeuten soll. Dies
wort ist aber meines wissens sonst nirgends belegt; es gibt auch keinen guten
sinn: wer wird denn sagen, dass sich die abendliche sonne hinter der heiterkeit
des himniels verbirgt? Greins Schreibung haäor (für heaäor) scheint mir daher
durchaus den vorzug zu verdienen. — Die Heynische deutung der verse 445 — 451
halte ich für unrichtig; ich bekenne mich vielmehr zu der auffassung von Eieger
(in dieser ztschr. III, 386). V. 445 — 46 nä pii minne ßearft hafalan hydan sagt
offenbar dasselbe aus wie v. 450 — 51 nö pa ymb mines ne ßearft lices feorme leng
surgian; beide stellen deuten auf die piiicht Hrudgärs, den gefallenen zu bestat-
ten. — Dass was (v. 643) prädicatsverbum zu drei Sätzen sein soll, scheint mir
Grundtvig mit recht beanstandet zu haben. Der gedanke, in ßeöd ein verbura zu
suchen, war glücklich, aber /eöf, was Grundtvig vorschlug , ist eine unform; daher
möchte iah. ßeät schreiben und das komma nach sfclum tilgen; ,, fröhlich erscholl
des heldenvolkes lärm." — Auch v. 707 hat Grundtvig wol das richtige getroffen,
indem er hiene als ein wort fasste und dahinter ne ergänzte; da nämlich im vor-
hergehenden und im nachfolgenden von Beöwulf die rede ist, scheint es am natür-
lichsten , auch den Zwischensatz auf ihn zu beziehen. — heardran hole (v. 720)
ist, wie das nachfolgende healßegnas beweist, unzweifelhaft acc. pl. , wie auch
Grein annimt, und es ist mir durchaus unerfindlich, warum Heyne es als acc. sg.
ansezt.
Ich erlaube mir, bei dieser gelegenhelt auf zwei weitere stellen aufmerksam
zu machen, die, wie ich glaube, von Heyne falsch erklärt sind. Secg und lagu-
cräftig man (v. 208/9) auf einen lotsen zu beziehen, geht nicht an, da die tätig-
keit des lotsen doch nicht eher beginnen konte als das schiff bestiegen ist, und
dies geschieht erst v. 211. Vielmehr ist Beowulf gemeint: der hold führte sie, der
seekundige mann, zu den landesgrenzen , d; h. zum ufer des meeres, wo das schiif
bereit lag. Noch besser ist es vielleicht, mit Gi'undtvig die werte secg loisade,
lagacräftig man in klammern zu schliesseu und landgemyrcu von söhte abhängig
zu denken. — sigon ätsomne (v. 307) übersezt Heyne: „sie giengen zusammen tal-
wärts." Vom strande des meeres steigt man aber aufwärts (noch kurz vorher
sind steile ufer erwähnt, beorgas steäpe , v. 222): die Übersetzung beruht auf der
falschen annähme , dass sigan nur die Bewegung von oben nach unten bezeichnen
könne, was ein blick in Greins Sprachschatz richtig stellen konte. Auch mhd.
sigen bedeutet häufig nur „sich vorwärts bewegen,'' ebenso altn. siga: beide wer-
den oft von dem vorrücken geschlossener truppenabteilungen gebraucht.
Die „metrischen bemerkungen" hat Heyne in der neuen ausgäbe fortgelassen,
jedoch, wie er in der vorrede ausdrücklich hervorhebt, „nicht, weil er ihre rich-
tigkeit bezweifelt." Er hält also an der vierhebungstheorie fest und man darf bil-
liger weise darauf gcspant sein , wie er dieselbe in der angekündigten monographie
verteidigen wird. Seine abneigung gegen die neue ketzerische lehre ist denn auch
wol der grund gewesen, dass er die änderungen, welche Bugge und ßieger aus
metrischen gründen vornahmen, fast sämtlich nicht acceptiert hat.* So hat er sich
nicht davon überzeugen lassen, dass zwei gleiche reimstäbe in der zweiten halb-
zeile unzulässig sind: er schreibt also v. 395 nach wie vor güä - geataivum , wo
doch Riegers änderung in güd - getaiviim (in dieser ztschr. III , 386) den fehler in
der einfachsten weise beseitigt; v. 1152 behält er hroden bei, das Bugge (tidskr.
1) Soviel ich sehe, sind nur v. 1542 und 2095 nach dem vorschlage von Rieger
(in dieser ztschr. VII, 31) geändert.
DBER BEOWüLF ed. HEYNE 125
YIII, 64. 295) mit recht in roden gebessert hatte; ebenso v. 2917 (jehnfegdou, wo
Grein (in der bibl.) und Bugge (tidskr. VIII, 64) genmjdon vorschlugen; v. 574
stveoräe , wo Rieger (in dieser ztschr. VII, 9) das synonym mece einsetzen wolte.
Vgl. ferner v. 2616, wo nach den von Rieger gefundenen gesctzen hyrnan hrmyäe
zu schreiben war (ztschr. VII, 21); v. 759 wo (löda durch ein mit m anlautendes
adjectiv (mödeija) ersezt werden muste (ztschr. VIT, 24); v. 1538. wo Rieger (a. a. o.)
gewiss richtig statt eaxle feaxe conjiciert; v. 1175, wo nach Rieger (a. a. o. s. 29)
die ergänzuug friäu nach den metrischen gesetzen unzulässig ist. usw. — Gegen
die neugefundenen regeln der Verstellung ist ebenfals mehrfach gesündigt: vgl.
947. 1396. 1480. 2158. 2482. 2862. 2870 (Rieger a. a. o. s. 34 fg.).
Ein Verzeichnis der wahrgenommenen druckfeliler und sonstigen kleinen
versehen möge den schluss bilden. Unter den ersteren befinden sich mehrere die
schon die dritte aufläge entstelten: v. 27 steht in beiden ausgaben tväre statt
wccre, V. 723 hine statt hire , v. 726 flor statt flör, v. 791 pikje statt däge , s. 134'',
z. 10 v. u. nora. statt nom. acc. , s. 143'' z. 2 v. u. onfundc statt onfunde hüan,
s. 256 '' fehlt bei symhel, synil auch in der neuen ausgäbe die angäbe des genus;
s. 265* z. 13 V. 0. steht instr. statt praet., s. 27ü'' z. 17. v. o. acc. statt nom. acc.
Von neu hinzugekommenen druckfehlern habe ich die folgenden bemerkt: v. 429
steht iviyendra statt wtgendra, s. 84, z. 11 v. o. ist vor folcstede zu ergänzen 76;
s. 86, z. 23 V. u. steht est statt es; s. 87, z. 2 v. o. imbred statt timhred ; s. 87,
z. 18 V. u. 419 statt 420; s. 88, z, 3 v. u. ine statt ine; s. 144^ z. 2 v. o. hnan
statt hüan; s. 186'', z. 22 v. n. ylayyivus statt glagyvuR. Nicht unter die kategorie
der druckfehler gehört es, wenn s. v. ehtan noch auf ge-(shtla vorwiesen wird,
obwol dieses wort nicht mehr, wie in der dritten aufläge, dui'ch ,, Verfolger," son-
dern durch ,, lobende besprechung, hochschätzung" übersezt wird. Statt gefehtla
ist übrigens geähtla zu schreiben und ebenso statt gecrhtan geähtan (das richtige
hat bereits Bugge in dieser ztschr. IV, 219, während Leo im glossar s. 222 die bei-
den Wortsippen , die sich durch die Quantität des wurzelvocals unterscheiden , mit
unrecht zusammenwirft). — scop ist in der neuen ausgäbe richtig mit kurzem
vocal angesezt, dagegen falsch breme: dass die Wurzelsilbe lang ist, beweist das
denominativ hrhnan, welches im anderen falle bremian oder hremman lauten müste.
Bugge schreibt richtig brei7ie (tidskr. VIII, 41), ebenso Leo, ags. glossar s. 367;
die von lezterem aufgestelte etymologie ist freilich niclit zu brauchen. — Den auf-
satz von Sievers über die altags. declination (Paul -Braune I, 486 — 504) hat Heyne
nicht berücksichtigt; sonst hätte er wol im glossar nicht präg, sondern ßräg
geschrieben, auch nicht trod, ßrijä, sondern irodii, pryäu. — lierian setzen Sweet
und Zupitza richtig mit kurzem e an. Grein und Heyne falsch mit langem; das
wort ist identisch mit got. hazjan — wäre der wurzelvocal lang, so müste der inf.
heran lauten. — ealdorcearu ist in der dritten und vierten ausgäbe als sw. fem.
aufgeführt, während doch cearu selbst richtig als st. fem. bezeichnet wird; reced
wird im ags. als masc. und neutr. gebraucht, Heyne sezt es nur als neutr. an,
obwol V. 412 der attributive Superlativ selesta die masculinische Verwendung bezeugt ;
dasselbe schwanken herscht bei dem werte segn , welches bei Heyne nur als st. neutr.
figuriert, während v. 47 der acc. gyldenne es als masc. kenzeichnet. — wuldor ist
unrichtig als st. masc. angesezt, bei Grein und Zupitza richtig als neutrum.
HALLE, APRIL 1880. HUGO GERING.
126 KINZEL
Die Wolfram-Literatur seit Lachiiiann mit kritischen Anmerkungen.
Eine Einfülirung in das studium Wolframs von Dr. Cr. Boetticher.
Berlin, Weber. 1880. VI und 62 s. 8.
Fast gleichzeitig sind zwei kleine Schriften erschienen , welche eine Übersicht
über die litteratur unserer beiden grösten mittelalterlichen dichter, Walthers und
Wolframs, gewähren. Schon an sich ist dies ein dankenswertes unternehmen, für
denjenigen, welcher auf dem felde des mittelhochdeutschen zu arbeiten anfängt
und bemüht ist sich über die bisherigen leistungen zu orientieren, aber auch für
den selbständigen forsclier, welcher sich oft schnell in den zahlreichen Schriften
zurechtfinden möchte , um den überblick über die gefundenen resultate nicht zu
verlieren. Dass dazu blosse büchertitel nicht genügen können, liegt auf der hand:
sie zusammenzuschreiben wäre bei uusern bibliographischen hilfsmitteln keine
Schwierigkeit. Man erwartet vielmehr nicht nur eine systematische Ordnung , son-
dern auch eine klare objective darstellung dessen, was die erwähnte schritt für die
erforschung geleistet hat, welche Stellung sie zu den hauptfragen einnimt und wie-
weit sie einen fortschritt für die erkentnis bezeichnet. Erst hiernach mag der Ver-
fasser den massstab seiner kritik anlegen und seine abweichende ansieht sachlich
darlegen; keineswegs aber ist es erträglich, wenn sich derselbe wie Willibald Leo
in seinem schriftchen über Walther ^ gemüssigt sieht, meist ohne auf den inhalt
einzugehen, in abgeschmackter weise oft mit hochtrabenden, nichtssagenden phra-
sen sein urteil über jede schrift, ja sogar über die Verfasser abzugeben.
Im gegensatze dazu steht in jeder weise die saubere arbeit Boettichers, welche
den ausgesprochenen anforderungen entspricht. Er hat den lobenswerten ausweg
aus den Schwierigkeiten, objectivität und kritik zu vereinigen, darin gefunden,
dass er seine eigenen ansichten in oft recht umfangreichen anmerkungen darlegt.
Dadurch wird uns die Übersicht bedeutend erleichtert und auch denen der genuss
nicht getrübt, welche dem Verfasser nicht zustimmen. Andrerseits aber erhebt sich
die arbeit durch die meist wolgelungenen anmerkungen über das niveau einer bloss
orientierenden einführung in das studium Wolframs zu einer durchaus selbständigen
wissenschaftlichen leistung. Alles zeigt, dass der Verfasser sich mit liebe und
urteil in den stoff vertieft hat und die massvolle kritik, welche er überall übt,
zeugt von guter sachkentnis. Eine besondere aufmerksamkeit widmet er der aesthe-
tischen betrachtungsweise des dichters, wie er ja auch schon früher darin gearbei-
tet hat (vgl. Germ. 21, 257 — 331). Seine Übersicht über das auf diesem gebiete
bisher geleistete ist nicht nur klar und anschaulich, sondern sie eröffnet auch
lichter auf neue gesichtspunkte und legt die stellen bloss, welche noch weiterer
aufklärung bedürfen. Es steht zu erwarten, dass der Verfasser, wie er auch andeu-
tet, weitere Studien diesen fragen zuwenden wii'd.
Die anläge der arbeit ist folgende. Der erste teil behandelt die grundlegen-
den forschungen Lachmanns und Haupts in bezug auf text , Interpretation , Chrono-
logie und quellenfrage, der zweite s. 6 — GO nach denselben vier gesichtspunkten
die späteren arbeiten. Die kritik richtet sich hier besonders gegen die ausgäbe
von Bartsch, welche, obwol in zweiter aufläge erschienen, bisher unseres wissens
nie einen recenscnten gefunden, aber in lezter zeit manchen angriff erfahren hat.
Boetticher verhält sich ablehnend gegen die metrik und Orthographie derselben,
verwirft mit beachtenswerthen gründen die echtheit der beiden neu entdeckten
1) Die gesamte Literatur Walthers von der Vogelweide. Eine kritisch - verglei-
chende Studie zur Geschichte der Walther - Forschung. Wien 1880. X und 99 s.
ÜBER BOETTICHER, WOLFRAM - LITT. 127
Titurelbnichstücke (s. 9) und gibt s. 15 fg. eine blüteniese aus den erklärnngen des
herausgebers, die hoffentlich dazu dienen wird, anfänger des Studiums vor der
ausgäbe zu warnen. Die frage nach der abfassungszeit der Titurellioder hält der
Verfasser nach Herforths Untersuchung in soweit für gelöst, als der Titurcl sicher
nicht vor dem Parzival entstanden sein kann. Mehr, glaul)t er mit dem referen-
ten , sei auch durch die Parcival -Studien von Domanig nicht bewiesen.
Tu der klaren darlegung des Standes der quellenfrage dagegen wird den
Untersuchungen von Bartsch grosse anerkennung gezollt. Verfasser konit freilich
zu dem schluss, ,.dass an greifbaren resultaten nicht viel mehr gewonnen ist, als
das was Lachmann aufgestelt hat, nur dass die frage von mehreren selten her mit
hilfsmitteln, die Lachmann noch nicht hatte, einer gründlichen erörterung unter-
worfen ist. Von Bartsch ist Lachmanns ansieht mit einigen erheblichen Stützpunk-
ten versehen worden, von Birch- Hirschfeld ist ein schwerer einwand dagegen
gemacht worden , der aber nicht so schwer wiegt , als die neuen Schwierigkeiten,
die er im gefolge hat." Auch hier wird gezeigt, worauf die weiteren forschungen
ihr augenraerk zu richten haben.
Dass das büchlein auch manche unvolkommenheit hat, wollen wir nicht zu
erwähnen vergessen. Die bibliographischen angaben sind nicht überall gleich aus-
führlich , die correctur nicht ohne tadel. Bei registrierung der handschiiftenfrag-
mente hätten überall fundort und die algemeiuen kenzeichen der handschriften
angegeben werden können, um bei neuen entdeckungen den vergleich zu erleich-
tern. Es wäre zu empfehlen gewesen, bei der besprechung des Lachmannschen
textes einige werte über sein verfahren in den anmerkungen zu sagen. Dem anfän-
ger besonders macht die ausserordentlich knappe behandlung, die nicht bloss durch
des herausgebers art, sondern auch durch den umfang des Werkes geboten war,
und das Verständnis der zeichen Schwierigkeit.
S. 9 hat sich ein fehler eingeschlichen. Neben plan msc. komt auch diu
plane im Parc. vor, wie 59, 25 diu plane : nach tväne und 117, 10 die plane :
soltäne zeigt.
Die beschränkung der darlegung auf die forschungen seit Lachmann hat au
sich berechtigte gründe, abgesehen davon, dass die schritt aus einem vortrage
erwachsen ist. Vielleicht aber empfiehlt es sich doch für eine neue aufläge, welche
dem praktischen handbuche nicht fehlen wird, ein capitel voraus zu schicken, wel-
ches uns über die Schicksale unseres dichters vor Lachmann orientiert. Hier wer-
werden dann auch einige kleinere schritten wie das Reimregister von Schulz u. a.
nachzutragen sein , welche dem verf. nicht zugänglich waren oder von ihm über-
sehen worden sind.
BERLIN, FEBR. 1880. KARL KINZEL.
Seb. Zehetmayr, an alogisch - vergleichendes Wörterbuch über das
Gesammtgebiet der indogermanischen Sprachen. Auf Grund stren-
ger Etymologie, mit besonderer Berücksichtigung des Latei-
nischen, Griechischen, Deutscheu, Slavischen und Sanskrit. In
Commission bei F. A. Brockhaus, Leipzig. 1879. VIII, 536, XLL Lex. -8. M. 12.
Der Verfasser gibt das zu behandelnde material im anschluss an den alpha-
betisch geordneten sprachstoff des Lateinischen. Dabei nimt er vor allem rücksicht
auf die analogie, unter der er freilich gar mancherlei versteht. Wenn z. b. ein
wort den gleichen lautwandel zeigt wie ein anderes , so steht es in analogie zu
demselben; vgl. s. v. a: ,,meco aus ecneco nach analogie von lümen aus lucmen."
128 BEHAGHEL , ÜBER ZEHETMAYR, VEBGL. WÖRTERB.
Suffixe stehen in aualogie zu einander: s. v. ahs: ,,in cliesem -s stecht möglicher
weise ein analogen des genitivsuffixes -as , gr. o?." Drittens zeigt sich analogie
in der bedeutungsentwickelung. Das ist das moment. auf welches Zehet-
mayr den meisten nachdruck legt, darin besteht das neue, darin liegt der wert
seines buches: in sj'stematischer weise bietet Zehetmayr bei den einzelnen ablei-
tungen belege analoger bedeutungsentwickelung aus derselben si^rache oder aus
andern indogermanischen sprachen, die mit grossem fleiss zusammengetragen sind.
Also z. b. : unter accipüer zu caplo wird Jiahuh zu haben angeführt , mit plangere
trauern das gr. xönTta&cn und germ. hrimvan [= xqoiko (?)] , mit saecahmi got.
manaseds verglichen.
Nur von einer ai't der analogie spricht Zehetmayr nicht, nämlich von der.
die man heute gewöhnlich im äuge hat, wenn man das wort gebraucht, von der
formenübertragung, der einwirkung eines wortes auf das andere. Und doch, kaum ist
es glaublich, beruft er sich am beginn seiner einleitung auf ein wort von Curtius:
,,die macht der analogie in der spräche an deutlich erkenbaren fällen nachzuweisen
ist eine wichtige aufgäbe der forschung." Stud. 6, 262. Der schon hierin sich
bekundende mangel an klarheit des denkens wird auch sonst sehr fühlbar; gar oft
bedarf es tiefen Studiums, um der eigentlichen meinung des Verfassers auf die spur
zu kommen. Wenn die mühe nur wenigstens immer belohnt würde!
Das ist leider nicht der fall. Der Verfasser besizt nicht im entferntesten die
keutnis des historischen sprachgutes und der lautgesctze, die notwendig wären,
damit er wirklich ,,auf grund strenger etymologie ,'' wie es in der Überschrift heisst,
seine erklärungen und bedeutungsentwickelungen aufbauen köute. Nieraals ist man
sicher, ob ein von ihm angeführtes wort belegt, oder nur erschlossen ist, noch viel
weniger, ob es in der gestalt vorkomt, wie Zehetmayr es verzeichnet. Höchst
ergötzlich ist es, die Fickschen themen hier als gotische oder althochdeutsche Wör-
ter auftreten zu sehen; bisweilen stehen wir vor dem baren unsinn. Für diese sätze
einige beispiele aus dem Germanischen: verrucJit soll zu i'rerriechen gehören. S. v.
accipüer: got. ulita statt hiulits. S. v. acerhus: „herb, von ahd. haru, got. hai-
rus d. i. acies, hären acuere." ! 8. v. actus: ,,der trieb, zug, vom feldbau gesagt,
wenn der landmann nach 10 fuss wider mit der äyMira antrieb. Analog: got. tig-
jus = ahd. -Z7ifj , -zig. Da die Goten normalfurchen von nur 60 fuss hatten, so
hört -tigjus (= züge, zu tiuhan agere) mit 70 auf." S. v. candidus: got. airlcna:
nur tmairhns belegt. S. v. capülus steht das got. wort einmal als skuffs, einmal
als skufta. S. v, capto: gagrefti statt gagrefts. S. v. capsa erscheint got. fodr
die scheide als fodr die einfassung des kleides (,,von fatan = fassen, capere , praet.
fuot"). S. V. cardo: ahd. hrutan statt ags. S. v. casa: zu chez aus casa analog
,,bei, in casa, eig. im bau, in bur." S. v. genius: gußs statt guß. S. v. cun-
nus: ,,mhd. brüne cunnus (altn. hrynja zerschneiden); daher Briinhilde." Sub v.
deus: ,,Wuotan für Wuotant i. e. penetrans." S. v. descisco: altn. skiarr fugax
,,der sich gleich schert." S. v. furfur: ,,ahd. zemisa die zemsen , die klcie zu
ja[.it7v."
Summa: nur derjenige, der im stände ist und lust hat, jede, auch die
kleinste angäbe genau nachzuprüfen, nur der kann Zehetmayrs buch überhaupt
gebrauchen.
HEIDELBERG , 29. JULI 1879. OTTO BEHAGHEL.
HaUe, Bucb<lrupkerei des W.iisenhauses.
HALBERSTÄDTER BRUCHSTÜCKE.
AUS EINER PREDIGTSAMLUNG.
Acht pergamentblätter, duodez, 13" lioch, 10 V2" breit, 25 — 30
nicht linierte Zeilen auf der seite enthaltend; schrift des 14. — 15. Jahr-
hunderts. Die lesharkeit hat auf hl. l'' 2" 3" 4^ 5*^ 6'' 7'' einiger-
massen dadurch gelitten, dass die blätter als buchdeckel aufgeklebt
waren. Bl. 8 enthält ein gereimtes gebet au Maria. Die rückseite
von bl. 8 ist kaum zu entziffern. Auf allen übrigen seiten ist es mit
einiger mühe gelungen , bis auf einige zweifelhaft gebliebene stellen,
alles zu lesen.
[1. Von den fünf pfunclen.]
[Ev. Matthaei 25, 14 — 30.1]
*
[Bl. 1"] ubersen, von der wile daz wir geboren worden, biz daz
ein bra an de anderen cumeth, went an unserm toth, als wenich so
er des cleinsten hares vorgezen wil, we wiz ^ verloren han.^ darumbe,
ir herschapht allen samt, durch den almechtigen got leget uwer zit
nutzechlichen an. wir eomen alle nuwelichen her, unde müzeu alle
schir von hinnen. — zo dem ander* male suleu wir wider reiten von
1) Diese predigt erweist sich als eine sehr gekürzte und frei behandelte
widergabe von bruder Bertholds predigt von den fünf pfänden in : Berthold von
Regensburg. Vollständige ausgäbe seiner predigten usw. von Franz Pfeiffer. Bd. 1.
Wien 1862. no. II. s. 11 — 28. — Für die bequenilichkeit des gebrauches erschien
es zweckmässig , hier in den anmerkungen , neben den angaben und bemerkungen,
die sich auf fehlerhafte, nachlässige oder zweifelhafte Schreibungen im texte der
bruchstücke beziehen, auch die hauptsächlich.=;ten entsprechenden stellen aus dem
texte der Pfeiff'erschen ausgäbe beizufügen. J. Z.
2) We wiz] 1. wie wirz.
3) Und ir sult daz dritte pfunt lesen an dem dritten gelide. Daz ist diu
zit , die iu got ze lebene hat geben , der wil got niht enbern : er wil wizzen , wie
wir sie vertriben, alse wenic got des niht enbern will, wa daz minneste hfir si,
daz er dir verlihen hat, wie du es äne worden bist. Berth. s. 19.
4) Daz ander, da von du gote solt widerreiten sine zit, daz ist, daz du die
in gotes lobe vertriben Solt, mit gebete, mit kirchgange, usw. Berth. s. 21.
ZEITSCHR. F. DEUTSCHE PHTLOLOOIE. BD. XII, 9
130 G. SCHMIDT
unser zit. daz ist daz wir alle unser zit stete an gotte bliven
sulen , unde nimber von gotte gescheiden wollen , durch einer slachte
gut, noch durch vrunde, noch durch vorchten, noch durch nicht uph
al der werlde , wan daz we stetin willen haben bi gotte zu blivende.
daz verde phunt,^ daz uns unser herre bevolen hat durch zwei
dinch, unde müzen ouch zwivalt widerreithen von dem selben phunde,
daz ist erdische guth. davon sult ir zu dem irsten widerreiten,
daz ir kint unde husvrowen unde iuwer gesinde unde iuch selber davon
besorgen sulet an spise unde an gewande de not dürft, unde solt
des anderen ein teil durch got geben, ^ unde nicht durch ere,
noch durch rom, noch durch guften , noch durch loblacheit, weder
gumpelvolke noch spamanne •' noch niman wan durch got. so sol wir
anderstunt wider reiten von unsem gute, swaz iu über wirt ober
iuwer not [l**] durfth, daz sult ir lien durch got armen luten* uf
gut phant. daz ist iu an sunde , daz ir uph guth phant ^ lieth , wan
ez ist nu so vil trogene in dem lande, daz man es nimber zo sicher
machen mach, davon ist daz an sunde, daz ir gutez phant nemet,**
unde sult aber nichtes nicht darumbe nemen, wider vor noch nach,
weder penninghe noch cleynode, noch diz noch genz, noch deine noch
groz, wanne gottes Ion. nu sech, ich were rechte ein tore, ob ich
gottes hulde wol erwerben mochte an aller slachte kumber unde an
arbeith unde aller slachte schaden: also mogeth ir gotes hulde irwer-
ben an aller slachte ungemach, nicht wen daz ir lieth durch got nnde
1) Daz vier de pfunt daz iu der almehtige got enpfollieu hat unde niht
enbern wil, ez müeze im daz selbe pfunt ein ieglich mensche widerreiten zwivalt,
das ir ouch merken sult an dem vierden glide, daz ist din guot, din irdenisch
guot, daz dir got enpfolhen hat. Daz hat dir got durch zwei dinc enpfolhen.
Als er dir disiu fünf pfunt alle hat enpfolhen, iegelichez umbe zwei dinc, also hat
er dir ouch din irdenisch guot enpfolhen umbe zwei dinc. Daz eine: daz du es
niozen solt zuo din er nutdurft, swar du sin ze rehter not bedarft unde din
husfrouwe undo din kint und ander din gesinde. Bertli. s. 24.
2) Dannoch sult ir ez ze dem andern male widerreiten: daz ist, daz irz
in gotes lobe niezen sult. Berth. s. 25.
3) spamanne] 1. spilmanne. — Gist aber du ez den lotern unde den gum-
pelliuten durch lop oder durch ruom, dar umbe muostü gote autwürten. Berth.
s. 25. — Vgl. W. Wackernagel, gesch. d. deutsch, litt. 2. ausg. §43. anm. 22.
s. 131 fg.
4) Ir sult ouch armen liuten lihen, daz sit ir gote von iuwerm guote
schuldic, wan da von werdet ir niemer desto ormer. Berth. s. 26.
5) Hs.r pant.
6) Ir müget aber gar wol guotiu pfant nemen, wan ez ist aber armuot
leider oft untugenthaft, unde da von erloubet iu got wol daz ir guotiu pfant
dar umbe nemet. Berth. s. 27.
HALBERSTÄDTER BRÜCKST. I. PREDIGTEN 131
daz ir nimber desto avmer werdet, waii daz mau liet, donie ist rechte
als der sunnen seliine. swe vil uns de suuue ires lichtes litli, so hat
se siu nicht deste miuuer,^ wan se niunnet ez io des nachtes wider zu
ir. unde schiuet aber des anderen tages als vil als davor, unde
darumbe daz uus de sunne ir leclit lieth bi dem tage , so wil se unser
herre schöner macheut an deui iuugesten tage , dan se itzunt si , unde
wil den manen ganz maclieii, darumbe daz her^ uus siu leclit lihet
itwonue bi der nacht ein weuich also wil iuch der almechiege got
gar schone mach |2''] en, de also widerreiten, daz se durch got lient
uude gebeut, phi rouber, waz sieth (?)^ ir disseu armen gottes kinden
vor miueu ougen uude ir gewalt ser * unrechte voit! girer, we rei-
testu wider au den jungesten tage! unde ir vrowen, de dar gewaudes
über einander legeut, daz iz irfuleth, daz rechte de strige •'' nider bre-
steu mochte, so mantel so mantel, so rucklin unde ruckliu, so badlie-
lachent uude badlielachen , so vorspan uude verspan , des ist also vil,
daz etliche über einander legeut: uude ist manich armer mensclie, der
rechte irvresen mochte dabi. b rüder Bartolt, da wolle wirz durch
(uuser seien) willen gebeue so wir an unsem dodhe legeut/' so endowe'^
wer vor unsen wirten anders nicht '^ delen. so wan unser gewaut vil ^
wüuderlicheu valde,^" gib iz umbe pheniughe , wan daz ir zo rechter
not bedhurfeth, so gebet daz andere hin. unde helphet einen ittes-
weune sex pheuninge also wol de eme . . . liech ist, der im se umbesus
gebe, darumbe, ir herschapht allen samt, durch den almechtogeu got
gelebeth^^ also umbe gottis hulde unde daz (iz aue?) schadlien si.
daz phumte phunt, da wir eme von wederreiten solen v(ude
) an dem jungesten tage , daz ist von ( ) dinston , davon
moze wir euch (zwivalt) widerreiten. ^^ — zo dem ersten (saltu) dineu
1) Wan alse diu sinino aller der werlte ir schin lihot, des hat sie deste
miliner niht. Berth. s. 26.
'2) Hs.: liir. Die angäbe, dass gott am jüngsten tage den niond ganz i^glanzV)
machen werde, fehlt im Pfeifferschen texte, ebenso wie das folgende, was hiernach
bezüglich auf das vierte ])funt gesagt wird.
3) sietliir] etwa : scathir d. i. schadet ir? 4) gewalt ser] 1. gewaltesere.
5) de strige] der schräge? 6) Hs. : lelegent. 7) eiidowe] 1. endorre.
8) Hs. : nicht anders nicht. 9) Hs. : wil. 10) Unverständlich.
11) gelebeth unsicher zu lesen.
12) Daz fünfte pfimt daz ist: daz du dinen nfehsten m innen solt alse
dich selben. Daz pfunt muost dfi ouch zwivalt widerreiten, wan du solt dinen
nffihsten zwivalteclichcn miuuen. Einhalp solt du in minnen in got, anderhalp
soltü in minnen durch got. — Des ersten soltü dinen ehenkristen min-
nen in got. Daz ist also gesproclien. daz du kein dine tuon solt durch dekei-
nen dinen vriuiit daz wider got ist, weder roup noch braut, weder manslaht
132 G. SCHMIDT
ebencristeii diireh got lep haben, daz dir leith si, [2''] swaz
ime werre.^ iinde ob her baz mach danne dhu, des saltu in nicht
niden. ab her dir icht leydes hat getan, du salt doch in durch got
rechte leph han unde durch recht wedher niden noch haz tragen, ist
ieman hir, der vientschapht habe unde sinen ebencristen haz unde nid
trage , der sal daz hüte gotte geben den worten , daz ime der almech-
tege got alle sine sunde vorgebe.''^ wan her muz von dem phumthen
])hunde also wol widerreiten als von dem ersten, als von dem anderen
unde von dem dritten, also wol muze wir von dem vierden unde von
dem phuniten widerreiten. ^ darumbe, ir herschapht alle n samt , durch
den almechtegen got habet iuwen ebencristen leph durch got, ob her
ez umbe dich vordhenet. hat her dinen vater irslagen oder dhineu
bruder oder bi dhiner swester gelegen oder dhine niphtelen geoneret
ofte dine husvrowen , oder swaz her de zo leidhe getan habe , daz saltu
im allez durch got vorgeben, — zo dem anderen male so solt ir*
iuweren ebencristen leph haben in got. nu seth , daz ist, also de
dhin ebe(n)cristen nicht " tuth , deme saltu weder haz noch nidh tragen
durch got unde dheme, der dhe leith hath getan unde der ( )
hat getan , daz dhu in in got leph habest ( ) in iraber so leph
gehabest, daz du im ( ) durch sinen willen tost, ez si kint oder
(vater, swest)er oder nephe oder bruder noch chein (mensche?) sol
der imber so leph wer [3*] den, daz du totliche sunde tost durch in.
wan daz ist allez unrecht lebe." swer durch sinen vrunt totliche sunde
toth als ludas, der wart girich durch siner kinde willen, da huthe
recht al de werlt vor. laz iu neman so leph sin, als ludas, daz ir
unrechtiz gut gewinnet durch husvrowen oder durch kint oder durch
iuch selben , noch meineth sweren , noch neman slan , durch cheinen
iuweren vrunt , noch cheiner slachte totliche sunde sult ir durch niman
tun. daz ist in got. ir sult ouch iiimandes viant sin, der iu leit hat
getan, daz ist durch got.
noch wunden, noch nilites niht in aller der werlt. Bertb. s. 27. — Die beiden
teile, minnen in got und durch got, sind im texte dieses bruchstückes, gegen-
über dem Pfoiiferschen texte, unigestelt.
1) Ze dem andern male soltu dinen ebenkristen minnen durch got. Daz
ist, daz dfi im gunnen solt daz du dir ganst eren unde guotes unde himelriches,
und im ergunnest daz du dir selben ganst. Bcrth. s. 27.
2) Und ist ez halt, daz er dir gröz herzeleit getan hat, dannoch soltü
in minnen, alles durch got, daz du im durch got allez daz vergebest, daz er dir
ie ze leide hat getan an libe oder an guote oder an dinen Munden oder an dinen
eren oder an dekeinen dingen, daz solt dfi im vergeben, den worten, daz dir
gut alle dine sünde vergebe. Berth. s. 27 fg.
3) Hs.: widerreitten. 4) ir fehlt in der hs. 5) nicht] 1. iht.
6) lebe] 1. leben.
IIALBERSTÄÜTKR BRUCHST. 1. I'RKDIÜTEN
133
also lernet vviderreiteii unde setli alle tage an lieiide uiule an
voze/ we ir de phnm phuut vviderreiten soletli. viide dliat liatli iu
got an iuvver heiide unde iuwer voze gescreben.^ darunibe .sult ir ler-
nen unde lesen alle tage an den gelidhen, daz ir gotte sculdliich sit
wider zo reiteiie^ phuni phunt. unde swer de also wider reitctli, als
ich iu vor han geleget, den gesach got, daz her ie geboren wart.^
wan der stet (vrolic)hen au der reitunge. unde swer euch also nicht
widerreiteu wil, der sal hende nocli voze nimber me angesen. phi
girer, we reitestu wider an dem jungesteu tage, dir gebristet an der
reitunge,^ du woldest dhenne ... den rade wider geben oder imber
mit den tuvelen^ brinnen. ir herschapht (allensamt?), ab ir also
widerreiten wollet oder nicht, daz stet an iuwer vrier willecheit, [3'']
de nemant mach bedwingeu. unde swar ir iuch her gesunieth haben,
daz ir also iuch nicht geubet haben, zo dem ersten an unseni libe
unde an unsem a mm echte unde an unsem gute unde an unsem
ebencristen,' so gewinet wäre ruwe unde chometh zo lütterer bichte
unde untfath buze nach gottes gnaden unde nach iuweren staden, unde
nemet iuch an hinnen vortli Avent au iuwen tot, daz ir vil wol kun-
ueth widerreiten, daz ir wol gewuunen^ habent an iuweren phum
phunden. wan so spricheth unser herre: nu habe danch, getruwer
knecht,^ du bist truwe gewesen ober ein weinich gutes uph erthriche,
nu wil ich dich setzen ober alle min gut. nu wis vro, getruwer
knecht,'^ giuch in de vroude dines herreu. so kumth her iu de
vroude, de ewich ist, da allensamt ein vroude ist, als da ein eugeP^
flugeth in den lüften , unde under ime uude neben im unde vor im
unde hinder im lupht, unde ist al umbe nicht wan lupht. nu seth
rechte, also steth iz in den ewigen vroudeu, da ist allensamt ^^ ein
1) hende — voze] 1. henden — vozeii.
2) Da vou hat der almehtige got diu selben fünf pfunt geschriben an
unseriu lider. An die hende fünf vinger, an die füeze fünf zehen . .. Als
wir unser hende ansehen so suln wir gedenken, wie wir disiu fünf phunt
wider gereiten, daz unser herre spreche: ,,nü wis fru, getriuwer kneht, ganc in
die freude dines herren." — Unde disiu fünf pfunt niüezen Avir zwivalt widerrei-
ten, ieglich pfunt zwivalt. Der stücke sint zeheniu, diu wir dem almehtigen gote
niüezen widerreiteu. Berth. s. 12.
3) Hs. : reittene. 4) Den hat gott vom tage seiner geburt ab gesegnet.
5) Hs.: reittunge. 6) Hs. : tivelen.
7) In dieser recapitulation der fünf pfunde (d. i. eigene person, amt, ver-
mögen, zeit, nächster) ist das vierte pfund, die zeit, ausgelassen. Am Schlüsse
des Pfeifferschen textes von Bertholds predigt werden (s. 28) alle fünf pfunde rich-
tig widerholt.
8) Hs. : gewnnen. iJ) Hs. : knech. 10) Hs. : knech. 11) Hs.: eugel engel.
12) Hs.; alensamt.
134 G. SCHMIDT
vroiide. swa man sieht , da ist vroude. swa man ist in hemelriche,
da seth mau anders nicht wau vroude, unde allez unde allez vroude
ganzlichen, daz uns das allen dar wider vare, des vorli uns vater
unde sun unde der heylige geyst. amen.
[3. Drei Ijcdiiiguiigeii der Seligkeit.]
Dhe behalten soleu werden, de bekennet nie bi dreu dhingen.
swer der einiz an im hat, daz [4*] ist ein zeichen, daz her ^ behalten
sal werdhen. daz irste ist, daz du gotte gerne dhenest unde dir
got nicht vortreget. nemant kumeth in daz himelriche wan der,
gegen dem got sinen besmen chert. daz andere ist, ob du so gut
bist, daz dir alzehant gruwet ab den sunden. daz dritte ist, ob
du also gut bist unde daz herze hast, daz du alle luthe leph hast,
übel unde guth, dhe der gut unde übel tun, de guten minnen durch
got , de obeleu , daz se gottes geschephete sint.
[3. Die vier Taseii der liimmelfürsteii.]
[lol). 3, 19.] Parvus et magnus ibi sunt, et servus über a doiiiino suo.
Der wissage sprichet : Owe , daz ich da nicht bin , da dhe grozen
unde de deinen ^ sint , da der knecht vri ist von sinem herreu ! Also
claget der wissage viH bitterlichen, alle hochzith de nemen ab, aber
aller heyligen hochzit nimmet zo von jar zo jare biz an den juugesten
tach. daz himelriche ist gelich der archen in der alten e. de was
nidhen with unde oben enghe. als ist iz in dem himelriche. je hoher
hinuph , je minner heiigen , je mer vroude. je baz heuab , je mer hey-
ligen unde minner vroude. also ist iz in disser werlt, so is* hoher
lute, so ir ie minner ist. der vrien ist minner den der dheuestmau.
so ist der graven minner den der vrien. so ist der vorsten ^ minner
den der graven. so ist den einer obir se alle, daz ist der keyser
unde der ist bezechenit bi unsem herren. rechte also gewaldichlichen,
als ein keyser unde ein koninch ist, zo gebetene eineme sime graven,
swaz her wil, also gewaldichlichen beten de hohen vorsten, de hey-
ligen, den nidheren, swaz se wollent, wan se rechte vorsten ober se.
unde ist allen gar wol, unde al werlich vroude, de alle koninge unde
alle keysere unde alle menschen ie gewin [4''| nen bi einander, daz
were nicht als ein phunt '* weder de vroude, de ein geistlich mensche
hat in disser werlde , der rechten geystlichen trost hat. unde wer dhan
al vroude unde aller geystlicher trost, den alle guthe luthe unde hey-
1) Hs.: hir. 2) Hs. : imde deinen. o) Hs. : wil. 4) is] ieV
5) Hs. : vorsten, ohne den artikel der. 6) pliuntj wint?
HALBERSTÄDTER BRÜCKST. I. PREDIGTEN 135
ligen iü dirrc werkle ^ ie gewinnen '■^ bi einander , daz were nicht als
ein troft'e weder de minnesten liimillischen vroude, de de niderste sele
hat , dhu iü dhem himilriche ist. daz ist aber allez ein nicht weder
dhe vroude , dhe dhe hohen heiligen haben, wen dlie sint rechte vor-
steu ober dhe anderen, unde darunibe hat un.se herre geistlicher lute
gedhacht, daz se vorsten wordheii in dem himilriche, Avan des povel-
volkes wirt vil, der vorsten cleyne.
we mach man ein mensclien erkennen, der ein vorste wolde
werdhen in dem hemele? gar wol bi vier dhingeu. unser herre
liatte eiuerlegc volch in der alten e , de hezen vorsten mit got. den
hette her geboten, swa se reten oder voren, daz se betten viere
vasen,^ daz waren hemel vasen, bi den sint bezeichent vierlege dhinch,
dabi man sal bekennen, de vorsten wollen werden mit gote. — daz
erste ist, daz se sieh nicht alleine hüten vor tothlichen sunden. se
hüten '^ sich alt^ vor tagelichen sunden. des tut daz povelvolch
nicht, daz huteth sich nicht wan vor den tothlichen sunden , der tage-
lichen achte ^ se nicht, vierlege schaden tun dhe tageliches '^ sunde.
daz eine ist, daz gotte des menschen gute werch nicht so wol geval-
len als sus. der andere schade ist, daz her nicht mach also balde
komen zu dem himele , zo ghelicher '^ wis sam der einen sandegen
wech^ get; irret iz en nicht gar, [5*] so sumeth ez in doch vil. der
dritte schade ist, daz de sele hinab in das vegefur moz, unde vor-
dhenet doch nimber nieheinen Ion da, unde wirt nimber deste baz unt-
fangen indem hemele, so se hundert jar gebrinnet, der vi er de schade
ist, so man der tegeliches ^"^ sunde zo vil tut, so vorhenget got deste
ir ^' ober den menschen, daz her in tothsunde vellet. swe doch de
tageliches^^ sunde nimber mögen werden zo tothsunden, so zient se
doch zo totlichen; zo gelicher wis, de wile daz daz wazer geith unden
1) werlde fehlt in der hs. 2) gewinnen] 1. gewunuen.
3) Numeri 15, 38: Loquere filiis Israel, et dioes ad eos, ut faciant sibi fim-
biüas per angulos palliorum , ponentes in eis vittas h3'acinthinas. Deuteron. 22 , 12 :
Funiculos in fimbriis facies per quatuor angulos pallii tui, quo operieris. Zacha-
rias 8,7: Haec dicit dominus exercituum: Ecce ego salvabo populum mouni in terra
orientis et de terra occasus solis. 8. Et adducani cos , et habitabunt in medio
Jerusalem, et erunt mihi in populum, et ego ero eis in deum in veritate et in
justitia. 23. Haec dicit dominus exercituum: in diebus illis, in quibus ajjprehen-
dent docem homines ex omnibus Unguis gentium , et apprehendent fimbriam viri
Juda^i, dicentes: ibimus vobiscum; audivimus enim, quoniam deus vobiscum est.
4) Hs.: hutten. 5) alt] 1. also. 6) achte] 1. achten.
7) tageliches] 1. tegelichen. 8) Hs. : ehelicher. 9) Hs.: vech.
lOj tegeliches] 1. tegelichen. 11) ir] 1. er.
12) tageliches] 1. tegelichen.
136 G. SCHMIDT
in daz scliipli zo den deinen lochelin,^ so ertrinken doch de lute nicht,
ist aber daz man daz nicht uzschupphet, so werden de uudeu oben
hin slahent. — der ander himelvase ist, bi dem man dhe vorsten
erkennet mit got, daz ist daz se nicht alleine an guten werken sich ^
ubent, se ubent sich euch an tugenden: des tun dhisse nicht,
disse ubent sich uicbt wau an ouzeren guten werken, se wachent, se
vastent uude sogetane dhinch, aber minne unde geduldicheit unde
demuticheit dhes achten se nicht, unde ist doch gescriben, daz der
rechte unde der gewisse Ion, der in himele gegeben wirt, der heyzt
der tugent Ion. unde des ist ein tröffe bezere den disses ein vodher.
wan swaz lones gegebent^ wirth umbe uzer arbeit, daz heiz ^ wane
ein zogabe. Paulus sprichet: „ich han mer gearbeithet dau se alle." ^
nach der redhe so het he*^ me lones den so alle, nein, he hat me
zogabe. hat aber ein ander me tugent, der hat euch des rechten lones
mer. — der dritte himelvase den de himelvorsten habent mit gotte,
daz ist, ab man in ein amecht beveleth, des plegent se gar wol
unde ir [5 "] gebent sich im daz '^ nimber alse gar , si haben gelich
heimlich mit gotte. dhes tun dhisse nicht, entweder se vorsument
daz ammecht oder se irgebent sich im so gar , daz se unses heren gar
vorgezent unde danne so ist der tuvel gevroweth. inimici (?) nostri
sicut aranea^ etc. der tuvel tuth sam de spinne, de leget ir
arbeith vil daran, daz se gewerke ein webe, dar se de vlegen inne
vahe. unde so se se denne gevech (?) , so izzet se weder ^ hoy vet
noch voze noch nicht dhes an ir , nicht wan ein wenic (?) hat se under
dem herzen , das suget se ir uz , so ist se tot. also tot der tuvel. alle
de stricke, de her uns imber gelegen mach, daz ist newan darumbe,
daz her uns dhen von dem herzen neme , daz ist du andhacht,
dhu minne unde dhu lebe, dhe we zu gotte haben sulen. so dhunket
in wi her wol geseghich ^° habe an uns unde lezeth uns dhenne wol
uzer arbeit tun, des achteth her nicht, unde (?) swen wir iz dhurch
unses herren lebe nicht ton, unde swaz wir dhenne anders ton, daz
ist krauch. — de vi er dhe himelvase, dhen dhe vorsten mit gotte
habent, daz ist daz se gar demutich sint unde gar viP^ geleten
unde ir zit vlizechlichen hüten, unde so in got ie mer gnaden tot,
so se ie mer dhemuteger sint. unde also irwindet se nicht, biz daz
1) Hs. : lochchelin. 2) sicli fehlt in der hs. 3) gegebent] 1. gegeben.
4) heiz] 1. heizt. 5) Plus ego in laboribus pliirimis. 2. Cor. 11, 23.
6) he fehlt in der hs. 7) daz] doch? 8) Hs. arrannea.
9) Hs. : gevech izzet weder] 1. gevehet, se izzet weder.
10) geseghich] 1. gcseghith. 11) Hs. : wil geleten] willecliche?
HALBERSTÄDTER BRl'CHST. 1. PßEDlGTEN 137
se dhenne geweilt^ dheii gruul dlu^- demuticliheith. duz ist, daz se
sich aller mensclicn l);\z ^ babeiit. wau unser lierro der sprach: als
dhu zo dher \virtscha|)lit geladheii wirdliest, so sezze dicli an dhc jun-
gesteii stat.'' lior sprach nicht: sizze '• bi dem jungosten. licr sprach:
[6"] sizzc zo dlunn allerjimgesten. sauctus l^''ran(ciscus) der bette sicli
an der jungesten stat,'' do lier siner brnder einem irzeigeth wart, we
hoch her in dem bimelriche were. dho hortli her eine stimme spre-
chen:'^ dhu stat, dhu ere, dhe ist dhes dbemutigen Franciscus. nnde
dhu stat unde dhe ere dhe was so hoch, daz her iz ni menseben torste
sagen, darnach fragete der bruder sanctum Franciscum wan vor '
her sich bette, dho antworte her ime: vor den allerbosesten men-
schen, der in alder werlt ist. do sprach her: Francisco,** daz ist unge-
louphlich: dhu weist wol, daz maniger grozer suuder ist den dhu.
dbo antwortbe her im: ich weiz wol, bette got den selben sundereu
also groze guadhe gegeben als mir, se weren viP turer dhen ich.
davon waz^° iz nicht ein schimpbt, daz her alle creature swester hez
unde bruder. wenne her ne bette sich nicht bolier dhenne ir einiz.
[4:. Kleine vor gote und vollekomen. ^ ^]
[Luc. 7, 27. 28. Hic est, de quo scriptum est: P]cce mitto ange-
lum raeum ante faciem tuam, qui praeparabit viam tuam ante te.
Dico enim vobis : major inter natos mulierum propheta Joanne Baptista
nemo est; qui autem minor est in regno dei major est illo. Vgl.
Mal. 3, 1. Matth. 11, lo. Marc. 1, 2.J
Ecce mitto angelum meum etc. Ez sint drierlege geyst-
liche lutbe, dhe sint cleyiie vor gotte. — de ersten sint, de
sich wan hutent vor tot blichen sundeu. dhe gereut nicht hoch
werdben in dem bimelriche. sen wollent dher se(len) nicht grozen
scbadhen ton mith dhen sunden unde dem libe nicht grozen arbeyth,
unde tun rechte sam ein wirth, dher sich uidber legeth in dem huse
unde gertb nicht, daz der koningh werde unde darnach zert her euch.
swer mer \6^\ (der) selben einer ^^ hober brengetli eines vingeres lanch,
(db)en bau ich vor einen guten predeger. — dhe andere daz sint,
dhe guten willen haut, se sint aber also creftich unde also mech-
tich nicht, daz se dhe wercb volbringen mögen, von den spricht der
1) gewent] 1. gewinnent. 2) baz] 1. nider baz.
3) sed cum vocatus fueris, vade, recumbe in novissimo loco. Luc. 14, 10.
4) Hs.: size. 5) stat] 1. stat gesät. 6) Hs.: sprechhen.
7) wan wor] war vor? 8) Hs.: Francisse, i)) Hs. : wil. 10) Hs.: dawan wast.
11) Diese predigt scheint für ein nonnenkloster bestirnt gewesen zu sein.
12) einer] 1. einen.
138 G. SCHMIDT
wissage: „dhe kiul dbe gereut, daz se geboren werdhen, aber de vrowe
hat der crefte nicht , daz se iz hervore brenge." ^ se sint als dhe her-
best boume,^ dhe dha plüjent unde dhoch nicht wochers brengen. se
gedenken in dhanke ^ also : we lange wiltu ein lacherinne sin unde ein
clapherinne? nim dhich an, daz du gerne bedhest unde gotte gerne
hemelich sist unde dhine dagezit andhachtichlichen sprechest, also ghe-
denkent se ofthe, daz se sich wollen bezzeren unde schudenz^ ot uph
von tage zo tage, in dem sumer sint dhe nachte zo curz , in dem
wintere zo ^ langh. nu'^ sich, waz dhich allermeist irret, daz ist daz
du dir nicht ein zil vorsezzest. daz beste zil , daz imber werdhen mach,
daz ist gottes zil. daz ist hint das dhin, daz ist morgen |daz ist]
aber so gut nicht. — dhe dritthen, dhe onch deine vor gotte sint,
daz sint dhe gute werch volbriugent: se tun se aber wan durch
wppiger '^ als dhe megister schapht. heiz dher selben einer ^ spr(echen,
ich ne) mach sin nicht geton, so (sprich)eth dhe megesterschapht : iz
kometh nimant rechter darzo danne du. so mach hez wol getun. o we
du qirrender wagen, nu [7*1 hat man dhich gesalbet mit stinkendem
unslethe. uu machtu iz wol getun. dhe also sint, de bliven euch
deine vor gotte. — dhe geistliche, de da ouch vor gotte sint,^ de dhe
dru dhinch behalten, dhe machent den menschen vollenkomen hi
an dem lebene unde dhort an dheme lone. daz irste ist, daz he vor-
smache gar dhe werlt, daz her haze, dhaz got hazet, daz gelust-
liche. ez mach dher mensche ein deine dhinch so leph haben, daz iz
eme groze ere beniniet ' " in dheme himelrike. also geschach einem
ensedhele. deme wart irzeigeth, daz sanctus Gregorius in deme hemel-
riche also hoch wäre als her. do in dhes dho wunderthe,^^ daz her
in so grozen eren unde in so grozem richtum im gelich solde werdhen,
do wart ime geantworteth , im were mit siner kazzen bas, den im mit
allen sinen eren. nu sech, waz der arme mit siner vorvlucheten kaz-
zen vorlos! ^2 — daz andere, daz den menschen vollenkomen macht,
daz ist gedult, swen got ober dhich vorhengeth sichtum unde trup-
nisse. du salt ouch geduldich sin gegen deme uvele,'^ swere^^ her
doch bekoret dhich, unde af her dich siech, ^^ als her tete sanctum
1) 4 Reg. 19, 'S: Haec dielt Ezechias: Dies tribulationis et increpationis et
blasphemiae dies iste; veiierunt ölii usyue ad partum, et vires non habet parturiens.
2) Hs.: boyuine. 3) dhauke] dankes? 4j scliudeuz] sclmbeiitz?
5) zo fehlt in der hs. 6) Hs.: uw. 7) wppiger] 1. üppig ere.
8) einer] 1. einen. 9) ouch vor gotte sintj 1. hoch vor gote sint, daz sint.
10) Hs. : beninimet. 11) Hs.: wndorthe.
12) Die legende von dem cinsidel und der katzen ist ausführlich erzählt im
Alten Passional, hsg. von Köpke (Quedlinburg und Leipzig 1852) s. 204 fgg.
13) Hs.: duvele. 14) swere] 1. swenno. 15) slcchj 1. siecht.
HALBEKSTÄDTER BEUCHST. 1. I'REDIGTEN 139
Franciscum iinde saucte Martine , demu lic ^ einen riph abbrach, du
Salt geduldich gegen dim naesten sin, swen her dir ninitli , daz du
hast, swen her dir dinen leimten- swechet. iierre, mich liat min
swestei- ubele geliandeleth einen tach, daz han ich duldiclilichen irle-
dhen. nu l7''| sprichet unser herre: ich wii dich ein jar des vegevures
abnemen. se hat mich zwene tage ubele gehandelet, nu wil ich dir
zwei jar des vegetures abnemen. du macht also duldich sin, daz du
nimber in nichein vegefur kummest. — daz dritte ist, daz den men-
schen vollenkomen macliet, daz ist de minue, wan se nach dher ober-
sten minne geseghen ^ (?) ist. wiltu nu ein recht minnerinne werdhen
unde wilt got mit ganzen truwen minnen, so tri diner minne als man
dem wazzere tut, so man iz teph wil machen unde hoch: so vorrumet
man im also de wege, da iz hin mach gevlezen. also tu ouch diner
minne. so se wolle dha zo den ougen uz schone menschen seu, vor-
lege ir den wech. unde so se wolle zo den oren uz von uppecheit
hören, so vorrin ir den wech. unde so se wolle zo dem munde uz
uppechlichen kosen, vorrin ir den wech. laz du de minne ninder nei-
gen^ uph irdesche dinch, so wirt se sich über sich zu gotte richtende
unde wirt ein geist mit gotte. unde swa dher menschen einer ist, der
habet ein ganzez laut uph mit sime gebeten unde dher selben einer
dher ist gotte leber den pfumhundert ander, dhe doch gotte alle
let sint.
5. eebet. '
[8"] Maria moter ghegrotzist sistu.
der werlde hopene bist du.
du bist milde unde sagtes modes.
ghenade vol ^ unde alles gudes.
ghegrozet "^ sist du moter Cristes.
van mannes liulfe du nicht ene westest.
du Würdest moter maghet reyue.
dhe werdichheyt hast du alleyne.
dhe wart datz span van w[u]nderen wis.
boven allen vrowen hastu dhes pris.
du bist dher engele eyn bederinne.
dher sundher ghar eyn trosterinne.
trestennich * bin vorladhen.
1) he fehlt in der iis. 2) leimten = liumiint, ruf.
3) geseghen] geueghen '? 4) Hs. naigen.
5) Die verse sind in der hs. nicht abgesezt, aber jedesmal durch einen
punkt am versende keutlich gemacht. 6) Hs. : wol. 7) Hs. : ghegrotzes.
8) trestennich] 1. tröste mich ich.
140
G. SCHMIDT
mid simdhen dhes siu ^ ich genadhen.
ich bidde dhich innichlicheu sere.
ghif dem viende nicht dhin ere.
god Dam tho eyuer moter dhi.
dat we van eme wordheu vri.
Word ich danne sin gimipilspil.
so crege he diner ereu vil.
untsculdeghe mich bi dhime kinde.
uf dhas ich ghenaden vinde.
siuen torn ich sere und ^ vorgte.
sine grimichgheyt ich sere besuchte.^
want ich have ghesundeghit ein '^ al eyne
dhes guthen ghethan so rechte cleyne.
wes me nich [8 ''] •''
II.
KÄTECHISMUSSTÜCKE UND SEGEN.
Katechismnsstücke. ^
Diese katechismusstücke stehen in der hs. nr. 125, welche latei-
nische gegen ende des 14. Jahrhunderts geschriebene predigten de tem-
pore enthält, und zwar auf der rückseite des ersten blattes der pre-
digten.
iiij rufend sunde : '
mort ader vorgysunge des blutes — dy slimme sunde weder die
nature — irwurge ader dersteckuuge der kindyr — vorgehalden Ion
mit gewalt adir mit unwyllin.
Ij sin] d. i. sinne. 2) und ist zu streichen. 3) besuchte] besorge?
4) ein ist zu streichen. 5) Die rückseite des 6. blattes ist unleserlich.
6) Diese katechismusstücke bilden noch gegenwärtig bestandteile des officiel-
len katholischen katechisnius. Zur vergleichung füge ich in den anmerkungen die-
jenige fassung hinzu, nach welcher sie jezt in den katholischen deutschen schulen
gelehrt werden, aus ,, Katholischer Katechismus mit einem Abrisse der Religions-
geschichte für die Volksschulen von J. Deharbe, S. J. No. 2. Mit Approbation
aller Hochwürdigsten HH. Erzbischöfe und Bischüfe d. Königreiches Bayern. Regens-
burg, Pustet. 1862. Braunsberg, bei J. R. Huge." J. Z.
7) Vgl. die VI. predigt bnioder Bertholds in Pfeitfers ausgäbe, s. 79 — 93.
,,Von ruofendcn Sünden." — Welches sind die himmelschreienden Sünden? - Fol-
gende vier: 1) der vorsätzliche totschlag, 2) die sodomitischo sünde, 3) die Unter-
drückung der armen , wittwen und walsen , 4) die vorenthaltung oder entziehung
des tag- oder arbeitslohnes. Deharbe s. 106.
f
IIAI.BERSTÄDTER BRUCHST. II. KATF.CHISM. 141
V synne:
seh(u) — lioern — riehen — smpeken — viilen.*
vj werg der l)aruiliorzike(i)t: ^
die iiackttMi cleiden — die linngiro-en spyseii — die durstigen
trenken — die vremden herbergen — die kranken besuchen — die
toden begraben.
vj geistliche werg:-^
straffen umme untad — vorgeben unrecht leyt — leren die
tummen trösten den betriibeten — rat geben den unwyßeu — meth^deu
haben mit den geleidigeten.
vj sundeu in den h(e)iligen geist:*
vorzwytilunge ader vorzaguuge — vorlaßen uf gotes barmherzi-
ke(i)t — auefechtunge der irkanten warheit — nyt ane sache — vor-
stogheit des herzen — unwille zu lassen die sunde.
vij totliche sunde: ^
hochfart ~ gierheit — unküscheit — zorn - nyt — vreßikeyt —
tragheyt zu gotes dinste.
vij hilekeit : ^
ehe — pristerschaft — taute — firmunge — gotes lichnam —
olunge — bichte.
1) vulen] hs.: grifen viilen. Der schreibet hat zwei synonjnne ausdrücke
gebraucht, über welche zu vergleichen J. Grimm in Haupts ztschr. f. d. a. (1848) 6, 7.
2) Welches sind die leihlichen werke der barmherzigkeit? — Die leiblichen
werke der barmherzigkeit sind folgende sieben: 1) die hungrigen speisen, 2) die
durstigen tränken , 3) die nackten kleiden , 4) die fremden beherbergen , 5) die
gefangenen erlösen , 5) die kranken besuchen , 7) die toten begraben. Deharbe s. 79.
3) Welches sind die geistlichen werke der barmherzigkeit? — Die geist-
lichen werke der barmherzigkeit sind diese sieben: 1) die sünder zurechtweisen,
2) die unwissenden lehren, 3) den zweifelnden recht raten, 4) die betrübten trösten,
5) das mirecht geduldig leiden, 6) denen, die uns beleidigen, gern verzeihen, 7) für
die lebendigen und die toten gott bitten. Deharbe s. 79.
4) Welches sind die sechs sünden wider den heiligen geist? — 1) vermes-
sentlich auf gottes barmherzigkeit sündigen, 2) an der gnade gottes verzweifeln,
3) der erkanten christlichen Wahrheit widerstreben , 4) seinen nächsten um der gött-
lichen gnade willen beneiden, 5) gegen heilsame ermahnungen ein verstocktes herz
haben, 6) in der unbussfertigkeit vorsätzlich verharren. Deharbe s. 105.
ö) Welches sind die sieben hauptsünden? — 1) hoffart , 2) geiz, 3) unkeusch-
heit, 4) neid , 5) unmässigkeit im essen und trinken , 6) zorn, 7) trägheit. Deharbe
s. 104.
6) Wie viele Sakramente hat Christus eingesezt? — Diese sieben: 1) die
taufe, 2) die firmung, 3) das heiligste Sakrament des altars , 4) die busse, 5) die
lezte Ölung, 6) die prie.sterweihe , 7) die ehe. Dehai'be s. IIG.
142 G. SCHMIDT
vij gaben des hyligen gej^stes:^
wysheyt — vorniiiift — rat — sterke — kunst — gutekeyt —
vorclite.
vij togunt:^
geloybe - ~ lioffftiiunge — lybe — gerechtikeyt — vovsichtikeyt —
meßykeit beizmutekeit.
viij selikeyt:^
gutekeyt — gerechtikeyt — vrede — armnt — gedolt — barm-
herzikeyt — reynikeyt des herzen — weynen.
ix vremde sunde:'
heyßen übel tun — rat geben zu bosheyt — gehorchunge ader
gestatunge der sunden — loben ader sterken uf bosheyt — husen wis-
sentlichen ubelteter — koufen geroubet ader ge:stolen gut — nicht
strafen ader sturen sunde , den is gebui't — nicht hindern ader wedern
sunde, wo man mochte, sundern sunde daz man de heelt und vorlien-
get — nicht rügen daste rugebar ist.
1) Welches sind insbesondere die gaben des heil, geistes? — Diese sieben:
die gäbe 1) der Weisheit, 2) des Verstandes, 3) des ratos , 4) der stärke, 5) der
Wissenschaft, 6) der frönimigkeit , 7) der furcht gottes. Deharbe s. 64.
2) Wie vielerlei christliche tagenden gibt es? — Zweierlei: die göttlichen
und die sittlichen tagenden. — Welches sind die göttlichen tugenden ? — Die gött-
lichen tilgenden sind: glaube, hoffnung und liebe. — Welches sind unter den sitt-
lichen tugenden die vier gruud - oder haupttngenden , welche die übrigen in sich
schliessen? — 1) klngheit, 2) gerechtigkeit , 3) mässigkeit, 4) starkniut. Deharbe
s. 107.
3) Wie lauten die acht Seligkeiten?
1) ,, Selig sind die armen im geiste : denn ihrer ist das himmelreich.
2) Selig sind die sanftmütigen; denn sie werden das erdreich besitzen.
3) Selig sind die trauernden ; denn sie werden getrilstet werden.
4) Selig sind, die hunger und durst haben nach der gerechtigkeit; denn sie wer-
den gesättiget werden.
5) Selig sind die barmherzigen; denn sie werden baruüierzigkcit erlangen.
G) Selig sind, die ein reines herz haben; denn sie werden gott anschauen.
7) Selig sind die friedfertigen; denn sie werden kinder gottes genant werden.
8) Selig sind, die Verfolgung leiden um der gerechtigkeit willen: denn ihrer ist
das himmelreich.'' Deharbe s. 109 fg.
4) Welches sind die fremden Sünden? — Folgende neun: 1) zur sünde raten;
2) andere sündigen heissen: 3) in anderer sünde einwilligen; 4) andere zur sünde
reizen; 5) ihre sünde loben: G) zur sünde stillschweigen; 7) die sünde nicht stra-
fen ; 8) zur Sünde helfen ; 9) anderer sünde verteidigen. Deharbe s. 106.
HALBEßSTADTER BRÜCKST. II. KATECIUSM. 143
X gebot: ^
gloyben den cyiuMi got, den gloyben bewyssen mit den werken —
nicht swern eyde /u unrechte nocli ture swern — vieru den snntag
und ander heylige tage — ern vater und muter am leben und am
tode — nymande toten lyplicb ader geystlichen niclit stelen noch
rayben — nicht brechen die e — nicht unrecht gezugnis füren —
nicht begeru eyns andern wyb ader mau — nicht begern fremder guter.
Segen.
In der beschreibung der handschriften no. 1 — 100 der gymnasial-
bibliothek zu Halberstadt von director dr. G. Schmidt (Oster - programm
1878. 4*^) ist auf s. 16. 17 auch der Inhalt der hs. no. 22, einer papier-
handschrift des 14. Jahrhunderts in folio , welche collegienhefte von
Montpellier und coUectaneen eines mediciners enthält, im einzelneu
verzeichnet. Eingelegt ist in diese haudschrift ein computus, 5 bl.
perg. 4" aus dem 14. jahrh., und eine schrift de chiromantia, Chi. 4*^
aus dem 15. jahrh. Auf der lezten seite dieses schriftchens steht von
eiuer ganz ungeübten band des 15. Jahrhunderts der hier folgende segen.
West willekome, liber suutages here,^ ich sende dich us^ czu
1) Wie heissen diese zehn geböte?
1) Du sollst an Einen gott glauben.
2) Du sollst den namen gottes nicht eitel nennen.
3) Du sollst den sabbath (tag des herrn) heiligen.
4) Du sollst vater und muttor ehren.
5) Du sollst nicht töten.
6) Du sollst nicht unkeuscliheit treiben.
7) Du sollst nicht stehlen.
8) Du sollst nicht falsches zeugniss geben.
9) Du sollst niclit begehren deines nächsten hausfraii.
10) Du sollst nicht begehren deines nächsten gut. Deharbe s. 80. 81.
2) Gemeint ist wohl: Wis willekomen , lieber suntac here! — Aus einer
S. Blasischen hs. zu Karlsruhe, welche ein arzneibuch des Wundarztes Caspar Vischer
zu Kränkingen bei Bonndorf vom jaiire 1617 enthält, teilt Mone in seinem Anzei-
ger für künde der deutschen vorzeit, Karlsruhe 1837. G, 459 einen segen mit „den
kindern für den Ettikhen," d. i. gegen schwindsucht, oder abzehrung, oder hektik
der kinder (vgl. Schmeller, bair. wb.- 1, 174), welcher lautet:
Grüess dich gott du heilliger sontag,
ich sich dich dort her komen reiten,
jetzunder stand ich da mit meinem kindt,
und thuo dich bitten,
du wollest ihm uemen sein gaist (?)
und wollest ihm wider geben bluott und flaisch.
Über persouification des sontages, und des tages überhaupt vgl. J. Grimm, niyth.
4. ausg. bes. von H. E. Meyer. Berl. 1876. 2, 615. 3, 216; über die christliche
144 G. SCHMIDT
eym^ boden czu dem aldermechte(cli)sten gode, das er^ mich behude unde
bewarde, das mich neyu hünt bite mide das mich iieyn wolf^ eyurite*
unde das mich neyn w[o]rm eynstichedt vude das mich neyn wappen
scahde, das-'' hy ^ gesmedet wart sin der cyt, das der heiige' krist
geboren^ wart, unde das mich neyn herren torn ho bergen '^ (!) unde
das mich neyn zoberin ^" gescade. in dem namen des vaders/^ des
sones/^ des heiigen *^ gest. amen.
III.
GEVATTEE TOD. i*
Hugo von Trimberg-, der Renner. Bsunberg^ 1S33. v. 23666— 23795. »^
Ad scr. lat. rec. II 2'' 109, papier, klein quart, geschrieben um
1520 — .30 von der band des domherren dr. Udalrich Kirsberger (vgl.
bedeutung des sontages vgl. Müllenlioff u. Scherer, Denkmäler deutscher poesie und
l)rosa aus dem VIII. — XII. jahrh. 2. a. Berl. 1873. Anmerkungen zu nr. XXXI.
s. 372 fg. Über die bedeutung des snntages in der volksiiberlicferung und dem
aberglauben vgl. Ad. Wuttke , der deutsche Volksaberglaube der gegenwart. 2. bearb.
Berlin 1869. § 66 s. 56 fg.
3) Hs.: hus. 1) Hs.: eyn. 2) er] fehlt in der hs. 3) Hs.: wolft.
4) Geraeint ist wol enrize, zerfleische. Vgl. Passional cd. Köpke (Quedlbg.
Lpz. 1852) 163, 28 fgg.
da solden in vil schiere
sine wilden tiere
von allen kreften bizen
und nach ir willen rizen.
5) das] hs. : unde das. 6) hy] 1. ie. 7) lielige] hs.: helic.
8) geboren] hs. : geborgen.
9) hecse torre zoberen? Für die constrnction von zoubern mit dem acc.
der person, in der bedeutung „bezaubern," vgl. Hugo von Trimberg, Renner (Bam-
berg. 1833) V. 16722 fgg.
So kumt aber einer und siht hinein,
der suchet ein zauberbrieflein,
mit dem er frauwen zaubern wil,
die mere in zaubern, denne ze vil,
wenne er ir tore ist und ir gief
ane zauberwurtz und ane brief.
10) Hs. : scoberin. 11) Hs.: waderst. 12) Hs. : sonsen. 13) Hs.: helic.
14) Über die auffassung des todes als eines gevatters hat im algemeinen
gehandelt J. Grimm in seiner Deutschen mythologie, 4. ausg., besorgt, von H. E. Meyer.
Berlin 1876. 78. 2, 711 fg. und 3, 256. — Es war diese Vorstellung in Deutsch-
land namentlich in zwei märchenhaften fassungen verbreitet. Nach der reicheren
und phantasievolleren begabt der tod seinen pathen. Er macht ihn zu einem arzte,
bezeichnet ihm ein heilkraut, und verspriclit ihm, bei jedem kranken ihm derart
zu erscheinen , dass er zu den füssen des kranken stehend dessen mögliche genesung,
HALBERSTÄDTER BRUCHST. IIT. GEVATTER TOD 145
G. Schmidt, Die liandschriften der gymnasialbibliotliek , im Halberstäd-
ter osteri)rogramme, 1S78. s. 1). Im hier folgenden abdrucke ist die
Orthographie etwas vereinfacht.
[bl. l] Wy der tot eynem armen manne seyn kint hübe aus
der taufe.
Nu boret ein gleichnus furwar.
ein frauwe eines nacbtes eyn kint gebar,
das wart getauft, mi bet der man
eynen gast behalden, den ryeft er an,
5 das er des kindes tote wurde
und liulfe ome von der sorgen bürde.
das tet der gast, do das geschach,
der wyrt zu seynem gefattern sprach :
„Gefatter, saget myr, wer seyt ir,
10 „das ich euch alle zeit vor myr
,,bas dan ander leut erkenne,
„wan ich euch vor myr höre nenne."
er sprach: „gefatter, ich bin der tot-
„der manche angst und noet
15 „in der werlde hat gemachet
,,und noch mauge tag und nacht."
ilagegen zu liäupten desselben stehend die unm()glichkeit einer solchen ihm anzei-
gen werde. In folge dessen wird der pathe ein vielbcgehrter und reicher arzt, der
aher schliesslich einmal dem gevatter tode mit erfolg entgegenhandelt, indem er
die läge des kranken königs im bette umkehrt, jedoch bei einem zweiten eben-
solchen versuche mit des königs tochter selber sein leben einbüsst. Über diese fas-
suug. die in nr. 44 der Kinder- und Hausmärchen der brüder Grimm die volste
und schönste aushilduug und abrunduug erhalten hat, und über ihr anderweites
vorkommen vgl. die Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen. 3. aufl. Gut-
tingen 1856 3, 69 — 71. — Nach der anderen, dürftigeren und minder phautasie-
voll gestalteten fassung verspricht der tod dem vater des täufiings, dass er ihm
zuvor anmeldende boten senden wolle, ehe er selbst komme ihn abzuholen. Die
hier im Renner vorliegende erzählung scheint das älteste bis jezt bekante vorkom-
men dieser gestaltung zu sein. Eine andere , dem Regenboge zugeschriebene behaud-
lung derselben findet sich in der Colniarer liederhandschrift bl. 293'' (vgl. Meister-
lieder der Kolmarer handschrift herausg. von K. Bartsch. Stuttg. 1862 s. 32), und
ist aus derselben widerholt gedruckt worden, zulezt in: Minnesinger, von P. H.
v. d. Hagen. Lpz. 1838. 3, 345. Über anderweites vorkommen dieser gestaltung
ist auskunft gegeben in den Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der
brüder Grimm, unter nr. 177 ,,die boten des todes" 3, 249. J. Z.
15) Die erheblicheren abweichuugen des Bamberger druckes (B.) liabe ich in
den anmerkungen hinzugefügt. J. Z.
1. B: niht für war 3. B: ir man 9. B: wer ist seit It). B: euch
fürbaz alle zeit 13. B: binz 16. B: un noch machet
ZEITSCHB. F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. ED. XII. 10
146 G. SCHMIDT
„Eya," er sprach, „liebe gevatter meyn,
[bl. 1"] „ so sullet ir myr gnedich syn
„und last mich lange auf erden leben."
20 „des wyl ich euch meyne truwe geben,"
sprach er, here liber gefatter mein,
„das ich euch mannich botelein
„ vor wolle senden , er dan ich kome,
„dovon syt erber und auch frume."
25 Mit der rede er hin dannen fuer.
der man lebete sint bis mannig jar
in dem lande wart abgesnitten:
da wart er sich nach seynen sitten.
da kam der tot und stunt für im
30 und sprach : „ Gefatter , ich bin
„her komen, das ir mit myr fart."
er sprach: „Wee, wie habet ir euch bewart
„und ewr truwe, de ir teten myr!"
er sprach: „Gevatter, wysset ir,
35 „ das eynes euch in die syten stach,
„da ir sprächet: we myr, ach,
„we myr, was soll das sein!
[bl. 2 *] „ sehet , das was mein botelein.
„da euch die oren begunden zu dyeßen
40 „und die äugen überfließen
„und gegen der sunnen tunkel sein,
„da sante ich euch zwey botelein.
„da euch die zene teten we
„und euch der huste mer zwung dan e
45 „unde swinde mote euch wonte bey,
„ da saute ich euch boten drey.
„ da euch die bene wurden swellen
„und sich runfen wart das feile,
„und do euch die stymme heißer wart,
17. B: er sprach fehlt, lieber 21. erl fehlt hs. B: vil lieb gevater
22. B: ich vil manic 23. B: ev vor wil senden 24. B: seit frölich vil 25. B: er
von im für 26. B : lebt seit biz manic flur 29. B : da fehlt. 30. B : gevater
Vfol dan ich bin 32. B: er sprach fehlt. ir den bevfart 33. B: eur gelubde
daz ir tatet mir 35. B : do ein sevche evch 36. B : vil do ir sp cht auwe mir
ach 37. B : we mir we waz sol ditz sein 39. B : do ev zu fehlt. 40. B :
äugen begonden fliezzen 45. B: vnd swinde gemvte 46. B: do 47. B: do
ev die bein niht waren snel 48. B: vn do sich rimpfent wart daz vel 49. B:
die stimme evch hs. ; war
HALBERSTÄDTEß BBOCHST. III. GEVATTEK TOD 147
50 „ fla euch grawende wart dor bart,
„ da sante ich euch vier botelein.
„gefatter, ich hau die treuwe nie}!!
„gar wol au euch behaldeu.
„bist got der sele fürbaß waldeu
55 „uud scheydet euch von dyssem leybe:
„ir moget leuger hy nicht bleybeu."
also starb der gute man.
[bl. 2"] wer dysses beyspyl gemerken kau,
der besser sich und se sich für,
60 er danne der tot kome zu der tür.
der sytenstich manet uns alle,
das wyr lassen von dem schalle,
den wyr haben in der jugent,
und uns lassen an sanfte tugent.
65 und tuet die äugen fließen,
das wyr von herzengrunt sollen gießen
lehere umme unser missetat,
das der sele werde gut rat.
das oren klingen bringt uns her
70 schalmeyer swegler und busaumer,
die des todes kraft auch künden
uns allen die auf erden sunden.
auch mag das klingen vor den oren
kummen vor das herhören,
75 mit dem die sele erwecket werden:
der leip nun faul ist in der erden.
davon hat sanctus Hieronimus
an eyner stad geschribeu alsus:
„Ich esse, ich trinke, ich sitze, ich ste,
[bl. 3*] 80 ich slafe , ich wache , ich reyt , ich ge,
so dunket mich alles die stymme
50. B: vn do ev hs.: de bart 53. B: vil wol 54. B: fürbaß fehlt.
56. B: ich enlazze evch langer niht hie bleibe 58. B: Swer ditz bispel
59. hs. : foer 63. h. denne B: beten 64. B: rihten an senfte 65. B: vns
raant daz äuge vberfliezzen 66. B: von hertze grvnde giezzen 67. B: zeher
umb 68. B: gut fehlt. 69. B: oren diezzen 70. B: schalmeier svmerer
swegler 71. B: todes kvnft 73. B: auch machet daz diezze von de oren
74. B: vns kündet vor daz schelle hörn 75. B: die toten erwecket werden
76. B: leibet nu faulet 78. hs.: also 79. B: ich ezze trinke sizze ich ste
80. B: reite od' ge 81. B: allez daz die stimme.
10*
148 G. SCHMIDT
durch meyne oren schalle myt grymme:
stet auf, ir toten suUet geben
dem richter antwort umb eiir leben."
85 Nach den oren manen uns die zene
uns allen, das wyr uns entwenen
der koste, die unmessig ist,
der wyr gewonet haben lange frist.
der huste manet uns, das wyr beichten
90 und unser sele von sunden leichten,
das sie der ewygen pyne entrinne,
er denne das uns der atem zAirynne.
die sweren pein heyßen uns gedenken,
das wyr gegen die erden sinken,
95 von der wyr alle komen sein
und müssen alle komen darein.
uns manen die runzelen und graue bar,
wie wyr vorzeret haben unse jar.
welch bäum wyl dorren, der hebet an
100 in dem gypfel und darnach san
beginnet sich runften die rinden,
[bl. S**] und darnach schir beginnet er swinden
an kreften, an fruchten, von tag zu tag.
des selben mögen wyr von uns wol sagen.
105 nach langem leben alle werlt strebet :
hette Adam bisher gelebet,
das were gegen die ewigkeit
nicht eines zwerchen halmes breyt.
wan ich nicht mer geleben mag,
110 so gebe ich gerne umme eynen tag
die werlt alle und were sie meyn.
got here, laß dyr geclaget sein,
das ich der tage so manchen han
vorloren, das ich noch nicht enkan
83. ir toten] B : tote ir 84. B : vmb ditz leben 85. B : mant auch die
zen 86. B: vns alle daz wir suln entwen 90. B: vn die sele 91. lis.: ent-
rinen 92. B: e dafi des atems vns zeriune 93. B: die trege bein hs.: geden-
ken ein 94. B: daz wir vns gen d' erden senken 95. B: wir bekomen sin
96. B: vn mvzzen ab' widor drin 100. B: wipfel 101. B: beginnet rimpfen
sich bs.: beginen . . de 102. B: vn gar schier 103. B: daz selbe mvge wir
vö vns clage 104. B: vn auch aller d' werlde sagen 105. B: nach lank leibe
alle die w'lde strebt 106. B: vn liet adam 107. B: gen d' 109. hs.: wan
ick B: swen ich nimmer 111. B: und fehlt. 114. B: verlorn vn daz ich niht kan
HALBEBSTÄDTEK BEUCHST. IV. MEDICINISCHES 149
115 in meyner alten zeit mein leben
nach deynem wyllen gerichten eben.
das machet böse gewonheit
und mein laßheit. wer myr das leit,
so hulfestu myr, das weyß ich wol,
120 davon ich billiche peyne dol.
wurde ich also gesunden,
here, durch deyne heylige wunden,
[bl. 4*] die du durch uns hast erlitten,
beschyrme uns vor der helle toten.
125 auwe der herten rechnunge,
die leyder der alte und der junge
haben muß, er danne myt leyde
die sele sich danne von dem leybe scheyde,
bey dem ich bleybe kurze frist
130 gegen dem, das immer und ewig ist.
116. B: rihten 120. ß: billicli pein 121. B: wirde ich alsus fanden
123. B: hast durch uns 124. B: den helle smiden 126. B: die beide d' alte
un auch d' iunge 128. B: danne fehlt. 129. B: bei dem sie beliben ist kvrtze
frist 130. B: gen den daz immer ewic ist.
IV.
MEDICINISCHES.
Aus der papierhandschrift nr. 125, welche von einer band des
14. Jahrhunderts lateinische predigten de tempore enthält, deren regi-
ster auf der rückseite des ersten blattes begint. Auf die Vorderseite
dieses ersten blattes hat darnach eine band des 15. Jahrhunderts die
hier folgenden medicinischen aufzeichnungeu geschrieben.
Welcher frauwen dy zizen^ sweren, dy sal nemen hasensmalz
und smeren dy darmete.
item: weddir dy hareworme, nym gerstinstrow , berne daz zu
asche , vege daz darmete.
item aliud: nym bomole und alt smer glich vele, und smelze
daz zusamene, und wringe daz durch eyn tuch, und menge daz mit
geschoßen ^ spansgrun , und salve daz darmete.
item aliud: jung ellern lof saltu brechin, und bernde daz zu
pulvere, und tu daz yn dy wunde des tages twige und wasche dy
1) hs.: tyzten 2) gestozen?
150 G. SCHMIDT
wunde [mit] eykeue law, und droge daz mit eyme tuche, und strich
daz puWer daryn.
item: hat sich eyn mensche vorbrant, so zuch den brant also
uß : lege uf den brant eyn row eyges doder.
item aliud: nym eyne mus, und zug or daz vel abe, und lege
das daruf.
II.
Aus der papierhandschrift des 14. Jahrhunderts nr. 22, deren iuhalt
ausführlich angegeben ist im osterprogramme des königl. domgymna-
siums zu Halberstadt. 1878. s. 16 fg. Sie enthält collegienhefte von
Montpellier und aufzeichnungen eines mediciuers.
Contra caliginem oculorum: nym scheleworz, crut unde wur-
zeln, unde venkel, unde stoz daz met wyne, unde met honyge , unde
du dazu wißin phefiFer, de cleyne gestozen sy, unde wring daz dorch
eynen tuch, unde salbe de ougen uzwendich mete: daz heilet sere.
ad idem: nym salz, wyn, unde wiz eynis eyges, gliche vil,
daz rip med eynauder, unde laz daz steyn ix tage, unde tu ez danne
in de ougen. expertum est.
ad clarificandum oculos: nym rutenworzeln , fenikel, pipe-
nelle, rufen, schelle würz, suet daz in wyuezige, daz daz derte teil
vorseden,^ unde behalt daz reyne. disse salbe ist gut vor alle obil
der ougen.
nym disses crutes like vele: venkel, eppe, rufen, ysern,^ beto-
uien, odirmonien,^ benedicten, gamandren, papellen, ertbern crut,
salbeien , disse stoz alle zusamene , unde tu darzu vj pheflfercorner unde
iij leftel honinges unde eynes kyndes harn, dit tu yn eyn vaz uude tu
ez in dy ougen. wanne disse salbe trüge wart , so fuchte sie met kyn-
des harn.
III.
Vier pergamentbläfter aus dem 14. Jahrhunderte , duodez , 13 cen-
timeter hoch, 11 centimeter breit, mit gezogenen linien, 23 zeilen
auf der seite; abgelöst von einem einbände, hie und da etwas beschä-
digt. Unleserlich gewordenes ist hier im abdrucke durch punkte
bezeichnet; ergänzungen sind in eckige klammern eingeschlossen.
1) 1. daz — vorsede, oder laz — vorseden.
2) D. i. iserne, ahd. isarna, eisenkraut, verbena; vgl. Graff 1, 491; Müller-
Zarnckc 1, 757'' ; Lcxer 1, 1459; Jos. Haupt, üb. d. mitteld. arzneibuch des mei-
sters Bartholornaeus. Wien. 1872. s. 22. s, 75 fgg.
3) d. i. odermenig, agrimonia.
HALBERSTÄDTER BBÜCHST. IV. MEDICINISCHES 151
* *
*
[bl. 1'] uüde ein wenic peffers, uiide [menge] daz zusaraene, unde
ezze daz nuhteren , unde drinke man ezze. swie man ber-
dram ^ nutze , drocken oder mit anderme ezzeue , so ist iz alliz gut.
daz nutzent beide siechen unde gesunden.
deme die äugen driefen, der neme salbeieu, unde halb also
vil rüden, unde zwirnet also vil kervelen alse der salbeieu ist, unde
stoz daz zusamene in eime morsere, daz is saf^ gebe, unde so er sla-
fen got, so netze daz crut in eines eyes clare, unde belege domide dine
Stirnen unde dine wangelin. daz ist gut.
dem der härm so calt ist, daz er deu härm nit wole mag
behalden , der siede selbe ein ^ wazzer unde drinke daz dicke also warm,
daz ist gut.
der swarz oder crumpvar'^ äugen habe, dunt sie deme we
oder begiunent sie ime dunkelen, so neme er rutensaf, unde zwiernent
also vil luters honigseimes, unde mische darzu ein wenic luters waz-
zers unde gudes wines . unde lege darin ein winzege brosemen , unde
binde die zu nacht uf sine äugen, so er slafen get.
der iht^ rowes habe gezzen, daz eme zuhaut [bl. 1"] we du,
der neme rüden und zwernent also vil salbien , und ezze das mit salze.
deme in der leberen oder in der hingen we ist, der neme
laticien,^ unde ziemins mer,' unde ysopen nie danne der zweier si,
unde fenechels me danne der drier si, unde du darzu gnuc honeges,
daz iz nit bitter ensi, unde siede daz vil sere in eime nuweu duche-
lin, unde begrabe daz duppen^ mit dem crude under der erden, ob iz
in dem winter ist, nun naht unde nun dage, in dem somere fünf dage
unde fünf naht ,^ unde sihe iz danne durch ein duch. ist aber eme sere
we, 30 drinke ers nun dage vil frühe, unde si enpizzeu ein Avenic dovor,
unde nach des, so er slafen get. ist eme meslichen we, so drinke her
iz dri dage.
beginnet der mensche in der leberen fon unfraudeu sieben, der
siede junge huure mit ysopen unde ezze daz.
1) d. i. bertrain, anthemis pyrethrum; vgl. Eegel, das mittelniederd. Gothaer
arzneibuch (Progr. d. gymn. Ernestin. zu Gotha) 1872. s. 10: stoet bertram vnde
peper to samende je welkes eyn queutin, in wein gekocht, gegen das kalte fieber.
2) hs. : saht 3) 1. siede salbeie in wazzer ; vgl. Matth. Siluaticus , pan-
dectae medicinae. Lugd. 1534. fol. Tö*" (nach Serapion): „decoctio foliorum et
ramorum ipsius et quando bibitur provocat urinam."
4) brünvar? 5) hs.: it 6) latichen, lattich, lactuca?
7) zinemins, zimmins, cinamoiui, mehr zimmet als lattich?
8) mnd. dat duppe, mhd. der und daz tupfen, topf. Lübben 1, 600; Lexer
2, 1578. 9) hs. : nath
152 G. SCHMIDT
der grawe aiigeii hat, beginnent sie sieclien ader duukelen,
der iieme fenicliel oder siüeii samen, unde stoze daz, unde neme daz
saf, unde des daiiwes, den man uffe den reliten grase ^ [bl. 2*] findet,
unde mache domide , unde mit simelmele , kuchelin , uude binde iz
über sine äugen mit eime duche , so er slafen get.
ob dem manne ein geswolst beginnet sich heben, die eme we
dut, der neme fenichil, unde dri stunt also vile fenum grecie, unde
ein wenic rinderen buderen, unde stoze daz zusamene, unde lege iz
darüber, daz hilfet.
der gerne dr unken wirdet, der ezze fenichilsamen. daz hilfet.
ob die schaf beginnent^ sieben, so neme man fenchil, unde
ein wenic minre dilles, unde lege daz in ein wazzer, daz is darnach
smacke, unde gib is den schafen zu drinkene.
deme in dem herzen oder in dem milze oder in der siten
we si, der neme petersilien, unde side den mit wine unde mit eim
wenig ezzeges , unde du gnuc honeges darzu , unde sihe daz durch ein
duch, unde drinc daz dicke.
deme der klobelauch we du gezzen, der ezze zu haut peter-
silien, daz hilfet.
deme der stein we dut, der neme petersilien unde daz dritteil
steinbrechen , unde side daz mit wi [bl. 2*"] ne , unde sihe daz durch
ein duch, unde drinc is in eime sweizbade, unde siede daz selbe krut
mit wazzere, unde lösche die steine domide.
der in dem libe von stosene oder fon fallene wirdet zu-
brechen, der stoze kervelen, unde drinke daz saf mit wine, unde
du daz dicke.
der den deinen rüden hat, der neme kervelen, unde dristunt
also vile humele,^ unde funfstunt also vil alandes, alse der kervelen
ist, unde siede daz mit wazzere, unde winde is sere durch ein duch.
du daz crut abe, unde daz wazzer in eine pannen, unde noch smalzes
me, also nuwe, als man uz eime swine niemet, unde laze daz zusa-
mene ober dem fnre, unde gieze is in ein schone becken, unde laz is
dri dage sten , unde sundere danne daz smalz von deme wazzere , unde
du is in die pannen, unde darzu ein wenic wirauches unde swevels,
unde dribe daz zusamene, bis iz dicke wirdet ein salben, so du iz in
1) rietgrase V 2) lis. : beginnet
3) hopfenV nüat. humlo, humulo, humulus. — Wenn Hoflmann von Eallcrs-
leben in seinen Sumerlaten (Wien. 1834) 9 '', 58 aus der Wiener pergamenthand-
schrift des 12. jahrh. von Heinrici Summarinm , nr. 2400, die glossierung darbie-
tet: „humula, alant,'' so ist humula nur ein lese- oder Schreibfehler, entstanden
aus hinnula, einer incorrectcn Schreibung für inula.
HALBERSTÄDTER BBUCHST. IV. MEDICINISCHES 153
eiu biischeii, uude luz is uim diige steu, uude salbe sich domide dri
tage, unde bade danne an dem fierden dage. ist ieme danne noch
nit baz , so du er dristunt also : so hilfet es dich ane zwivel.
deme die druse blaseut' an [bl. 3"] ^ dem halse, der uerae
liebestuckel uude ein [wejuic me gunderreben, uude siede daz mit
\v[iue] , uude lege iz also warm umme siuen ha[ls, daz] die äderen
erwarmen, daz hilfet.
deme der fig wirret, der stoze romesch[e ...Jzen, unde winde
daz saf durch ein du[chelin], unde drinke daz morgens unde nahtes
[ ] mit eim wenig wines. daz hilfet.
deme die luse sere wirrent, der ueme ^ sisemare,* uude [smeljze
daz mit smere, unde salbe sich domide under siuen ossen^ uude umme
sinen hals, so sterbe[nt die] luse.
der den friesenden weweu hat an dem dritten dage, de neme
sisemar, [unde] der minren shurflachen ^ gliche vil, unde drist[unt]
also vil merretiches, unde siede daz mit win[e, uude] winde is durch
ein duch unde neme dan ne[gejlin unde iugeber, geliche lil, unde also
vil galg[a]nes, also der zweier ist, uude pulvere daz zusa[me]ne, unde
mache domide unde mit wiue, daz [mit] den cruteren ist gesehen, so
ist iz ein luter d[ranc], unde drinc daz, so in der wewe aneget, unde
n[un] dage darnach.
deme die äugen duukelen, der neme hanengallen, unde zwier-
nent a[lso [bl 3"] vil] poleieu saifes , unde ein weneg luters wi[nes],
unde mache daruz ein aucluppe,^ unde du [is] in kupper vas, unde
striche daz umme die [aug]en , so daz is nit file in die äugen ge , unde
[du d]az zwölf nahte, ^ so er slafen get.
1) bläseut, inflantur. Vgl.: Die da genasen, die wären zubiäsen, zudrimgen
und zuswalt. Herbort 17120 fgg.
2) Die beiden lezten blätter sind am raude etwas beschnitten.
3) der neme fehlt in der hs.
4) Gemeint ist wol sisymbrium. Vgl.: sisimbria, sisemera aus einem Admon-
ter vocabularius des 11. jh. in Haupts ztschr. 3, 379** und: sisimbrium, sisimra
aus der Darmstädter pergamentliandschrift nr. 6 von Heinrici Summarium in Pfeif-
fers Germania 9, 23. bech.
5) D. i. mhd. uohse , swf. , achselhöle.
6) ,,schorfladeke, schorfladicke , rumex acutus, spitzige grindwurz, schorflat-
tich. " Regel, das mnd. Gothaer arzeneibuch und seine pfianzennamen (Progr.).
Gotha 1873. 2, 17.
7) augluppi, coUyrium. Graft' 2, 77. bech.
8) hs. : nathe
154:
G. SCHMIDT
[D]er den naseboz^ bat, imde ouch davone liii[stet], der neme
reiiievaaen,^ uude mache [damide kjuchelin, oder sufen, oder siede is
[mit] fleisclie, uude ezze iz also.
der von dem steine nit wole mag harnen, der stoze reinevanen,
imde drinke daz mit wine. daz hilfet.
der sweren of dem hau bete hat uude nit grint ist, der neme
raden, unde stoze den mit [gejbrantem specke, unde salbe daz haubet
do[mi]de.
do der fliegen fil ist, so pulver man den raden unde du daz in
honeg, unde striche [dajz an die wende, so sterbent die fliegen, die
des ezzent.
der daz biver sere hat, der neme enziane gepulvert, unde drinke
daz in [wijne nuhteren unde nahtes.
der vergift hat gezzen oder gedrunken , [bl. 4"^] der siede rin-
gelin ^ in wazzere, unde drinke [danne] daz wazzer uz, unde lege danne
daz crut a[lso] warm uff'e sinen magen , unde werme vil g[uden] win,
unde lege des selben crudes darin, unde [drinjke daz wermelehte, so
beginet er spien oder [ ].
dem daz haubet fleckehte ist, der neme [ ] bi der swar-
ten, unde stoze daz mit rin[gelin] crute, unde salbe daz haubet dicke
domi[de].
so die rindere oder die schafe iht gezz[en hanj, daz sie gehe-
lingen swellen, so man[ge riujgelin mit ein wenig wazzers, unde gebe
[ine] daz zu drinkene. daz hilfet.
dem daz fr eisliche erhebet, der ezze a[ccleia].^ daz hilfet.
der daz biever hat, der stoze accleia, unde [winjde daz saf
durch ein duch, unde du vil [gu]den win darzu, unde drinke dicke,
daz hi[lfet].
1) blitz, putz, rotz in der nase. Grimm, deutscli. wörterb. 2, 589.
2) ahd. reinefano, Graif 3, 521. ralid. reinvane. Lexer 2, 393. tanacetum
vulgare. Es scheint aber doch wol gemeint zu sein weisser reinfarrn , acbillea
ptarmica, ptarmica vulgaris Nemnich, polyglottenlexicon der naturgeschichte 1, 38,
s. V. Acbillea ptarmica,
3) ,,cicorea haizet etswä sunnenwerbel und etswä ringelkraut und haizt ouch
ze latein solsequium oder sponsa solis .... wer daz zerstcezt und ez izzet, dem ist
ez guot für die vergift und wider der vergiftigen tier piz und allermaist so man
ez auf die wunden legt" Konrad von Megenberg, buch der natur, herausg. von
Fz. Pfeiffer. Stuttg. 1861. s. 394.
4) ,,Wedder dat vallende ouel: nym vnde stot cariandes säet, aquileyen ....
wringk dat saep vth vnde gif cm dat drinkeu, wen he ghevallen ys." Regel,
Gothaer arzneibuch 1, 7.
HALBERSTÄDTER BRUCHST. IV. MEDIClNISCIIliS 155
der die bösen druse hat, e sie brechen, [der] pulvere nebeta,^
unde ezze daz pulver [dicjke ufi'e brode, so swindet sie. obe sie aber
[brecjhen, so neme ^ man neberen^^ biedere, unde lege sie [ J
grüne darüber dicke.
der gerne gosunt wil wcseu, der neme [. . . . [bl. 4''] . . . .] rz,
unde pulver die mit der wurzcleu unde [mit] den biederen, unde du
halb also vil darzü [gejmalnes bertrames , unde halb also vil ge[su]ver-
tes zimines, als des bertrames ist, unde [mis]che daz zusamene, unde
ezze daz zusame[ne] alle dage uffe brode, oder drinke is in [wajrmem
wine. daz beheltet ime sine sunt[hei]t. ist er aber sich, er genieset,
daz pulver [sal] man in eime nuwen cruseline under der [erdejn begra-
ben, so beheltet is sine kraft.
deme daz herze we dut, der neme storkesnabel, so er allez ane
unfro ist, unde ein we[ni]g minre poleies, unde rüden ein weneg
[min]re dan des poleies si , unde pulvere daz [zujsamene , unde ezze daz
pulver dicke offe [brojde, daz sterket unde frawet ime sin herze.
der ungefrauwet gemude hat unde ime ^ muwelich unde unsanfte
nahtes bi ime , so [er] slefet.
den wiben, den ir sache in unrehten •'* ziden zu fil wirret,
die legen bathenien [in de]n win, daz er darnacii smacke, unde driu-
[ken] den dicke.
AUS EINEM ALPHABETISCH GEOKDNETEN KEÄUTEEBUCHE.
[MACER FLORIDUS.]
Vier blätter pergameut in quart aus dem 14. Jahrhunderte, 20 cen-
timeter hoch, 15 centimeter breit, liniert, zweispaltig, 32 — 34 zeilen
auf der seite. Die initialen zum rubricieren sind teilweise weggelas-
sen. Einzelnes ist durch flecken und rasur unleserlich geworden. Zwi-
schen dem ersten und zweiten , und widerum zwischen dem dritten und
vierten blatte fehlt je ein blatt. Das erste blatt begint mit Aristo-
lochia, holwort. An dem rande rechts und links standen uotizeu, bald
1) wizmiiiza, sigimiuza, nepota. Graff 3, 819. minze , sigeiiiiuze, stein-
minze, nepeta. Müller -Zanicko 2, 186''. — Gemeint ist wol nepeta cataria, die
nepte, katzeunepte, katzeiiraiuze. Nenmich , polygl.-lex. der naturgesch. 3, 713.
s. V. Nepeta cataria.
2) neme fehlt in der hs. 3) nebeteu?
4) ime ist von anderer l)and nachgetragen. Es soltc wol lauten . . . unde
frawet ime sin herze, der uugefrawet gemude hat unde muwelich unde unsanfte
nahtes slefet. 5) hs. : unrethen
156 G. SCHMIDT
lateinisch , bald deutsch , als angabeu des Inhaltes ; sie sind auf dem
äusseren rande von bl. 1. 2. 4 ganz oder teilweise durch beschneiden
weggefallen. ^
[bl. 1* vj. Aristolochia, holwurz]
daz kalde. si ist och gut .... tericis mit wazzere genutzet, waz pul-
veres iz sie , daz han ich uch e gesagt. ^ di holwort mit honige getem-
peret reyneget die w[u]uden unde vulet ^ sie. zu den zwen tu swarze-
len ^ worzelen saf, damite bestric daz zauenvleisch / daz vortribet alle
vulheyt. daz selbe genutzet vortribet die suchte unde ist och gut vor
allirhande suche, die heyzet spasmus. daz selbe genutzet stillet poda-
gram an den vuzen unde ist ^ och gut vor daz val. daz selbe genutzet
vortribet swaz ^ dem ' buche werren ist unde hilfet och den vorgich-
[vj.] Macer. nr. 41. s. 85. Aristolochia. v. 1395— 1436.
nach Choulant: Aristolochia longa, rotunda et clematitis; Hohl-
wurz, Osterluzei.
(Vgl. Mattli. Silvaticus, Pandectae medicinae. Lugd. 1534. c. 7. fol. 3*).
Asthmaticis prodest et frigora sumpta repellit;
Pleureticos curat mixto si sumitur amne.
Quodlibet infixum superaddita trita repellit,
1410 Vulnera cum mellis purgatque repletque liquore;
Quod si praedictis irim coniungis et inde
Ungas gingivas, dentes putredine purgat.
Splenis duriciam solvit laterisque dolorem,
Si mixta potatur aqua; febresque malignas
1415 Hoc potata modo fertur compescerc mire.
Sic etiam spasmis super omnia subvenit hausta
Et sedat diram sie saepius hausta podagram,
Et morbum curare solet sie sumpta caducum.
Et ventris nimium sie mitigat illa dolorem,
1420 Et sie fit sumpta levior paralyticus illa.
Daemonium fumus depellere dicitur ejus,
Infantes fumo tradunt hoc exhilarari.^
1) Diese bruclistiicke eines deutschen kräuterbiiclies ergaben sich mir als
reste einer Übersetzung des Macer Floridus. Als solche schienen sie mir wol zu
verdienen, dass ich ihnen einige begleitstücke, und zwar den lateinischen text,
anmerkungen , und eine besondere abhandlung, hinzufügte, welche dazu dienen
könten, auf die bedeutsainkeit des werkes aufmerksam zu machen, und der ki'iti-
schen beurteilung , so wie dem genauen und sicheren Verständnisse der hier vor-
liegenden deutschen textüberlieferung einen verlässigen anhält darzubieten. J. Z.
HAÜ-BERSTÄDTER BRICHST. V. MACER 157
tige[n] ledeii. der roucli von der holwort vortribet den alf oder unglie-
huren. de bemigen *^ kiudere mite gerouchet, iz gebet in gut gemute.
si hilfet ocli fistulam , daz mau die worzelen wol reinge unde daz hol
des sweren mite viiUe. holwort genutzet vortribet den dorst.^ diz
ist alliz von der senewolleu holwort gesproken , die lange tut alle daz
die senevvolle tut, ab mau der nich[t] hat: man mu/, ir aber anderhalp
teil also vil haben also der seuewolle. die lange holwort hilfet sere
de matrieem , ab sie [l''| vorstopet sie mit veister vucliticheit, ab man
sie sudet unde mit ir brodeni das wip underrouchet oeh ab sie
de holwort gesoten waut se subrit se sere. holwort gestozen
mit bitelkalke"' unde in eyn tich geworfen tötet di vische. dorch daz
heyzet man sie der herden ^^ vorgift.
Fistula curatur huins radicibus herbae,
Si bene purgatis eins loca concava farcis;
1425 Singultus sumpta sedari dicitur illa.
Omnia longa potest quae dixi posse rotundam,
Longa tarnen vires habet illa debiliores,
Unde quidem si defuerit qnandoque rotunda
Par poudus longae ponatur dimidiumque.
1430 Fomento longae prodest deeoctio mire
Matricum morbis humores extenuando
Pingues, et purgat eadem si sumitur illas,
[Plinius haue formare mares cum carue bovina
Appositam vulvae postquam conceperit inquit.]
1435 Trita necat pisces, admixta calce, rotunda,
Haue ideo quidam terrae dixere venenum.^
[vj.j Anmerkg. z. deutsch, text. 1) hs. : gesacli oder gesath 2) I. vuUet
3) hs. ; verschrieben, statt swertelen; denn gemeint ist Iris illyrica (florentina), veil-
chenwurzel. 4) hs. : zannenvleichs 5) hs. : ist fehlt. 6) hs. : zwaz 7) hs. :
den 8) „Der rouch uon der holvvurtz vertribit den alp oder ungehuren"; aus
einer auch den Macer enthaltenden pergamenthandsclirift des 14. jahrh. in der
Ehedigerschen bibliothek zu Breslau (XXXII. germ. lib. IX) mitgeteilt von H. Hoif-
mann im glossare zu seinen Fundgruben für gesch. deutscher spräche u. lit. (Bres-
lau 1830) 1, 358 ^ — bemigen, particip von bemigen, bepissen (Schiller - Lübben,
mnd. -wörterb. 1 , 229) , scheint hier doch kaum passlich. Vielleicht mag es nur
Schreibfehler sein , statt benn igen, so dass der sinn wäi'e : die vom alpe besessenen
oder beängstigten und deshalb unruhigen und ungebärdigen kiuder werden durch
beräucherung mit holwurz ruhigen und fröhlichen sinnes. Bennig in dieser bedeu-
tung fehlt in den Wörterbüchern von Müller -Zarncke, Lexer und Grimm; aber
Frisch in seinem Teutsch-Iatein. wörterb. (Berlin 1741.) 1, 58 "^ sagt: „bannig hat
Matthesius in Sarejita, im composito. Teuftel - bannig , das ist besessen, rasend,
unsinnig, obsessus quasi et daemone actus furens. — Es ist kein volk hartbeniger
158 G. SCHMIDT
dem evangelio zu widerstreben , als wie die Juden. Leo Jud. vers. paraphr. Erasm.
Rot. Epistolae ad Titum. — hartbenilveit , id. Epist. ad Thessal." — ,, Bannig,
unbändig. Gel'! sagt die mutter zum kinde, ietz hast e mal d ruet koscht, was
bist so beni." Schmeller, baier. wörterb. ed. Frommann 1, 243. — „Bennig, adj.
unbändig. Melchior Liebig 1588:
Sind prechtig, stolz, eigensinnig,
Vnd schir gleich wie Teuifel hennig."
H. Hoffmaun , in Frommanns: die deutschen mundarten (Nürnberg 1857) 4. 164.
9) ? singultus. Vgl. Macer v. 1425. 10) betekalk, betelkalk, m. ungelöschter
kalk. — ,,holword myd betelkalke ghestot in eynen dyck geworpen, so steruen de
vysche. also sacht Macer." Eyn schone Arstedyge boeck van allerleye ghebreck
vnnde kranckheyden der mynschen. Herbarius. a. 1483. fol. 43''. Schiller - Lübben
mnd. wörterb. 1, 297". 11) 1. erden,
[vj.] Anmerkg. z. lat. text. 1) Fugatque demonia et hilariorem facit infan-
tem suifumigata. Matth. Silv. c. 7 und buchstäblich ebenso im Ortus sanitatis s. 1.
1517. De herbis cap. xl. fol. ciij"*. 2) V. 1433. 34 sind in der deutschen Über-
setzung ausgelassen; absichtlich, wie die auslassung ähnlicher stellen in anderen
abschnitten schliessen lässt. — ,,In summa tarnen gloria est; si modo a conceptu
admota volvis in carne bubula maris figurat, ut traditur. Piscatores Campaniae
radicem eam quae rotunda est venenum terrae vocant coramque nobis contusam
raixta calce in mare sparsere; advolant pisces cupidate mira statimque exanimati
fluitant. Plin. HN. 25, 8, 54.
[vij.J Altea heyzet ybische oder wilde pippele.^ der ybische
blüme gestozen mit wine unde iif de w[u]ndeE geleit zübrochen imme
libe , daz subrit sie , unde subrit utwendige ^ wunden, die worzele
gesoten unde mit altem smere gestozen bricliet unde vertribet aller-
hande geswere. zu alle dissen ding ist daz wazzere gut, da die ybische
inne gesoten ist. daz selbe vortribet die drose, die scrofule heyzen.
daz wazzer mit wine gemeuget stillet die rure. daz selbe tribet uz die
anderen geburt genutzet, daz louf ist gut genutzet den, die da blot
raschen.^ iz vortribet also genutzet manigerhande suche, die in der
blasen werende ist, unde vortribet den stein, der same mit wine
[vij.] Macer nr. 9 s. 43. Althaea. v. 366 — 394.
Nach Choulant: Althea officinalis; Eibisch.
(Vgl. Matth. Silvaticus c. 34. fol. 14* s. v. altea).
Alteam malvae speciem uullus negat esse,
Alteamque vocant illam, quod crescat in altum.
Hanc ipsam dicunt Eviscum, quod quasi visco
lUius radix contrita madere videtur,
370 Agrestisque solet a multis malva vocari.
In mulsa coctus flos eius vulnera purgat,
Vel si cum viuo trituni florem superaddas,
Spargere sie scrophas, anumque juvare dolentem
Dicitur, hocque modo conquassatis medicatur.
HÄLBERSTADTER BRÜCKST. V. MACER 159
gestozen iinde mit boumolei getemperet, di salbe vortribet allerbande
missestende vlecken uuder den oiigen. der ybesclie wor/ele gesoten unde
genutzet ^ mit bonige unde als eyu plaster nf reife wunden
[1*^] geleit vulet^ sie, also selbes" zutribet se herte svul; di bletere
gesoten unde gestozen mit olei sint gut zu allerbande bizze, in eyner
plaster daruf geleit : daz selbe iz gut zu dem ^ brande.
375 Elixata prius radix adipique terendo
Addita porcino terebintbinaeque tumores
Matricis curat, reliquosque juvare dolores
Dicitur illius; nervös sie ipsa relaxat,
Rumpit vel spargit sie apostemata dura.
380 Omnes has causas elixatura iuvabit,
Si loca morborum foveantur saepe tepenti.
A dysentericis radicum coctio sumpta
Cum vino fluxum stringens compescit eorum.
Et pellit tardas haec coctio sumpta secundas,
385 Et prodest baemoptoicis , lapidesque repellit,
Vesicaeque solet variis succurrere causis.
Acri cum vino contritum semen olivo
Jungito , deformes maculas boc unguine pelles.
Cum pusca potata potest obstare venenis,
390 Elixata prius cum melleque trita replebit
Vulnera quae cava sunt, si sit supperaddita saepe;
Sic quoque duricias mollit lenitque rigores;
Decoctis oleo foliis factum cataplasma
Quosvis pestiferos morsus combustaque curat.
[vij.] 1) 1. papele 2) hs. utwengide 3) „wirok ghestot vnd mit wine
getempereret eder mit etike gedrunken helpet deme de blot risschet, dat is
dede blot spyet." Wolf. Mscr. 23, 3 f. 79^ Schiller - Lübben , mnd. wb. 3, 488.
(bech). 4) hs. genutzen 5) 1. vullet 6) also selbes d. i. gleicher weise.
Vgl. unter viiij atriplex „also selbes is he gut." 7) hs. den
[viij.] Acydula, surampfe, die ist trocken unde kalt in dem
drite[n] grade, surampfe gezzen vortribet den unlust.^ bei vortribet
[viij.] Macer nr. 18 s. 57. Acidula. v. 711 — 747.
Nacb Cboulant: Sempervivum und Sedum; Hauslaub, Hauslauch.
(Vgl. Matth. Silvaticus, c. 365. fol. 106''; ,,Humad arabice, grece oxilopatium , latine
vero acetosa.")
Dicimus Acidulam, quam Graecus dicit Aizon; ^
Sic dici credunt, sapor illi quod sit aceti.
160 G. SCHMIDT
gestozen daz lieylige vur, ob mau iz daruf leit. iz vortribet ocli das
vlechtende ser daruf ^ geleit , uude lieylet och daz gebraute, der saf
mit olei getemperet uude auz houbet gestricheu , daz lauge qualeu bat,
iz vortribet^ die sucbe vil schire. mit wiue getrunkeu virtribet aller-
haude rure uude scbe[de]licbeu ^ gezzeu. daz selbe hilfet die wip, ab
ir suche zu lange wert, also genutzet vortribet he de senewolde spulle-
worme uude ist och gut wider de vorgift. der saf au de ougeu gestri-
cheu irluchtet die ougeu. mau sait, swer in bi sich trage, den steche
der taraut nicht, der saf iu de oren getan vortribet den orswer. hus-
Crescit arenosis in pratis et secus aranes,^
Haue avide quidam comedunt in tempore veris
715 Expertumque ferunt, sibi quod fastidia tollat.
Virtus est illi siccaus et frigida valde,
Tertius a medicis datus est gradus huic iu utroque.
Hac fugit apposita sacer ignis et herpeta raordax,
Et tumor ex oculis tritae cataplasmate cedit.
720 Ulcera , quae serpunt, cohibet combustaque curat,
Et multum calidae dicunt prodesse podagrae,
Si fuerit foliis illius operta virentis
Aut cataplasmetur niixta coutrita poleuta.
Eius cum roseo succus permixtus olivo
725 Dicitur autiquo capitis prodesse dolori,
Qui dolor et lingua dicitur ceplialalgia^ graeca.
Omne genus fluxus ventris restringere mire
Cum vino potata solet vel mausa frequenter;
Hocque modo nimium manantia meustrua sistit,
730 Vel si matrici tritam viridem superaddas;
Sic quoque lumbricos pellit potata rotundos,
Taliter et cuuctis prodest potata veueuis.
Exhilarat visus succus illius iuunctus;
Cum vino variis obstat potata veueuis.
735 Affirmaut istam qui secum gesserit herbam
Quod uon appetat hunc letali scorpius ictu.
Auribus expressus si succus fuuditur eius
Adiuvat auditum mire pellitque dolorem.
Altera vero minor species est istius herbae,
740 Quam Sempervivam dicuut, quoniam viret omui
Tempore, Barba Jovis vulgari more vocatur;
Esse refert simileui praedictae Pliuius istam, ^
Nee minus haue cuuctis praedictis posse juvare;
HALBERSTÄDTER HRUCHST. V. MACER 161
loch hat alle die kraft,-'' die der siiramphe hat, niide iz 7,11 allen des-
sen dingen gut, als der suramplie ist.
[Mane solent adeo palpebrae glutine quodam
745 Plegmatis astringi, valeaut ut vix aperiri,
Has mire succus herbae deglutiuat huius,
lUo si tactae fueriut digitove perunctae.]
[viij.J 1) hs. svullust 2) hs. clarub 3) hs. vortrif 4) 1. stetelichen
5) I1S. karst
jviij.] 1) Die handscbriften bieten mauiiigfach abweichende formen: aizoon,
aiozon , ayzon, ai^on, aizoum, noxon, ozion usw. Ans dem griechiselien namen
dftuour geht hervor dass Sempervivnm gemeint ist. Die nicht genau angcgel)ene
Unterscheidung bezieht sich auf Sempervivum tectorum (Sedum majus, Dachwurzel,
Haushaixb, Barba Jovis, franz. joubarbe, Donnerbart) und Sedum acre (Sedum oder
Sempervivum minus, kleine Hauswurz, Mauerpfeifer). Diese auffassung wird bestä-
tigt durch Jac. Theod. Tabernamiontanus , Kreuterbuch , hsg. durch Gasp. Bauhinus.
Frankf. Ißl3. fol.2, 542 fgg. — Acidula, Accidula, Acedula wird sonst gewühn-
licli glossiert durch ampfer, sürami)fer. So hat es auch hier der deutsche Über-
setzer aufgefasst, und so scheint es auch schon Macer selbst gemeint zu haben.
Beide scheinen Sempervivum und Rumex vermengt, oder doch unter eine gattung
vereinigt zu haben. Leonh. Fuchs sagt in seinem New Kreüterbiich. Basel 1543.
cap. 175: ,, Mengelwürtz würdt von den Griechen Lapathon, zu Latein Rumex. in
den Apotecken Lapatium genent. — Der Mengelwürtz seind fürnemlich vier
geschlecht. Das erst geschlecht hat vil namen , dann es würt Grindtwurtz, Zitterß-
würtz, Streiffwürtz , wilder Ampffer, vnnd in sonderhoj't Mengelwürtz von vnsern
Teütschen geheyssen. Die Griechen nennen es Oxylapathon, die Lateinischen Rumi-
cem acutam , die Apotecker Lapatium acutum. Das ander geschlecht ist die zam
Mengelwürtz, das willen die Barfüsser Münch Rhabarbarü deuten, das es doch in
keinem weg ist, darumb habends wir Münch Rhabarbarum genennt, sol aber Rumex
hortensis, das ist, zam Mengelwürtz, wie angezeigt, geheyssen werden. Galenus
nent es Hippolapathum vmb seiner grosse willen.- Das dritt geschlecht würt allent-
halben Guter Heinrich genent. Das vierdt Saurampffer geheyssen , würdt bei den
Griechen vnd Lateinischen Oxalis, in den Apotecken Acetosa genent." — Ganz
davon getrent. schon im cap. 10, hat Fuchs die Haußwurtz, gr. Aizoum, lat. Sedum
und Sempervivum, behandelt. 2) Die verse 713. 719. 721—23. 726. 730. 734.
741 — 42. 744 — 47 sind unübersezt geblieben. Die lezten vier verse fehlen auch in
alten und guten handscbriften, mögen also wol späterer zusatz sein. 3) xtqa-
ktdytu 4) Gemeint soll wol sein Plin. HN. 25, 13, 102, obschon dort nicht all
das steht was hier gesagt wird.
[viiij.] Atriplex heyzet melde uude ist kalt an dem ersten
grade, vuchte an dem anderen, melde gezzen weket [1'^] den buch,
[viiij.] Macer nr. 28. s. 67. Atriplex. v. 947 — 956.
Nach Choulant: Atriplex, Melde.
(Vgl. Silvaticus c. 44. fol. 16'' s. v. Andrafasis [d. i. (h'd\H<<f<{(iig. i'<('^Q('c(f>t<'^vg, argä-
(fcc^ig, {(TQ(x(fa^vs] latine atriplex.)
Infrigidare gradu primo, humectare secundo
ZEITSCHR. F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XII. 1 1
162 G. SCHMIDT
gesoten oder ro gestozen iinde iif den bösen nagel geleit bringet in
abe. also selbes iz he gut vor daz heylige vur. melde gestozen mit
lütterem ^ salze ^ unde mit honige uude mit ezzige vortribet die hitze
podagram, die suche an den vuzen, ob man als eyu plaster daruf leit.
der same mit wine dicke genutzet ist gut den da kichen.^
Atriplicem dicunt. Eius mollit cibus alvum,
Duricias solvit varias clavisque medetur,
950 Emplastrum crudae vel coctae si superaddas;
Hocque superpositum scabros cito detrahit ungues.
Ignibus et sacris dicunt sie posse mederi.
Atriplicem tritam cum nitro, melle et aceto,
Dicunt appositam calidam sedare podagram.
955 Ictericum dicit Galienus tollere morbum
Illius semen cum vino saepius haustum.
[viiij.l 1) hs. luttereu 2) lütersalz ist alte beuennung des Salpeters,
nitrum. Belege aus alt- uud mittelhochdeutschen glossen geben GrafF 6, 219.
Müller -Zarncke, mhd. wb. 2, 2, 4o. Lexer 1, 1997. 3) kichenj kichen, schwer
atmen, wird von schwindsüchtigen und asthmatischen zuständen gebraucht. Belege
geben Müller -Zarncke, mhd. wb. 1, 804^ Lexer 1, 1567. Grimra, wb. 5, 434. —
Aus dem Garde der suntheit f. 101. (Lübeck 1520) führt Lübben im mnd. wörterb.
2, 460'' an: adderwort ghepulvert vnde gethen mit eyeren ys guet asmaticis,
dat ys den kychenden. Und aus dem arzneibuche der Breslauer ßhedigerschen
hs. bringt Hoifmann , im glossar zu Fundgruben 1 , 378 '' bei : daz asthma daz ist
di chiche. — Wenn nun Lübben a. a. o. aus einer Wolfenbütler hs. (60. s. 96.)
die angäbe entnimt: Dat melden säet myt wyne dicke gemenghet ys guet den de
dar kychen , so scheint der Wolfenbütler schreiber aus einem deutschen Macer
geschöpft, der deutsche bearbeiter des Macer aber ictericum mit asthmaticum oder
(h)ecticum verwechselt zu haben. Für die richtigkeit von ictericum, was hier im
lateinischen texte steht, verweist Choulant auf Galen, de simplic. tomperam. et
facult. 1.6. c. 73 ed. Kühn, tom. 11. p. 843. Auch Bock, Kreüter-Büch, Strass-
burg 1556. bl. 272*" bietet hier: „Muten samen zerstossen, vnd mit honig wasser
gedruncken , zertheilt vn vertreiben die galsucht." Desgleichen Tabernaemontanus
(ed. Bauhinus. Fkf. 1613) 2, 142. ,,Galenus gibt den Samen ein wieder die Gelbe-
sucht." Den gleichen Übersetzungsfehler hat der deutsche bearbeiter in cap. 14
batonica, gemacht, wo er v. 479 ictericos curat übersezt hat durcli: ,,hilfet den die
da kichen,'' und nochmals in cap. 21. camomilla, wo er ,,ictericis" in v. 572 des
lateinischen textes verdeutscht hat durch ,,swer kichet."
[x.] Aue tum, tille, der ist heyz unde trocken in dem anderen
grade, tille gesoten unde getrunken gibet den wiben milch, daz selbe
[x.] Macer nr. 10. s. 44. Anethum. v. 395 — 428.
Nach Choulant: Anethum graveolens, Dill.
(Vgl. Silvat c. 638. fol. 164 *' s. v. Uebet arabice , latino vero anetum).
395 A medicis calidum siccumque refertur Anethum,
HALBERSTÄDTER BRÜCKST. V. MACER 163
vortribet des magen ungemaoh. swer vil vorletzet,* de neme eyii
teil wazzeres gesoteii mit tille unde trinke daz dicke, iz vorgeit. daz
selbe getrunken liilfet die mit arbeyde pisset, tille gestozen unde mit
warmem wazzere gesoten unde getrunken liilfet wider des buches unge-
macli unde ist gut dem . de dar nicht wol dowet. swem der buch
drintet^ von suche, der pulvere den same[u] unde trinke iz mit
warmem wazzere. iz hilfet in. tille stetiliche genutzet krenket daz
gesiebte, die worzele zo aschen gebraut ist bezzere dau von dem
krude. wen
Et dicuut, quod sit gradus huic in utroque secundus.
Lac dat abundauter eius decoctio sumpta
Nutrici , stomachique solet depellere morbos,
Tres cyathos eius tepide si sumpserit aeger;
400 Indicio ructus est qui demonsfcrat apertum
Os stomachi ventumque per hoc exisse nocivum,
Atque gravis tali sedatur nausea potu.
Provocat urinas, obstantia quaeque repellens,
Matricemque iuvat, bene si foveatur eadem.
405 Cum tepida tritum patiens si potet Anethum.
Intestinorum curat ventrisque dolorem,
Hoc etiam potu digestio tarda iuvatur,
Unde minor fieri vis egestiva videtur.
Assidue bibitum visum nocet, et genitale
410 Claudit iter, siccaus humorem semiuis intus,
Uvaque si nimio turgens humore gravetur,'
Suspeudit pulvis combusti seminis eius,
Appositus digitis, aut intus clystere fusus.
Acrior esse ciuis radicum dicitur eius,
415 Rodit cresceutes ciuis hie in vulnere carnes,
Ulcera quae serpunt, et sordida vulnera curat
[x.] 1) Vorlezet] Eine raudbemerkung '".er liandsclirift erklärt riclitig: ad
vomitnm. Der deutsche boarbeiter hat die gravis nausea in v. 402 des lateinischen
textes richtig widergegeben durch: swer vil vorlezet, wie er auch in cap. 14. beto-
nica das in v. 470 des lateinischen textes vorgefundene voniitus richtig durch vor-
lazunge übersezt hat. Diese bedeutung von verlazen und verlazunge, erbrechen,
nciguug zum erbrechen, aufstossen, fehlt in den mittelhochdeutschen Wörterbüchern
von Müller -Zarncke und Lexer. — Konrad von Megenberg im Buch der natur
(ed. Pfeiffer. Stuttg. 1861) brauclit für dasselbe s. 381 einen anderen gleielil>edea-
tenden ausdruck, wenn er sagt: Anetum ist guot wider daz wüllen. 2) drinden,
11*
164 G. SCHMIDT
schwellen, anschwellen, wird von Müller - Zarncke und Lexer belegt. — Aus einem
lat. - niederd. wörterbuche in einer Berner pergamenthdschr. des 13. jh. (nr. 641)
bietet Graff (Diutisca, Stuttg. 1827. 2, 231"): tumere, swellen vel drenten ; tunii-
dus, drentende. Und grade auch auf dill bezüglich verzeichnet Lübben (mnd. wör-
terb. 1, 576'') aus einem niederdeutschen Herbarius von 1483. fol. 25 die angäbe:
„Werne syn bück swyllet edder drinthet, de drinke dylsad ghepuluert myd warmen
watere."
[x.] 1) So gibt Choulant den vers nach den ältesten und besten handschrif-
ten, zugleich verweisend auf Plin. H. N. 20, 18, 74. „ Cinis ejus uvam in faucibus
levat; oculos et geuituram hebetat." V. 413 ist freilich unklar ausgedrückt; es soll
damit doch wol gemeint sein : die asche des dülsamens werde mit dem finger an
das geschwollene Zäpfchen gestrichen, oder mit einer spritze eingesprizt. Die stelle
scheint bald veranlassung zu misverständnissen und änderungen gegeben zu haben.
Statt uvam bieten 2 hss. schon des 13. jh. vulvam , und die von Choulant benuzten
alten drucke s. 1. et a. bieten: Si nimio (nimis) venter turgens humore gravetur.
Auch der deutsche Übersetzer scheint diese lesart vorgefunden zu haben , wenn er
schreibt: wem der buch drindet von suche, der pulvere den same usw.
[xiv. Betonica, batonia]
[bl. 2*] batonia eyn gewichte unde wazzeres dritte half teil also vil
imde daz zusamene getemperet unde warme geiiutzet vortribet allir-
haude ungemach des buches. batonie mit honige genutzet vortribet den
husten unde wechet den buch, eyn gewichte wegebreiten unde zwi
teil batonien gestozen mit warmem wazzere hilfet vor den telichen
riten/ ob man iz warm nutzet, e dan den menschen der rite anege.
batonia unde warm wazzer zusamene ^ gestozen geliche vil unde ste-
liche ^ getrunken hilfet den wazzersuchtigen. die worzele gepulveret
[xiv.] Macer nr. 11. s. 46. Betonica. v. 429 — 491.
Nach Choulant: Betonica officinalis, Betonie.
(Vgl. Silvat. c. 83. fol. 30"= Bastare arabice, latine betonica).
460 Uncia cum cyathis calidae potata duobus
Dicitur immodicum ventris sedare dolorem.
Haec tussim cum melle fugat, ventrem quoque mollit.
Unaquaque die febre si vexabitur aeger
üncia iungatur plantaginis una duabus
465 Betonicae, sie cum tepida contrita bibantur,
Antea quam febris praenuncia frigora fiant.
Uncia Betonicae calidae cyatho resoluta
Prodest hydropicis, si sit potata frequenter.
Radicum pulvis cum mulsa tritus et haustus
470 Humores (velut elloborum) vomitu cito purgat;
Bis binas dragmas praecepit Plinius harum
HAXBEBSTABTER BRÜCKST. V. MACER
165
Uüde mit miilsa getriben* machet eym semptte voiiazuiige , di den
sicheu menschen ebene subrit. die bletere gepulveret uude getrunken
mit mulsa helfen den gebrochenen nidene, daz sin die, den daz
geweyde in daz gemachte gat. daz selbe iz gut vor daz vallende
genutzet, daz pulver mit wine genutzet ist gut vor de vorgift. noch
bezzer ist der same. batonia mit heyzem ^ wine genutzet hilfet den
die da kichen.*^ ba [bl. 2''] tonia pulver eyn bonen gewichte mit honige
gezzen des abendes nach ezzege ^ hilfet den magen unde dowet die
spise. swer eynen rink von batonia machet umme nateren oder slan-
gen , se irbize sicli selbe under eynander , e si ober den rinch gen.
Mamonarius eyn meister ^ si zu allen arzedien tun , want si kumit dem
magen eben. Plinius spriket, swer sie bi em habe, deme ne muge
kein zobernisse geschaden. her sait mer, swer bleyche varwen habe,
trinke her sie dicke mit wine, sie vorgeit unde gewinnet guten varwe.
Kadicum dare cum passo mulsove bibendas, ^
Praecipue phlegma vomitu purgabitur isto.
Cum mulsa bibitus prodest pulvis foliorum
475 Kuptis atque steras potus levat iste cadentes.^
Cum vino sumptis obstat potata venenis,
Praecipue semen, quod si desit datur herba.
Uncia Betonicae cum vino sumpta tepenti
Ictericos curat; cum mulsa menstrua solvit;
480 Pondere vero fabae pulvis cum melle voratus
Post coenam stomachum iuvat, ut bene digerat escam.
Si de Betonica viridi sit facta Corona
Circa serpentes , ut Plinius asserit auctor,
Audebuut nunquam positam transire coronam,
485 Sed morsu proprio pereunt et verbere caudae.^
Omnibus antidotis Menemachus * eam sociari
Praecipit, ut stomacho magis herbis omnibus aptam.
Plinius hanc, inquit, qui secum gesserit herbam,
A nullo poterit nocuo medicamine laedi,^
490 Et dicunt , quod ea cum vino saepius hausta
Plumbeus abscedat color et melior revocetur.
[xiv.] 1) 1. tegelichen d. i. das tägliche fieber. 2) hs. zuzamene
3) 1. stetiliche 4) triben, zetriben ist ein mediciiiisclier terminus technicus für
reiben, verreiben, vgl. Bech zu Hartmanns büchl. 1, 1314. Diut. 2, 271. Jung.
Tit. ed. Hahn 1653 , 2. 5) hs. heyzen 6) ictericos curat, vgl. oben anm. 3. zu
viij atriplex. 7) 1. ezzene 8) fehlt heyzet
[xiv.] 1) „Facilis praestat vomitiones radix Vettonicae hellebori modo iy
drachmis in passo aut mulso." Plin. HN. 26, 7, 25. 2) „Stera i. q. uterus
166 G. SCHMIDT
apud niedicos medii aevi, vox iareQa mutilata," Choulant zu Macer v. 13. vgl.
Silvat. fül. 30'': aus ,,Dia." d. i. Dioscorides, ,,folia eius dantur ad conquassationes,
et de alto cadentibus inedentiu-, et offocationcs stericas soluunt." — Der Über-
setzer hat ruptus , nach einer damals üblichen ausdrucksweise , gefasst als == her-
niosus. Das wort stera hat er unbeachtet gelassen und übergangen; vielleicht mag
CS ihm unverständlich gewesen sein. In folge dessen hat er, wie es scheint, caden-
tes aufgefasst als = morbo caduco laborantes. Übrigens emjj fehlen auch die kräu-
terbücher des 16. jh. die betonica als ein wirksames mittel gegen epilepsie, und
im Ortus sanitatis (s. 1. 1517) heisst es in cap. 64 unter Betonica: „Epylenticis
cum aqua bibita maximum presidiuin est." 3) ,,Morsibus imponitur Vettonica
praecipue , cui vis tauta perhibetur, ut iuclusae circulo eius serpentes ipsae sese
iuterimant tlagellando." Pliu. HN. 25, 8, 55. 4) Der hier und v. 1166 vor-
kommende name erscheint in den handschriften und ausgaben mannigfach entstelt.
Menemacus, Menemathus, Meneachus, Meneniacus, Meniacus, Moniacus, Medea-
cus. — Häser, gesch. d. medicin 3. a. Jena 1875. 1, 273 nent diesen Menemachus,
dessen Schriften verloren sind, unter den griechischen methodikeru nach Thessalus.
5) ,,Tantumque gloriae habet, ut domus in qua sit, tuta existimetur a piaculis Omni-
bus." Plin. HN. 25, 8, 46.
[xv.] [BJuglosa heyzet ossenziinge. die ^ iz gut genutzet den
lungen sieben, der saf mit warmem wazzere geuutzet vortribet stia-
sini, daz ist die svul an den dien.^ die wisen sagen, swer den Avin
trinke, da daz inne gewecbet si, iz gebe eine gut gebucnisse. swer
daz ^ crut uimet unde sudet iz mit wazere unde besprenget damite in
der wls wutbscacht,'' iz machet die geste alle vro.
[xv.] Macer nr. 34. s. 74. Buglossa. v. 1127 —1138.
Nach Choulant: Anchusa italica, Ochsenzunge.
(Vgl. Silvat. c. 506. fol. 125" s. v. Lingua bovis vel buglossa).
1127 Lingua bovis graeco sermoue Buglossa vocatur.
1132 Humores nocuos pulmonis detrahit hausta.
Mixtus aquae tepidae si succus sumitur eius
Uli , qui patitur sciasim , mire medicatur.
1135 Vim memorem cerebri dicunt servare periti
Vinum potatum, quo sit macerata Buglossa.
Laetos convivas decoctio dicitur eius
Reddere, si fuerit inter convivia sparsa.
[xv.J 1) hs. die die 2) „Sciasis {ia/jüg) , lendensucht; die geswulst
am diche vel an dem dein; seuche an dem dihen vel din." Diefenb. gloss. lat.
germ. 518'' vgl. unten in ur. xx (centauria) und nr. xxxij. (caratum). B) hs. dat
4) „ossentunge, f. buglossa . . . We den dranck drincket, dar ossentunge ynne
leghen hefft, de wert vrolickos modes. Dar warschopp ys, dar strauwe dat sulue
krut vnder de voyte edder sut dat sulue krud in watere, dar sprenge mede in
der war seh op, dat macket dar de lüde vrolick." Eyn schone Arstedygeboeck
usw. f. 61. Schiller - Lübben mnd. wb. 3, 244\
HALBERSTÄDTER BRUCHST. V. MACER 167
xvj. Beta^ heyzet beizgresse. die gesotcii uiide mit seile ^
gezzeri iz gut den die milze we tut. mit ahme gestozeu vortribet si
daz Jieylige vür unde heylet daz brande, beta ro gestozen ist eyii war
helfe den |2''| sigenden sweren ^ an dem houbeto, ob man sie damite
dicke bestriket. daz selbe hilfet daz scorveclite houvet baz denne wob.^
daz wazzer, da beta ist inne gesoten, vortribet de scivern-^ an dem
houbete damite getwan.*^
Fehlt bei Macer, findet sich aber in den Paiidectae medicinae des
Matth. Silvaticus cap. 98. fol. 35"'' „Beta vel bleta latine, graece stel-
len (1. rerrAo)')" .... „Dia. (d. i. Dioscorides) c. de beta: lecore labo-
rantibus et spleneticis cum sinapi utilissime esui datur. ignes sacros
et que adusta sunt cum albumine ^ illiuita restriugit. ulccribus in
capite manantibus facit; item allopitiis^ cruda trita optime illinitur.
aqua in qua est cocta furfures capitis eliminat." etc.
[xvj-j 1) Beta oder blitus haizt piezen kraut oder mangolt. Konrad v. Megcn-
berg, buch der natur, ed. Pfeiffer. Stuttg. 1861. s. 387. — Gemeint ist Beta vul-
garis, Mangold. 2) 1. senfe. 3) d. i. fliesseuden, nässenden geschwiiren.
4) 1. wol 5) schivern ^ schuppen. 6) = getwagen, gewaschen.
[xvj.] albumeu oder alunion hat im mittellatein ganz gewönlich die bedcu-
tung: eiweiss. Der bearbeiter des deutschen Macer scheint in seinem lateinischen
Dioscoridestexte alumen gefunden zu haben , und hat dies als alaun verstanden und
übersezt. 2) allopitia, allopitium = defluvium capillorum, akiojif/.ta. Bei Pli-
nius widerholt pluralisch gebraucht alopeciae: HN. 12, 22, 43; 23, 6, 54; 24, 19,
108; 25, 2, 6; 29, 6, 34.
[xvij.| [Cjycuta heyzet woterscherling ^ unde ist^ von kalder
nature unde ist also engeslich genutzet also vorgift. man machet och
darabe vorgift. unde weme mite vorgebin wirth , der weirt vleckeht,^
daz sint sine zeichen, swer in genutzet, der werme starken win unde
[xvij.] Macer nr. 65. s. 112. Cicuta. v. 2029 — 2055.
Nach Choulant: Conium maculatum, Schierling.
(Vgl. Silvat. c. 657. fol. 158 '^ s. v. succarum arabice , graece conisa vel tenela vel
conium (i. e. xiörtior) , latine vero cicuta).
Frigida letiferae vis est natura Cicutae,
2030 Unde necat gelidi potantes more veneni.
Qui perit hac herba, cutis eins fit maculosa,
Unde genus mortis valet haec per signa probari.
2037 Hac sumpta si quis morti sit proximus herba
Forte merum tepidum bibat evadetque periclum.
168 G. SCHMIDT
trinke den: lege her amme tote, her genese, swe her ein vorgift si
gezzen , her ist ^ doch zu nianige[n] dingen gut. swar die ougen irhitzet
sin , stoz des woterscherlinges bletere unde lege sie uf den dunnig : •''
iz hilfet. oder nini den saf unde bestrich de ougen damide. man vor-
tribet och also daz heylige vür. swelchem wibe die milch werret,
de stampe si unde lege si uf die zitzen mit dem *^ saffe , si werden
nicht grozer, iz vortribet raenslichen lust, swer sie mit dem saffe
umme die burst bestriket. wider de podagram an den vozen so nim
cycutam unde smer unde selberscum unde lege [2 ^] daz als eyn plaster
ufm voz , iz hilfet. cycuta gestozen ist vor allerhande unrechte heytze
gut, ob man si daruf leget odir bindet.
Sed quamvis potu solet haec assumpta nocere,
2040 Magnifice tanien appositu solet illa iuvare.
Aestivas mire iuvat epiphoras oculorum,
Si frons contritis foliis sit operta virentis,
Vel si sint eius circumlita lumina succo.
Hac quoque pellentur sacer ignis et herpeta cura.
2045 Tradit Anaxilaus,^ si succo saepius eius
Virgo linat mammas, sibi cum turgescere primum
Incipient, modicas semper stantesque mauere.
Lac contrita virens mammis superaddita siccat.
Exstinguit vener em , iiuxum quoque seminis omnem
2050 Si pecten ^ trita cataplasmes saepius illa.
Argenti spumae commiscens hanc adipique
Apponas calidae cataplasma salubre podagrae.
Et per se tali multum prodesse probavi,
Singula cur memorem, nocuum quemcunque calorem
2055 Apposita trita poteris curare cicuta.
[xvij.] 1) hs. weischerling 2) ist fehlt. 3) hs. vleckeit 4) ist
feil lt. 5) Schläfe, gekürzt aus tiinewenge. Vgl. Lexer 2, 1569. Diefenb.
584". — Aus einem ms. des 15. jh. notierte ich mir: las im (dem pferde) zweii
ädern, an itlicliem dunynge eine. bech. 6) hs. den.
[xvij.J 1) Die hss. geben den uanien meist sehr verderbt: Anislaus, Anisi-
lagus, Anisilas, Anasifilas, Anafilus, Anasilas, Anasillas. Macer hat aus Plinius
HN. 25, 13, 95 geschöpft, und demgeraäss haben auch die herausgeber die rich-
tige namensform hergestelt: ,,Anaxilaus auctor est mammas a virgiuitate inlitas
semper staturas; quod certum est, lac puerperarum mammis inposita exstinguit
veneremquo testibus circa pubertatem inlita." 2) pecten i. e. regio pubis, in
Übereinstimmung mit der eben angeführten stelle des Plinius. Statt dessen bieten
die ausgaben des Atrociauus (1527) und des Pictorius (1559) poctus, und dieselbe
falsche lesart scheint auch der deutsche bearbeiter schon vorgefunden zu haben.
HALBERSTÄUTEE BRÜCIIST. V. MACEK 169
[xviij.] [C]eriofilum lieyzet kcrbcle unde ist trockener imde bey-
zer nature. kerbelc mit boiiige gestozeii unde uf den canenim gele[i]t
hilfet. Cancer ist eyu böse geswere unde bat vil lokere unde sigen
steliclicn.* kerbelo mit wine getrunken bilfet der wetunden siten. mit
olei gcsoten unde angestriken vortribet daz kalde. kerbelc stozen mit
starkem ezzige unde getrunken vortribet de spulworme. mit wine
genutzet vürdirt die wip an ir sucbe. kerbele mit ungenutten ^ wachse
unde mit aldem sniere gestozeu vortribet de bösen sweren bi den oren.
daz selbe vortribet allirliande suche des buches, swer si izzet in star-
kem ^ ezzige , si vortribet daz spien unde vortribet och de rure also
genutzet, kerbele gestozen unde uf den buch geleit hilfet den de mit
not pisset, went si rumet im den vorstopfeten wech.
[xviij.] Macer nr. 27. s. 66. Cerefolium. v. 928 — 946.
Nach Choulant: Sc and ix cerefolium, Kerbel.
Est Cerefolio vis acris et ignea valde.
Appositum cancris tritum cum melle medetur.
930 Cum vino bibitum lateris sedare dolorem
Saepe solet, tritam si nectis desuper herbam.
Cum mulsa bibitum pituitae noxia solvit,
Ex oleo coctum frigus depellit inunctum,
Si tritum mixto violento solvis aceto
935 Lumbricos tali potu tineasque repellis.
Cum vino ciet urinas et menstrua purgat.
Virgiue cum cera vetus huic axungia mixta
Nou modo parotidas verum quoscunque tumores
Curat vel reprimit, si saepius hoc superaddas.
940 Intinctum valido si mauducetur aceto
Saepe solet vomitum veutremque teuere solutum ;
Si trito tegitur pecten succusque bibatur
ürinae clausos reserat quoscunque meatus;
Illius elixatura vertigo fugatur,
945 Si Caput hac tepida patientis saepe lavetur
Herbaque temporibus et fronti cocta ligetur.
[xviij.] 1) wol: siget stetilichen , nässt beständig. 2) mhd. uugenoetet,
ungenot; Diefenb. gloss. lat. -germ. 113'': cera non liquefacta ungenodiget vel
ungenuettet was. bech. 3) hs. starken
[xix.] [C]oriander ist kalt unde eyu teil trockener nature. dorch
[xix.] Macer nr. 29. s. 68. Coriandrum. v. 957 — 987.
Nach Choulant: Coriandrum sativum, Koriander.
(Vgl. Silvat. c. 250. fol. 66*^ s. v. Daybora arabiee . . . lat. vcro coriandrum).
Frigida vis herbae Coriandri dicitur esse,
170 G. SCHMIDT
daz sait Galienus, daz iiicheiu ^ crut, mit wiiie gestozeu, unde getrim-
keii baz vortribet di spulworme, oder [bl. 3*] die in nutze mit ezzige.
der koriander mit getrockenen ^ wiubern uude mit honige gestozen vor-
tribet swaz zutrunden^ ist unde nemeliche an dem gemechte, ab daz*
zutrunden ist. korianders same mit wazzere dicke getrunken vortribet
de rure. von korianders same silberscum blywiz ezzech rosenolei, di
vunf zusameue ^ getan , da mache von eyue salbe , damite vortribet
man daz heilige vür unde allirhaude svul, de sich von hitzen irhebet.
dunket aber sogetane temperunge dich zu swar, koriander same mit
ezzige getemperet hilfet. och ist gut eyn brosme brodes gewichet in
korianders saflfe, daz vortribet böse hitze, swar iz ufgeleit wirt. der
saft mit mele von bone[n] zusamen ^ getemperet vortribet die swartzen
bletere, wirt iz daruf geleit. iz ist och gut uf de druse geleit, de da
scrofelen ^ heyzen , want iz se swendet. iz sagen och sumeliche mei-
stere, swer die terciane habe, izzet her dru korianders samen kornere,
e iz ene anegeit, iz hilfet. iz hilfet och vor de [bl. 3**] selbe suche, swer
den koriander leset des morge[n]s, e die sunne ufgeit, unde leg ez
Austeraeque simul quiddam virtutis habere
Hanc Galienus ait, per quam depellere ventre
960 Lumbricos tineasque solet, si trita bibatur
Cum vino vel si mixto sumatur aceto.
üva cum passa Coriandrum melque iugatum
Sedabunt varios superaddita trita tumores,
Praecipue festes tumidos iuvat hoc medicameu.
965 Illius semen veutrem stipare solutum
Fertur, aquae iunctum fuerit si saepius haustum.
Argenti spumam cerussae contere mixtam
His tritis succum Coviandri iunge et acetum,
Quattuor his roseum miscendo iugabis olivum,
970 Ista tereudo simul pretiosum conficis unguen.
Quo sacros ignes pellas calidosque tumores;
Si tibi difficilis confectio tanta videtur,
Succus cum solo prodest commixtus aceto;
Aut si frumenti panis mundissima mica
975 lungitur huic succo, sedat quemcunque calorem.
Huic succo si iuncta fabae sit sola fariua
Et superaddatur, scrophis medicabitur illis
Et cedet fervens emplastro pustula tali.
A multis scriptum legitur: febris ante tremorem
980 Si tria grana voret Coriandri seminis aeger.
IIALBRRST.VDTER BRüCHST. V. MACER 171
linder des sechcii houbet, als iz eue auegan wcl. Xeiiocrates ^ eyn
meister der sait: swo inaniiicli korianders sameukorn ein wip ezze, also
mau[n]ich ^ voimide sie ir suche, koriaiider steteliche gezzen brenget
den tot oder groze suche.
Evadet febrem ciii dat lux tertia nomen;
Praestat idem lectuni Coiiandruni niaiie piiusquam
Sol surgat cervicali si subditur aegi'i.
Xenocrates ^ scripsit totidem cessaie diebus
985 Menstrua quot uiulier Coriandri grana vorabit.
Assiduum quidam condemnant illius usum,
Nempe putaiit mortem quemvisve parare dolorem.
[xix.J 1) hs. iiirheim 2) h.s. getrockener 3) -= zutninnen, geschwol-
leu. Müller- Zar ncke, lulid. wb. 1, 393". s.v. zedrinden. Diefenb. gloss. lat. germ.
601 ^ s. V. tumidus. 4) hs. ab sie daz 5) bs.: zuzamene 6) bs. zuzamen
7) hs. scurselen 8) hs. Xenonates ji) fehlt tage.
[xix.] 1) Die erwähiiung dos Xenocrates scheint Macer aus der damals gang-
baren lateinischen Dioskoridesübcrsetzuug entnommen zu haben. Auch bei Silvati-
cus heisst es am ende des mit .,üia" (d. i. Dioseorides) bezeichneten abschuittes:
,,Mirum est ij^uod Xenocrates tradit, si unum semiuis granum feniina biberit, uno
die ei menstrua contineri, si duo, et totidem iam diebus, quot grana sumpserit." —
Über Xenocrates von Aphrodisias , den Verfasser eines pharmacologischen Werkes,
um 50 — 70 u C s. Häser, gesch. d. medicin. 3. a. Jena 1875. 1, 300,
[xx.] [C]entauria beyzet zauterne,^ ist trokener uature, darum
heylet sie wol vrische w[u]nde. ceutauria gesoten unde binden mit
eyme kleistire ingetriben vortribet stiasim, die suche an den dien als
eyn s[vjul,- daz selbe hilfet den wetimden seuadereu, ob si damite
bebet werden, der centaurien^ saft genutzet brenget den vrowen ir
suche, daz selbe genutzet bringet daz tode kint uz dem übe.'* daz
[xx.] Macer nr. 53. s. 99. Centaurea v. 1709 — 1727.
Nach Choulaut: Erythraea centaurium, Tausendguldenkraut.
(Vgl. Silvat. c. 150. fol. 52'' s. v. Centaurea).
Sunt Centaureae species maiorque minorque,
1710 üt suprascriptis dixi de pluribus herbis;
Sed quia perpaucis species est cognita maior,
Hanc praetermittens vires narrabo minoris,
Quam notam cunctis credo vulgaribus ipsis.
Desiccativae virtutis dicitur esse,
1715 Non modicum piagas congiutinat inde recentes,
Inque cicatricem veteres supperaddita ducit.
Uli, qui sciasim patitur, decoctio mire
172 G. SCHMIDT
selbe crut geuutzet mit wiiie tribet durcli den menschen in eyner mre,
swaz her vorgift genutzet hat. centauria mit honige getempeiet vor-
tribet den scemen. der centauream saft sal man in dem herbeste
gewinnen unde trocken an der sunnen, der ist gut zu allen dessen
dingen, als ir habet hirvor ^ voruomen. [bl. 3"]
Prodest, illius si sit subiecta per anum;
Sanguine detracto sedat mox illa dolorem,
1720 Fomento nervis eadem medicabitur aegris.
Illius succus deducit menstrua sumptus,
Pellit abortivum; medicamina cuncta maligna
Cum vino sumptum dicunt purgare per alvum.
Melle sibi iuncto caligine lumina purgat.
1725 Illius exprimitur autumni tempore succus,
Quem desiccatum ferventi sole repouunt
Ad rerum curam, quas diximus ante, salubrem.
[xx.] 1) santorij , santorie ist die uiederländische benennung des tausend-
guldenkrautes ; engl, the lesscr centorij. Nemnich, polygl. lex. d. nat. gesch. s. v.
Gentiana ceutauriiiui. 2) hs. plaster ful. — ,,Sciasis, seuclie an dem dihen vel
din; ez ist an dem ding (1. dien) also ein geswulst." (Aus einer Frankf. hs. des
14. jh.) Diefenb. gloss. lat. - germ. 518 ''. 3) hs. scentaurien 4) hs. Üben
5) hs. irvor
[xxj.] [C]amonilla, wizseblumen ist eyu wolrechende crut unde
ist drierhande: ir izlich irkenuet man bi der blümen. in allen ist die
blume mittene goltvar unde ummesatzet mit bleteren maniger var, die
eine mit witzeu , die ander ' mit swarzen , die dritte pfellervar : unde
sint alle heiz unde trocken in dem ^ ersten grade, swellich iz si , dicke
getrunken mit wine hilfet dem, der mit arbei(t) harnet, unde vortribet
[xxj.] Macer nr. 14. s. 51. Chamomilla. v. 549 — 591.
Nach Choulant: Matricaria chamomilla, Chamillen.
(Vgl. Silvat. c. 87. fol. 32 ^ s. v. Bebonig . . . lat. camomilla).
Anthemim magnis commendat laudibus auctor
550 Asclepius,* quam Chamaemelum nos vel Chamomillam
Dicimus; haec multum redolens est et brevis herba,
Herbae tam similis , quam iusto nomine vulgus
Dicit Amariscam,'^ qiiod foeteat et sit amara,
Ut collata sibi vix discernatur odore.
555 Auetores dicunt species tres illius esse,
Quas solo florum distingui posse colore
HALBERSTÄDTER BRÜCKST. V. MACER 173
den stein in der blasen, de wizseblome gesoten mit wazzere vurdirt
de wip au ir suche, ab sie zu lange sumen unde ab man si mit dem
braden underroucliet unde den buch mite bebet oder ob sie sie dicke ^
trinke mit wine, daz selbe stillet des buches curren.^ daz selbe hilfet
getrunken den zusw[o]llen mageu. camomilla gestozen mit honige oder
alleyne unde under de engen gestrichen ist gut der scelenden ^ hut.
camonilla gesoten ist gut genutzet, swer kichet. se hilf(t) sere dicke
genutzet der sieben.*^ swelch wip mit eyme toden kinde arbeydet, die
trinke se mit wine unde wirt ledich. swer daz kalde hat, der side
wizse mit olei unde als in wil daz anegan, man bestrike in damite,
daz kalde vorgeyt und ettesswelie der suche [bl. 3"^] gar. die selbe salwe
hilfet sweme undir den rippen we tut. swem de natere gestichet, der
neme dru pennig wichte der pellelvarn wizseblomen unde nutze se
mit wine , iz vorgeyt. swer hat egiloppas ' — egilope ist eyn suche,
in des ougen winkel wesset eyn vleisch, daz tränet — , der kowe sie
Tradunt: est cunctis medius flos aureus illis,
Sed variis foliis flos circumcingitur ille,
Albi vel nigri sunt purpureive coloris.
560 Dicitur Anthemis proprio , cuius foliorura
Purpureus color est, maiorque et fortior haecest;
At Leucanthemum foliis deprehenditur albis,
Melinis Chrysanthemum; vis omnibus illis
Sicca calensque gradu primo conceditur esse.
565 Provocat urinam cum vino quaelibet hausta,
Vesicae frangit lapides et meustrua purgat,
Si foveatur aqua matrix qua cocta sit herba.
Aut si cum vino potetnr saepius illa;
Tormina sie sedat, stomachique inflatio potu
570 Pelletur tali. Squamas de vultibus anfert,
Si tritam apponas solam mellive iugatam.
Ictericis prodest eins decoctio sumpta
Et mire prodest iecoris potata querelis,
Pellere cum vino potata refertur abortum.
575 Hac oleo cocto foveas si febricitantem
Frigus depelles, febrem quoque saepe fugabis;
ünguine purgantur hypochondria turgida tali.
Pestiferos morsus serpentum pondere dragmae
Cum vino prohibet Anthemis sumpta nocere.
584 Aegilopas curat, si quis commasticet illam
174 G. SCHMIDT
unde lege sie iif die ougen , iz vorgeit. daz selbe subrit die eitberen
sweren und beylet sie.
585 Et sie appoiiat; sie iilcera sordida purgat.
[xxj.] 1) hs. anden 2) bs. den 3) hs. dricke 4) d. i. knurren
5) = sich abschälend. 6) fehlt leberen? 7) = aegilopa, die tränenfistel.
[xxj.] 1) Anthemis magnis laudibus celebratur ab Asclepiade . . . genera eius
tria flore tantum distant, palmum non excedentia, parvis floribus rutae, candidis,
aut malin is (var. melinis), aut pnrpureis. Plin. HN. 22, 21, 26. — Auch
anderwärts findet sich durchweg die Unterscheidung derselben drei färben der rand-
blümchen: weiss, gelb, roth. So bei Silvaticus fol. 82'', nach ,,Dia" (d. i. Dio-
scorides): ... „ huius herbe tria sunt genera habentia in flore distantiam .... supe-
rius capitellum rubicundum, cum quadam rotunditate, habens de intus aureum
florem, qui exterius foliorum obiectione tegitur alborum , aut mellini, aut pur-
purei coloris," und nach „Aui." (d. i. Avicenna): „... camomilla. ex ea alia est,
cuius flos est citrinus, et alia est, cuius flos est purpureus, et alia est alba,
cuius est albus, et hec est nota." Ebenso bei Megenberg, Buch der natur, ed.
Pfeiffer s. 388: ,, Camomilla haizt gamillen, und daz kraut ist dreierlai. daz ain
hat weiz pluomen, daz ander gel, daz dritt purpcrvar." — Auch . Macer selbst
sagt mit ganz derselben Unterscheidung v. 560 fgg. : die Antlicmis mit purpurfar-
benen randblümchen sei die eigentliche Anthemis , die mit weissen heisse Leucan-
themum , und die ndt quitteugelben (melinis, mellinis) heisse Chrysanthemum.
Um so auffälliger ist, dass er in dem unmittelbar vorhergehenden verse weisse,
schwarze und purpurfarbige randblümchen unterscheidet. Nigri scheinen alle
handschriften und alten ausgaben zu bieten: nach der angäbe von Choulant in sei-
nem Apparatus criticus wäre es erst in den Basler ausgaben von Pictorius (1559.
1581) in lutei verbessert. Auch der deutsche Übersetzer muss in seiner lateinischen
vorläge das widersinnige nigri vorgefunden haben. Vielleicht mag dieses wunder-
liche nigri entstanden sein aus irriger auffassung der angäbe von Plinius (a. a. o.):
,,nonnulli nielanthion vocant." (var.: melanthemon ; gr. tuskävDfjuov, bei Diosc.
3, 154). 2) ,.Amarica s. Amarista herba est Anthemis Cotula" (stinkende Ka-
mille, Hundskamille). Choulant.
[xxij.] [CJolubrina heyzet uaterwort uude daz von reclite. wen
swer de worzelen stozet unde sieb damite bestriebet, se vortribet aller-
bande natere vorgift. Swer sie bi eme treget, der ist sieber vor der
[xxij.] Macer nr. 54. s. 99. Colubrina. v. 1728 — 1765.
Nacb Cboulant: Arum, Natterwurz.^
(Vgl. Silvat. c. 637. fol. 154° s. v. öerpentaria, vel viperina, vel colum dracmiis
latine , luf . . . arabice , grece dragontiura).
Herba, Dragouteam Graecorum quam vocat usus,
Haec eadem vulgi liugua Colubrina vocatur,
1730 Quod colubro similis maculoso cortice surgit,
Ex quibus antiquis expertum credimus esse,
HALBERSTÄDTER BRUCIIST. V. MACER 175
nateren. colubviiia mit wiiie £fenulzet vortribot swaz die natere gest-
ehet, der samtMi satt' mit olei getemperet uiule in daz ore gegozen
vortribet die serdo.' in dem selben saffe w[u|llen genutzet ^ iinde in
de nase gestozen ist gut vor eyne suche, di heyzet polipns , daz ist
das stinkende vleisch,^ daz in der nasen wesset. daz selbe ist gut
vor den cancrum. Cancer ist eyn swere, da vil löchere inget unde
siget unde heylet ungerue. der worzelen saft an di ougen gestrichen
vortribet den scimen unde manicher bände suche , die den * ougen wer-
ren. noch heyzer ist iz mit honige getemperet, unde och ist die wor-
zele gut gegezzen zu den ougen. dritzich samencorn genutzet mit pusca
vortribet allirhande schimen unde machet die ougen dar. pusca iz
zwei^
Quod queat a simili colubrina venena fugare.
Quisquis se trita radice perunxerit eius,
Tutus ab incursu serpentum dicitur esse;
1735 Morsibus illarnm cum vino sumpta medetur.
Si iungas oleum cum succo seminis eius
Auribus infundeus poteris sedare dolorem;
Hoc succo lanam madidam si uaribus addas,
Compesces morbum , qui polypus est vocitatus ;
1740 Sic etiam cancris magnum solet esse iuvamen.
Succo radicis eius caligo fugatur
Et varii morbi, quos lumina perpetiuntur,
Ex ipso puro si sint lita melleve mixto;
Et prodest oculis radix si manditur assa;
1745 Cum pusca granis ter denis seminis haustis
Lumina munda ferunt pulsa caligine reddi.
[xxij.] 1) serde = schmerz. 2) 1. genetzet 3) lis. vleischs 4) hs. dan
5) „puscha, daz ist czway tail wasser vnd ein teil wein." Diefenb. gloss. lat. -
germ. 474* aus einem Münchener zu anfange des 15. jahrh. geschriebenen Voca-
bularius rerum.
[xxij.] 1) Was hier von den Wirkungen der Colubrina ausgesagt wird, berich-
tet Silvaticus unter beziehung auf Dioscorides von seiner Serpentaria, und Taber-
njBmontanus (Kreuterbuch , herausg, von Bauhinus. Fkf. 1613) 2, 443 fgg. von sei-
nem „Dracontium, Drachenwurtz." Beide unterscheiden, jener seine Serpentaria,
dieser sein Dracontium, von Arum , welches leztere jener in cap. 1. fol. 1* s. v.
Aaron (vel Serpentaria minor, aliter Pes vituli), dieser 2, 444 fgg. unter Arum,
Aren besonders abhandelt. — Jene colubrina (serpentaria, dracontium) mag wol
unserem Arum dracunculus, das Aaron oder Arum des Silvaticus und Tabcrntemon-
tauus dagegen unserem Arum maculatum entsprechen.
176 G. SCHMIDT
[xxvij. zedoar, beyzet zitwar] ^
[bl. 4*] den sterbit die spulwonne. gezzen vortribet ber den knobelokes
rüch uz dem munde.
[xxvij.] Macer nr. 71. s. 117. Zedoar. v. 2131 — 2140.
Nach Cboulant: Curcnma Zedoaria, Zitwer.
(Vgl. Silvat. c. 711. fol. 168 '^ s. v. Zedoaria).
Lurabricos ventris depellere dicitur haustum;
Allia quem faciunt foetorem pellit ab ore
2140 Et nimium bibiti vini depellit odorem.
[xxvij.] 1) Hier fehlt ein blatt mit dem schliiss von xxij (colnbrina). xxiij.
xxiv. XXV. xxvj und dem grössten teil von xxvij.
[xxviij.] [Cjynama beyzet cynamin, de ist drier bände, der
cleineste ist de[r] beste unde baz zengret ^ unde bizent au de zungen.
der sterket den magen unde trockent sine böse vucbticheit unde maket
in wol dowen geuntzet unde heylet die leberen. genutzet subrit be de
wip au ir suche unde vortribet den vuchten husten unde och der sun-
den.2 einer hande wazzersucht, heyzet timpaua, die vortribet her unde
trockent. cynama geuutzet unde lendeusichen.^ iz vortribet och vor-
giftige bizze, daruf geleit oder genutzet, unde trockent die vuchten
humores. gestozen mit starkem wine unde under die ougen gestrichen
[xxviij.] Macer ur. 73. s. 118. Cinnama. v. 2147 — 2164.
Nach Choulaut: Laurus cinnamomum, Zimmt.
(Vgl. Silvat. c. 202. fol. 66* s. v. Darsen arabice, grece et latine Cinomomum).
Cinnama tres species dicuutur habere, sed harum
Est pretiosa magis, quae plus subtilis habetur
Et quae phis mordet mixta dulcedine linguam.
2150 Humores stomachi siccat, corroborat ipsum,
Et facit acceptas ut digerat ocius escas.
Sumptum curat hepar lotiumque et menstrua purgat,
Humida tussis eo sedabitur atque catarrhus.
Hydropisis speciem, cui praebent tympana nomen,
2155 Sumptum non modicuni reprimit renumque dolorem;
Reptilium morsus curat; si iungitur illis,
Quae curant oculos humores siccat aquosos.
Si bene contritum forti miscetur aceto
Liberat apposituni tetra lentigine vultum,
2160 Sicque iuvat morbum qui ducit ab impete nomen.
HALBRRSTÄDTER BRÜCKST. V. MACER 177
vortribet her daz gesehiverte/ die grozer cinama die stillen daz emor-
riadas , ob man sie stozet unde mit warmem wazzere nüchteren trin-
ket, zu dem tränke sulon dru phennig gewiclite sin unde nicht nie.
Grossa magis species fluxus haemorrhoidarum
Stringit, aqua gelida bene si contrita bibatur,
Tempore quo nondum patiens ieiunia solvit.
De specie geminas haec quaerit potio dragmas.
[xxviij.] 1) 1. zengvent d. i. scharf riechend und schmeckend. Vgl. Müller-
Zarncke mhd. wb. 3, 849. Schnicllcr hair. wb. ed. Frommann 2, 1135. 2) 1. den
snuder. — Cinamomum . . . tussim sedat, catarrü miligat. Matth. Silvat. pandeet.
med. Lugd. 1534. f. 6G ''. — Kanneel benimpt catarrum , dat is den snoven. Herbar.
v.J. 1483. Schiller -Lübben mnd. wb. 4, 281". 3) 1. die vortribet unde trockent
cynama genutzet unde lendcnsuche. — hydropicis medetur, nefreticis utiliter datnr.
Silvat. fol. 66^. 4) Aus dem lateinischen texte geht hervor, dass geschiverte
Übersetzung von lentigo sein soll und mithin die bedeutung „Sommersprossen"
haben muss. Doch vermag ich das wort anderweit nicht nachzuweisen. Auch Sil-
vaticus sagt am entsprechenden orte (66'^'), auf Dioscorides sieh berufend: „cum
melle tritum maculas vel lentigines de facie purgat " und , aus gleicher oder ver-
wanter quelle schöpfend, lehrt Tabernajmontanus (ed. Bauliinus. Fcf. 1G13) 2, 658*:
,,Zimmet mit essig temperiert und angestrichen säubert die haut, vertreibet die
flechten und zittermäler: mit honig angestrichen vertreibt die masen des antlitz." —
In einem späteren abschnitte (xxxiij. Eruca, witsempf) übersezt der deutsche bear-
beiter des Macer lentigo durcli rise.
[xxix.] [C]ostum iz zwierhande, eyn ist iz ^ swere unde rot unde
sere bitter unde heytzet indicum, daz ander lichte unde nicht bitter,
daz ist ambicum.- daz erste iz ^ bezzer, daz subrit die pissen [bl. 4'']
unde swaz si erret. sie hilfet den "^ milzen, der leberen, der"' niereu
[xxix.] Macer nr. 74. s. 118. Costus. v. 2165 — 2181.
Nach Choulant: Costus arabicus, Kosten würz.
(Vgl. Silvat. c. 362. fol. 105"^ s. v. Costa, Costus).
2165 Costi sunt geminae species: gravis mia rubensque
Est et amara uimis, haec iudica dicitur esse;
Altera vero levis, nee amara, colore subalba,
Hanc Arabes mittunt; prior utilior medicinae.
Urinas purgant et eis obstantia pelluut,
2170 Spien curant et hepar, laterisque fugare dolorem
Dicunt, cum vino tepido si sumpserit aeger.
ZEITRCHR. F. DKÜTSCHE PHILOLOGIE. BD. XII. 12
178 G. SCHMIDT
mit warmem wine genutzet, sie subrit die wip an ir suche, ab sie
sich mite underrouchen. daz selbe genutzet vortribet die spulworme.
costum mit olei gesoten vortribet dem rithescin ^ daz kalde , ab her sich
mite bestrichet, e en daz kalde auegan.'^ costum gepulveret unde uf
die w[u]nden gestrowet heylet sie.
Meustrua purgabunt, si se subfumiget illis
Pemiua, sie etiam vulvae sedare dolorem
Dicunt, aut ex bis sibi si pessaria subdat.
2175 Lumbricos pellunt, purgant lentigine vultum,
Si tritis cum melle linas, veueremque movere
Dicuutur, si sint cum mulsa sumpta tepenti.
Ex oleo Costum ([uo coxeris illine quemvis
Ante febris typum, reddes a frigore tutum;
2180 Subvenit hoc sciasi membrisque tumentibus unguen,
Antiquum vulnus cito curat pulvis eorum.
[xxix.] 1) 1. ist zwierhande , einiz ist 2) 1. arabicum 3) 1. ist 4) 1. der
5) 1. den 6) d. i. febricitanti 7)1. anegat
[xxx.] [C]ucumer ist cuntir, iz ist kalder nature unde loset
den buch, durch daz ist he dem magen gesunt. die bletere mit wine
gestozen heylet daz der hunt gebizet. der same mit surem wine
genutzet hilfet der* blasen unde die unsempfte harren.^ der same mith
wibes milch vumfzen p[f]ennig gewichte genutzet hilfet sere w^ider
die rure.
Fehlt im lateinischen texte des Macer. — Ähnliches und im
wesentlichen übereinstimmendes findet sich im „ Liber Serapionis Aggre-
gatus in medicinis simplicibus" (Ausg. o. 0. 1525) cap. 243 „Öe melone,
cncumere, citrullo," fol. 157° aus „Dia." d. i. Dioscorides: „Cucumer
domesticus mollit ventrem, et est bonus ventri et stomacho, et infri-
gidat sine nocumento, et confert vesice, et reviviscere facit sincopi-
zantes (ohnmächtige) quando odorant eum , et provocat urinam fortiter,
et quando bibitur cum lacte et rob * confert ulceribus vesice , quando
autem fit emplastrum cum foliis eius et vino curant morsum canis, et
quando fit emplastrum cum melle curat syre." ^ — Demnach scheint
der deutsche bearbeiter dieses stück aus einem lateinischen Dioscorides
geschöpft zu haben, und unter Cucumer domesticus ist unsere gurke,
cucumis sativus zu verstehen, die bereits in Karls des Grossen Capitu-
IIALBERST.'\DTER BRÜCKST. V. MACER 179
lare de villis im vorzeichnis derjenigen g-ewilohse anfgefülirt wird,
welche in den gärten der kaisorliclien domänen angebaut werden sol-
len. Vgl. E. Mej-er, Gesell, d. Botanik 3, 404. — Übereinstimmende
angaben über die beilanwendmig bietet Leonh. Fuchs in seinem „New
Kreüterbüch." Basel 1543. cap. 267 von den Cucumern oder „Gur-
chen," „von ettlichen Anguria genant." — Für die im texte liinzu-
gefügte deutsche benennung „cuntir" habe ich nirgend einen anhält
finden können.
[xxx.J 1) hs.: dir 2) == harnen
[xxx.J 1) „Rob. i. succus usque ad spissitudinem decoctus vel tertiam par-
tem." Synonyma Serapionis (s. 1. 1525) fol. lOG". 2) syre ist aöoiy^, hohles
ge.schwiir, fistel.
[xxxj.] [CJerviboletum hcyzet der hirtzesswam.^ swo die
spinne gestichet unde iz da geswillet, hertzesswam gekowen unde
damite bestrichen iz vorgeit. daz selbe hilfet uf izleich geswel geleit,
daz sich von vorgift irhebet.^ swelch wip arbeit mit der gehurt, die
neme des hirtswammes als eyn erwiz unde kowet uude ezzet halp unde
mit dem halben teil umbestriche ^ sie den nabele , sie gewinnet daz
kint san unde an arbeit, man sal och daz wizzen, daz sie daz wider*
scal ezzen noch den nabel bestrichen wen zu der rechten zith der
gehurt: andirs [bl. 4''] iz schadet, swer in nochtereu izzet, iz hilfet wider
die trunkenheyt. swo die äderen ^ gesvullen sint von der lazzeue , hir-
swam gezzen unde gekouwen , mite bistrichen vortribet den svul. daz
selbe gekouwet unde geleit uf daz gesvullen fleisch , iz hilfet. swer
da vlit, izzet her daz crut, her wirt risch. '^
[xxxj.] 1) Fehlt im lateinischen texte des Macer. 2) hs. : hirhebet
3) hs. : umbostrichen 4) 1. weder 5) hs. arderen 6) richs
[xxxij.] [Cjaratum heyzet stopf den buch^ unde ist och
unde[r] allen ernten gut der mit arbeyde pisset, ob her in nutzet, her
[xxxij.] Macer nr. 44. s. 89. Enula. v. 1489—1502.
Nach Choulant: Inula Helenium, Alant.
(Vgl. Silvat. c. 239. fol. 76'' s. v. Ellenium grece .... latine vero Enula campana).
Enula, quam Graecus Elnam vocat Eleniumque,
1490 Dicitur a medicis, est forma cognita cunctis.
Humida vis eius et fervida dicitur esse,
12*
180 G. SCHMIDT
ist och gut den wiben , die tode kint tragen , ab sie in nutzet, die
worzele gestozen unde[i-] die deich ^ geleit oder gebunden vortribet stia-
sim ,^ daz ist eyn svul ame die. die bletere gesoten mit wiue unde
heyz die lenden mite beleit hilfen den lendensichen. die worzele gedur-
ret unde gepulveret unde mit honige gemenget unde gezzen vortribet
den husten, daz selbe hilfet emopteicis/ die da blut reschen. bute
saf ^ mit alandes saffe getrunken hilfet den , die da gebrochen sin unde
daz gemechte uzgeit. alant gesoten mit botteren unde mit olei hilfet
die matricem, daz ist die stat, da die wip inne kint tragen, ab man
iz in darin brenget warm, iz hilfet och den man , ab her gesvullen ist
an siner hemeliheyt,^ ab her sich mite bestrichet.
Humor habere gradum primum, fervorque secundum
Dicitur. Illius decoctio menstrua pnrgat
Si bibitur , movet urinam , depellit abortum ;
1495 Dicitur haec eadem stipatum solvere ventrem.
Radix trita fugat sciasim superaddita coxae.
Ex eins foliis cum vini nectare coctis
Mire nefreticis renes involvere prodest.
p]ius radicum pulvis cum melle voratus
1500 Tussim compescit, haemoptoicisque ^ medetur.
Cum succo rutae succus si sumitur eins,
Affirmant ruptis quod prosit potio talis.
*Cum butiro modicoque oleo decocta tumorem ^
*Matricis subiecta tepens fugat illa colique,
*Et cunctis intus morbis sie subdita prodest,
*Hac etiam testes poteris curare tumentes,
*Cum foliis lauri beue tritam si superaddas.
[xxxij.] 1) hs. stopf den stopf. — Die hier gebrauchten beiiennuiigen,
die lateinische wie die deutsche, weiss ich beide anderwärts nicht nachzuweisen.
2) 1. diech 3) 1. sciasim 4) d. i. (dixonrv'ixolg, den blutspeieuden. 5) 1. ruten
saf 6) == schäm
[xxxij. I 1) V. 150Ü bietet (Jhoulant in seiner ausgäbe orthopnoicisque ; (ö^.9d-
nvoin ist eine engbrüstigkcit, bei der man nur grade stehend oder sitzend athmen
kann), verzeichnet aber aus zwei Wolfenbütler papierhandscliriften des 15. und
16. jh. und aus Eanzows au.sgabe die lesart emoptoicisque, haemoptoicisque, welche
dem Verfasser dieser deutschen Übersetzung vorgelegen haben muss. 2) Die lez-
ten fünf, hier mit Sternchen bezeichneten hexameter hat Choulant in den text sei-
ner ausgäbe nicht mit aufgenommen. In den anmerkungen führt er sie auf als
enthalten in einer pergamenthandsrlirift des 14. jh. der Leipziger Universitätsbiblio-
thek (Bibl. Paulin ms. n. 1219).
HALBEBSTÄDTER BRÜCKST. V. MACER 181
[xxxiij.] [Ejruca, witsempf, iz lieyz iu dem iUKU'reii grade,
vuchte in dem ersten, cruca gezzen in der spise dowet [bl. 4"'j avoI uude
hilfet gezzen den, die mit arbeyde pisset, genutzet vortribet ber den
liusten. mit bonige gestozeu vortribet ber de vlecken von der but
undo de riseue,^ ob mau sie mite bestriebet, der same gestozeu uude
mit wiue genutzet ist weder der uadereu stich gut oder swaz tbire
vorgift treit. der sameu mit ochsen galleu gestozeu vortribet die swar-
zen vlecken, da man sie austriebet, zu swelkem ezzeu mau daz crut
oder den samen tut, daz gibet guten smakeu. diz crut ist gut in
latche gezzeu.
[xxxiij.] Macer nr. 31. s. 70. Eruca v. 1016 — 1036.
Nach Choulant: Brassica eruca, Weisser Senf.
(Vgl. Silvat. cap. 372. fol. 109'' s. v. lergit arabice, grece euzonium {tvC(o/j,ov),
lat. eruca).
Erucam calidam dicunt mediocriter esse,
Siccam uon adeo. Cibus eins digerit escas
Et valet urinas haec mansa vel hausta movere.
Manditur utiliter pueris , tussimque repellit,
1020 Emundare cutem maculis cum melle iugatam
Traduut et muudos lentigine r edder e vultus.
Elixata prius radix valideque subacta
Ossibus et fractis superaddita detrahit illa.
Cum vino tritum si semen sumitur eins,
1025 Quosvis pestiferos ictus curare refertur.
Haec uigras maculas purgat cum feile bovino
Illita. Mira loquar, cum vino largius haustam
Indurare ferunt baue contra verbera sensum.
Si condituris coquus baue admisceat herbaui
1030 Aut semen, gratum dicunt praestare saporem,
Euzomonque soleut bac causa dicere Graeci
Erucam, succus quod gustu sit bouus eins.
Non modice mausam venerem stimulare vel haustam
Coufirmant pariter medici pluresque poetae.
1035 Est cum lactucis haec herba comesta salubris,
Namque calor dat temperiem cum frigore mixtus.
[xxiij.] 1) Die vergleichuug mit dem lateiiiischeu texte lehrt, dass risene
zur Übersetzung von lentigo dient, mithin die bedeutung ,, Sommersprossen" haben
muss. Demnach entspricht es dem althochd. rosmun, welches Graft" 2, 548 mit der
bedeutung lentigo aus dem Summarium Heinrici belegt. Schmeller (bair. wörterb.
ed. Frommann) 2 , 151 führt iu gleicher bedeutung auf mhd. und bair. : rosem,
182 G. SCHMIDT, HALBERSTÄDTEE BEUCHST. V. MACEE
rosra, mit den nebenformeu : resciii, ryseni, roßmeu, roßmuck, riesel, rüseleu. Und
Diefenbach, Glossarium latino-germanicum (Fcf. 1857) 8.324" s. v. lentigo fügt
noch hinzu die formen: rosmyu , ryßeln, ryselu, rosine, rusel.
[xxxiv.j [E]lleborum beizet wizworz/ die ist zwier liaude,
die eyne wiz uude subirth den inenscbeu ufwart, die andere swarz unde
subrit den menschen nidenvirt. sie sint beyde heyz unde trocken, die
witze ist sterker den die swarze, dur daz sage ich ir kraft alrest.
swen man de wizze wortz brenget an de hemelichen stat, so vortribet
sie daz tode kint. elborum gepulveret unde in de nasen getan machet
daz man niset. daz nisen vortribet die houbitsveren. elborum gepul-
veret unde mit gruzzen^ gemenget sterbit die muse unde daz mit
milch gemenget sterbit die vlegen.^ mit elleb[o]ro machet eine sube-
runge, ob ene die vorlazunge vortribet
[xxxiv.] Macer nr. 56. s. 101. EUeborus albus, v. 1774 — 1832.
Nach Choulant: Veratrum album, Weisse Nieswurz.
(Vgl. Silvat. c. 238. fol. 75 ^ s. v. Elloborus).
Elleborum geminas species testantur habere,
1775 Album, quod sursum purgat, nigrumque deorsum;
Vim siccam calidamque tenent et tertius illis
Est in utroque gradus; nigro violeutius album
Dicitur, unde prius dicam de viribus eins.
Suppositum quocunque modo depellit abortum,
178U Naribus attractus sternutanlenta movebit
lUius pulvis capitis pellentia morbos.
Miscetur confecturis , quae lumina purgant
Et multum prodesse ferunt vitiis oculorum.
Pultibus admixtus mures pulvis necat eius,
1785 Et cum lacte datus est muscis perniciosus.
Dicunt per vomitum varios educere sumptum
Humores, veteresque ferunt sie pellere morbos.
[xxxiv.] 1) 1. nieswurz 2) = mhd. grütze 3) Wenn man die fliegen ver-
treiben will, soll man niesswurtz in milch sieden und ihnen fürstellen, so viel
dann darvon essen, die müssen sterben; desgleichen mit meel vermischt, und den
mausen dargestellet, müssen sie auch sterben. Taberna^montanus Kräuterbuch.
Fcf. 1613. 2, 419 ^
J, ZACHER, ZU DEN lULMERSTÄDTER PREDIGTEN 183
ZU DEN HALBEKSTÄDTEK PKEDIGTBKUCHSTÜCKEN.
Die oben s. 129 fgg. mitgeteilten Halbevstädtei' prcdigtbruchstücke
waren kaum gedruckt, als mir der neue von professor Strobl in Czer-
nowitz herausgegebene zweite band von Bruder Bertholds Predig-
ten (Wien, Braumüller, 1880) zugieng. Zweckmässig erschien es des-
halb, hier sogleich anzuschliesseu, was sich mir aus diesem bände für
die Halberstädter texte alsbald ergab.
Die predigt ur. 39 dieses zweiten bandes (s. 24 — 32) hat der
herausgeber aus 5 handschriften geschöpft und überschrieben „wie man
wider reiten sol." Vergleicht man sie mit der predigt nr. 2 des ersten
bandes (s. 11—28), welche nur in der einen Heidelberger handschrift
nr. 24 erhalten, und von dem herausgeber, Fz. Pfeiffer, überschrieben
worden ist „von den fünf pfunden," so stelt sich das überraschende
ergebnis heraus: beide predigten haben denselben text Matth.25, 14 — 30,
und beide verwerten ihn ganz in derselben weise, sofern die 5 pfunde^
welche der getreue knecht auf 10 vermehrt hatte und dafür von seinem
harren belohnt worden war, gedeutet werden auf 5 dinge, die gott
jedem menschen anvertraut und anbefohlen hat, nämlich auf eigene
person, amt (beruf), vermögen, zeit, Verhältnis zum nächsten, und von
denen jeder erwachsene mensch, um zur ewigen Seligkeit zu gelangen,
doppelte rechenschaft geben muss. Auch sind beide predigten vor laien
gehalten, und beide an demselben tage, am gedächtnistage des heiligen
Alexius, und in beiden sagt der prediger, gott habe uns zwei grosse
bücher gegeben, das alte und das neue testament, den laien aber,
welche die bibel nicht lesen können, gleichfals zwei grosse bücher,
himmel und erde , demgemäss er gestern von dem himmel geredet habe
und heute von der erde handeln wolle; ein jeder möge nun durch sei-
nen eigenen leib, durch die eigenen je fünf finger, fünf zehen usw.
sich beständig an die fünf pfunde und die damit verknüpften pflichten
mahnen lassen. Weiter stimmen dann auch in der ausführung des
einzelnen beide predigten vielfach überein, nicht nur in den gedanken,
sondern auch in werten und Wendungen; doch zeigen sie hierin auch
mancherlei abweichungen von bald geringerer , bald erheblicherer bedeu-
tung und ausdehnung, derart, dass die zweite predigt des ersten ban-
des 18 druckseiten befasst, mithin grade doppelt so lang ist als die
nur 9 Seiten füllende 39. des zweiten bandes.
Aus diesen Wahrnehmungen ergibt sich die Schlussfolgerung, dass
uns in den beiden predigten nr. 2 und nr. 39 nach aller Wahrschein-
lichkeit nur zwei verschiedene aufzeichnungen einer und derselben pre-
184 J ZACHEK
digt vorliegen, wie sie eben von zwei verschiedenen zuhörern aus der
eriunerung niedergeschrieben worden waren. ^
Oben hatte ich das Halberstädter erste briichtück neben die
zweite predigt des ersten baudes gehalten; nun aber stelt es sich
heraus, dass es nicht zu jener längeren aufzeichnung gehört, sondern
fast wörtlich übereinstimt mit der in der 39. predigt des zweiten
bandes vorliegenden kürzereu gestalt, und zwar am nächsten mit dem
Wortlaute der Donaueschinger handschrift ur. 292 (D), w^elche nach
Strobls angäbe (s, XII) für ein Franziskanerkloster bestimt gewesen ist.
Die erste zeile des ersten Halberstädter bruchstückes entspricht
der zeile 29, 18 der Stroblschen ausgäbe, so dass mithin vor dem
beginne des Halberstädter bruchstückes 5 druckseiten dieser predigt
verloren sind.
Ich lasse jezt einfach diejenigen stellen des Stroblschen textes
folgen, in welchen der Halberstädter text (H) durch den Stroblschen (S)
berichtigt, aufgeklärt, oder auch irgendwelchem bedenken gegenüber
bestätigt wird.
H. 130, 12 =: S. 29, 37. weder giimpelvolke noch spilmannen
1) Strobl sucht (2, 563. 568 fg.) darzutun, dass die 39. predigt im jähre 1261
am 17. juli, dem gedächtnistage des heiligen Alexius, gehalten worden sei. Für
die in ihr erwähnte predigt vom vergangenen tage, welche vom himmel gehandelt
habe, könten unter den gedruckten predigten dieser beiden bände zunächst zwei in
betracht kommen, die eine von den sieben planeten, die andere von den sieben
Sternen des wagens, oder des grossen baren. Die erste von diesen beiden, die-
jenige von den sieben planeten, ist widerum in doppelter aufzeichnung vorhanden,
in einer ausführlicheren 17 druckseiten befassenden als nr. 4 des ersten bandes
(s. 48 — 64), und in einer kürzeren, nur 4V2 selten füllenden als nr. 61 des zwei-
ten bandes (s. 233 — 237). Die ausführlichere aufzeichnung lässt (s. 58) den pre-
diger sagen: Wan der sitzet maniger vor minen ougen, der iezuo hundert pfunt-
solte hän von sinen arbeiten , der hat so vil niht , daz er sich des frostes müge
ernern. Und ist maniger da her geloufen in disem kalten rifen barfuoz in vil
dünner waete. Nach dieser äusserung könte die predigt von den sieben planeten,
bei welcher dürftig bekleidete zuhörer vom reife bedrängt froren, nicht am 16. juli,
in der zeit der Sommerhitze, gehalten worden sein. — Die andere dieser beiden
predigten, no. 11 des ersten bandes (s. 157 — 169), ist nur erhalten in der Hei-
delberger handschrift nr. 24, und dort überschrieben ,,Von dem wagen. Justum
deduxit dominus." Unter diesem texte mag wol geraeint sein Sapientiae 10, 10:
,,Haec (sapientia) profugum irae fratris justum deduxit per vias rectas, et ostendit
illi regnura dei." etc. In dieser predigt heisst es (s. 164): ,,Unde wser ez daz ein
dinc mügelich wsere, daz unser frouwe, min frouwe sante Maria gotes muoter, daz
diu iezuo da üf der schoenen wisen wsere und alle die heiligen und alle die engele
die ie wurden, ob daz mügelich waere daz sie da die witen haeten" usw. Darnach
scheint diese predigt zu sommerlicher zeit gehalten worden zu sein , auf oder neben
einer schönen wiese, und mithin könte sie möglicherweise diejenige sein, welche
der predigt von den fünf pfunden am 16. juli vorangegangen ist.
zu DEN IIALBERSTADTER PBEDIGTEN 185
H. 131, 7 = S. 30, 18. und wil den iiiauen ganz machen
H. 131, 10 = S. 30, 22. Pfi roiiber, waz lihoi ir disen (armen D)
gotes kinderu , diu hie sitzend vor minen ougcn ! (diu — ougen fehlt D).
H. 131, 13 = 30, 25. und daz reht diu stauge nider bresten
möhte.
H. 131, 18 :== S. 30, 31. „So geturreu wir vor unseru wirten uiht
anders geben wan unser gewant." Vil wunderlichen balde hin (hin
fehlt D), gebeut cz uml)0 pfenuinc; wan des ir ze rehter not bedürfet,
so gebent daz ander hin umbe pfenninc, und lihent armen liuten durch
got (so gebeut — durch got fehlt D). Ja helfent einen etew^enne sehs
pfeuninc also wol, der sie im lihet, als der sie im umbe sust gsahe.
H. 131, 24 = S. 30, 38. werbent also umbe gotes hulde
H. 131, 25 = S. 31, 1. Daz fünfte pfunt, da wir gote von wider
reiten müezeu an dem jungesten tage, daz ist von unserm eben-
kristen.
H. 132, 16 = S. 31, 21. Nu seht, daz ist also: diu ebenkristen
der dir niht entuot, dem soltü weder nit noch haz tragen durch got,
und dem der dir leit hat getan , daz du den in got liep habest , also
daz du in niemer also liep habest daz du iemer me toetliche sünde
tuest durch sinen willen.
H. 132, 23 = S. 31, 29. wan daz ist (allez D) unrehtiu liebe.
H. 133, 1 = S. 31, 38. und seht alle tage an hende und an füeze
H. 133, 10 ^ S. 32, y. du enwoltest danne gelten und wider
geben.
H. 133, 14 = S. 32, 14. zem ersten male an iuwerm libe und
an iuwerm amte und au iuwerem guote und an iuwer zit (und a. i. zit
fehlt D) und an iuwerem ebenkristen
H. 133, 24 ^= S. 32, 25. als da ein vogel (ein engel D) fliuget
in den lüften
Das dritte Halberstädter stück, die predigt von den vier vasen
der himelvürsten (oben S. 134 fgg.) findet sich gleichlals in dem Strobl-
schen bände, jedoch nicht unter den predigten Bertholds, sondern als
nr. II des anhanges C (s. 692 — 694). Die beiden stücke dieses anhan-
ges hat Strobl (nach seiner augabe auf s. XIV) aus der Müncheuer
handschrift cod. Emm. ur. 5 (E) entnommen , welche auch die sechs
predigten nr. 66 — 71 dieses bandes enthält, die Strobl als klosterpre-
digten bezeichnet uud au den schluss der Bertholdschen predigten
gestelt hat.
Die vergleichung beider texte zeigt, dass der Halberstädter text
zwar im algemeinen älter und correcter ist als der Münchener, dass
186 J. ZACHEK
aber andrerseits seine verderbten, zweifelhaften oder bedenklichen stel-
len doch auch widerum durch den Münchener heilung oder aufklärung
erhalten. Ich lasse deshalb die erheblicheren derartigen stellen nach
dem Wortlaute des Münchener textes, wie er bei Strobl gedruckt ist
(S), hier folgen.
H. 134, 23 = S. 692, 28. so ie hoher lute
H. 130, 30 = S. 692, 34. wan si sint reht fursten über si, unde
ist in doch allen gar wol. Unde war elliu werltlichiu froude, die alle
chunige unde alle cheiser unde alle menschen ie gewunnen, bei einan-
der, daz war niht als ein punht wider die freude, die ein geistleich
mensch hat in dirre werlt, der rehteu geistlichen trost hat.
H. 135, 3 = S. 693, 5. Unde die freude alle, die alle gut lut
unde die nider engel habent, daz ist als ein tropfe wider die freude,
die die hohsten hiligen habent
H. 135, 9 = S. 693, 11. Unser herre het vierlay volch in der
alten e.
H, 135, 15 = S. 693, 16. se hutent sich halt vor tseglichen
Sunden.
H. 135, 25 = S. 693, 25. dester e
H. 136, 2 = S. 693, 30. so werdent die ünden oben hin in
slahen.
H. 136, 17 = S. 693, 43. unde ergebent sich im doch niht gar.
Sie habent etlich heimlich mit got.
H. 136, 20 = S. 693, 46. Anni nostri etc. (Demnach scheint
gemeint zu sein Ps. 89, 9. Quoniam omnes dies nostri defecerunt, et
in ira tua defecinms, anni nostri sie ut aranea meditabuntur.)
H. 136, 23 = S. 694, 1. So sis daune gevahet, so izzet si weder
houpt, noch fuoz, noch niht, des an dir (1. ir) ist, niwan ein feizt hat
si under herzen, daz souget si ir uz so ist si tot. Also tuot der tie-
vel. Alle die striche, die er vns gelegen mach, daz ist niwan darumb,
daz er uns dri fron veizt von dem hertzen nem.
H. 136, 29 ;= S. 694, 7. wi er wol uns hab angesiget unde lat
uns denne wol uzzer arbeit tuen, des aht er niht vil, swenne wir ez
von gantzer minue niht tuon. Wan swaz wir denne anders tuon daz
ist chranch.
H. 136, 33 = S. 694, 10. unde gar vil gebetent
H. 136, 34 = S. 694, 11. gnaden git
H. 137, 1 = S. 694, 12. untz si gevahent den grünt
H. 137, 2 ^= S. 694, 13. daz si sich aller menschen böst habent,
wan got sprach
H. 137, 3 = S. 694, 14. so sitz
zu DEN HALBKRSTÄDTER PREDIGTEN 187
H. 137, 6 :=: S. 694, 17. der liet sich an der iimgesten stat. Do
ez sineiu briuler einem
H. 137, 9 := S. G94, 19. daz ich ez nie meusclien
H. 137, 10 ^= S. 694, 20. Dar nach traget er in sant Francis-
sen , für wen er sich het.
H. 137, 15 = S. 694, 24. genad getan
Dem vierten Halberstädter stücke (oben s. 137) endlich ent-
spricht die GS. Bertlioldische predigt (s. 265 fg.), oder die dritte
derjenigen sechs predigten, welche Strobl als Idosterpredigten bezeich-
net und an das ende der samlung gestelt hat. Aus dem Inhalte dieser
predigten und aus einzelnen in ibnen vorkommenden äusserungen
schliesst Strobl (s. XIII) , dass sie in der klosterkirche eines frauenklo-
sters der Franziskaner gehalten worden seien. Die dritte predigt hat
Strobl entnommen aus einer Wiener handschrift nr. 2829 (W.) , und
aus zwei Münchener handschriften, aus Cod. Emm. m. 5 (E) und aus
Cgm. 210 (e).
Ich lasse widerum diejenigen stellen des Stroblschen textes fol-
gen, welche für den Halberstädter (der am nächsten zu E stimt) eine
bedeutsamkeit haben.
H. 137, 28 = S. 265, 3. grozer arbeit
H. 137, 29 = S. 265, 4. der sich nider \xt in sinem hüse
H. 137, 30 = S. 265, 5. daz er künic werde, und dar nach so
zert er ouch.
H. 137, 31 = S. 265, 6. der selben einen
H. 137, 33 = S. 265, 8. er ist aber als kreftic noch nicht, noch
als menlich, daz si diu werc volbringen mügent. Von den so sprichet
der wissage
H. 138, 2 = S. 265, 11. daz si si
H. 128, 4 = S. 265, 13. Si gedenkent in dicke, wie lange wilt
du ein leckerinne sin, nim dich an (ein lacherinne sein und ein chla-
ferinne E).
H. 138, 7 ^= S. 265, 16. gedenkent si in ofte — und schiebent ez
doch üf
H. 138, 11 = S. 265, 21. daz ist hiute, diu zil daz ist morgen,
daz ist aber so guot niht.
H. 138, 14 ^= S. 265, 22. daz sint die, die diu guoten werc
volbringent, si tuont si aber niur durch üppige ere. Als diu meister-
schaft hinz derselben einem spreche „tuo daz" „ich mac iuz niht (sin
niht E) getuon," „nü sich, nü kumt nieman rehter dar zuo, danuQ
188 J. ZACHER, ZU DEN HALBERSTÄDTER PREDIGTEN
du" (so spricht div maisterschaft ez chuint uieman als recht darzuo
danne tu. E).
H. 138, 19 = S. 266, 2. Die geistlicheu liute, die da hoch vor
gote sint, daz sint die, die diu dri dinc behaltent
H. 138, 21 ::= S. 266, 5. daz der mensche versmaehe
H. 138, 22 = S. 266, 5. daz er läze daz guotelach, daz geluste-
lach. (daz er hazze daz got hazze daz glustlichen (glustleich sei W)
EW).
H. 138, 29 = S. 266, 13. M seht
H. 138, 31 = S. 266, 15. du solt gedultic sin gen gote, swenne
er über dich verhenget siechtuomes betrüebesal (du solt — gote fehlt;
swenne got üb. d, v. sichtum unde trubsal. E).
H. 138, 32 = S. 266, 17. swenne er dich bekort
H. 139, 5 = S. 266, 22. ich wil dir ein jär
H. 139, 8 = S. 266, 26. Daz dritte (ist fehlt).
H. 139, 9 = S. 266, 27. Din sele muoz immer etewaz minnen
(din — minnen fehlt E), wan si nach der oberisten minne geschaf-
fen ist.
H. 139, 12 = S. 266, 31. so verziunet (verrunt E) man alle
die wege
S. 139, 17 = S. 266, 35. La3st du dine minne sich niendernt
neigen üf irdischiu dinc
S. 139, 19 = S. 266, 37. einer also ist (also fehlt Ee)
S. 139, 21 = S. 266, 39. die got liep habent. (die doch got alle
liep sint. E).
Aus dieser jezt erst möglich gewordenen vergleichung der Hal-
berstädter bruchstücke mit dem zweiten bände von Bertholds predig-
ten ergibt sich die folgerung, dass jene bruchstücke aus einem hand-
schriftenbande stammen mögen, der wahrscheinlich für ein norddeut-
sches Franziskaner frauenkloster geschrieben worden war, und eine
samlung von predigten Bruder Bertholds enthielt in der kürzeren
fassung, wie alle handschriften ausser der Heidelberger nr. 24 sie dar-
zubieten scheinen. Und ferner hat sich dadurch auch herausgestelt,
dass der text der Halberstädter bruchstücke , wenngleich mit zahlreichen
und zum teil auch üblen Schreibfehlern behaftet, dennoch im gan-
zen wertvoll ist und der ursprünglichen aufzeicbnung noch ziemlich
nahe steht.
HALLE, JUNI 1880. J. ZACHER.
189
MACER FLOEIDUS
UND DTE ENTSTEHUNG DER DEUTSCHEN BOTANIK.
Maeer Floridiis ist die je/,i übliche beneimiing eiiios 2269 reim-
lose hexameter befassenden lateinischen werkes, welches in 77 kapiteln
die heilkräftc von ebenso vielen pflanzen behandelt. Nach seinem ersten
verse zn schliessen , welcher lantet
Herbarum quasdam dicturus carmine vires
scheint des werkes eigentlicher und ursprünglicher titel gelautet zu
haben: De viribus herbarum, oder auch, nach einer damals üblichen
ausdrucksweise . De uaturis herbai'um. Wo und wann der nebentitel
Macer Floridus zuerst vorkomme, ob er schon vom Verfasser selbst
ausgegangen, oder aber von einem anderen hinzugefügt sei, ist nicht
festgestelt. Ernst Meyer vermutet, ^ er solle „etwa so viel bedeuten
wie Aemilius Macer redivivus, ein neuer, neu aufblühender Macer,"
also gleichsam eine nachahmung oder ergänzung der medicinischen
gedichte des im jähre 15 v. C. verstorbenen Aemilius Macer, eines
freundes von Tibull, Virgil und Ovid.^ Nach den bis jezt vorliegen-
den unvolkommenen und ungenauen angaben zu urteilen scheint die
bezeichnung Macer am frühesten, schon um den beginn des 12. Jahr-
hunderts, aufzutauchen, und meistens allein vorzukommen, und die
benennung Floridus scheint erst etwas später, und almählich immer
häufiger daneben zu treten. Da nun die bezeichnung Floridus im
12. Jahrhunderte als büchertitel begegnet für eine excerptensamlung,
mithin ungefähr in der bedeutung blumengarten oder blumeniese, =^
dürfte wol auch eine andere deutuug der beiden benennungen zulässig
erscheinen. Unter der bezeichnung Macer könte gemeint sein, dass
das gedieht seinem inhalte und zwecke nach sich den medicinischen
gedichten des Augusteischen Aemilius Macer anreihe oder vergleiche,
und durch die benennung Floridus könte angedeutet sein, dass es sei-
1) Geschichte der Botanik. Königsberg 1856. 3, 429.
2) Von seinen hexametrischen lehrgedichten nach Nikander, Ornithogonia,
Theriaca, und wahrscheinlich auch einem botanischen, de herbis, sind zwar nur
ver.streute kleine bruchstücke erhalten, aber des dichters namen und den gegen-
ständ seiner gedichte konte man im mittelalter wol kennen aus der angäbe bei
Ovid, Trist. 4, 10, 43:
Saepe suas volucres legit mihi grandior aevo
Quaeque necet serpen.s, quae luvet herba, Macer.
Vgl. Teutfel , gesch. d. röm. lit. 3. a. Lpzg. 1875. § 223. s. 454 fg.
3) Ein bekantes älteres beispiel ähnlichen titeis sind die Florida Apuleji , eine
excerptensamlung aus den Schriften oder vortragen des Apulejus Madaurensis. Vgl.
Teuffei, gesch. d. röm. lit. 3a. §367, 2 s. 857.
190 J. ZACHER
nem Charakter nach eine samlung oder ein auszug des besten ans den
vorzüglichsten und angesehensten werken der berühmtesten meister der
arzneimittellehre sei. Und es ist ja in der tat auch ein blosses Sam-
melwerk, geschöpft zumeist aus Schriften, die damals höchste und
algemeinste geltuug genossen, aus lateinischen bearbeitungeu des Dios-
korides , Galen , Oribasius , aus Plinius und aus einigen anderen gewährs-
männern von damals unbestrittener glaubwürdigkeit.
Wann, wo und von wem dieser Macer Floridus verfasst worden
ist, hat sich noch nicht mit voller gewisheit ermitteln und feststellen
lassen. Es wird darin genant der im jähre 849 gestorbene Walafrid
Strabus, das buch selbst aber wird mit dem verfassernamen Macer
erwähnt von dem im jähre 1112 gestorbenen Sigebertus Gemblacensis
in seinem büchlein von den kirchlichen Schriftstellern.^ Zwischen diese
beiden endpuukte muss mithin seine abfassung fallen. Der Verfasser
prunkt mit anführung von gewährsmännern ; er nent als solche über
zwanzig griechische und lateinische Schriftsteller, aber keinen arabi-
schen, auch nicht Constautinus Africanus, und keinen Salernitaner.
Auf diese und andere merkmale gestüzt hat E. Meyer ^ vermutet , dass
das werk von einem laien in Unteritalien gegen ende des 9. Jahrhun-
derts , kurz vor den anfangen der Salernitanischen schule verfasst wor-
den sei. Valentin Rose dagegen^ sezt seine entstehung ins 11. Jahr-
hundert, und lässt als seinen Verfasser einen Odo Magdunensis (von
Meun-sur- Loire) gelten, einen französischen laien,* der in einigen
alten handschriften als solcher genant werde. Nach dem eindrucke,
den das gedieht selbst auf ihn gemacht hat, wäre er sogar geneigt,
es lieber mit de Renzi ^ erst ins 12. Jahrhundert zu setzen. Häser ^
stimt der ausführung Roses bei, und sezt die abfassung in den anfang
des 12. Jahrhunderts.
Der Macer Floridus hat alsbald sehr grossen und bis über das
mittelalter hinaus andauernden beifall und weite Verbreitung gefunden.
1) De scriptoribus ecclesiasticis c. 13: „Macer scripsit metrico stilo librum
de viribus herbarum." Nach E. Meyer, gescb. d. botan. 3, 432.
2) Gesch. d. botan. 3 , 431,
3) Im Hermes, herausg. von E. Hübner. Berlin 1874. 8, 63.
4) Ein laie braucht es freilich nicht gewesen zu sein ; denn der von Meyer
angegebene grand für den italienischen laien fält für den Franzosen weg, und der
Lapidarius des Marbod (ein gedieht verwantcn Charakters, über die heilkräfte der
edelsteine) ist so wenig geistlich, dass die Benedictiuer sich veranlasst gesehen
haben in der Histoire litterairo de la France den geistlichen herren wegen abfas-
sung eines so ungeistlichen gedichtes zu entschuldigen.
5) Collectio Salernitana. Napoli 1852. 1, 213.
6) Lehrbuch der geschichte der medicin, 3. bearb. Jena 1875. 1, 638.
MACER UND DIE DEUTSCHE BOTANIK 191
Über hundert seiner hoxameter sind bereits aufgenommen worden in
das berühmte und alverbreitete Kegimen sanitatis Salernitanum , wel-
ches zu anfange des 12. Jahrhunderts entstanden zu sein scheint, und
noch Theophrastus Paracelsus (f 1541) hat einen commeiitar zu seinen
ersten 37 capiteln verfasst. ^ Handschriften des lateinischen Werkes
sind vom 12. Jahrhunderte ab zahlreich vorhanden; gedruckt ward es
zuerst zu Neapel 1477, und seitdem ward es noch über zwanzigmal
herausgegeben, zulezt und am besten durch Ludw. Choulant,^ mit rei-
chem kritischem apparate und wertvollen beigaben.
Eine dänische bearbeitung verfasste der im jähre 1244 verstor-
bene canonicus des stiftes Koeskilde, Henrik Harpestreng.^
Auch ins deutsche ist Macer bereits im 13. Jahrhundert übersezt
worden, und darnach, wie es scheint, nochmals im 14. Jahrhunderte.
Auf diese deutschen bearbeitungen und ihren wert nachdrücklich und
kundig aufmerksam gemacht zu haben ist das verdienst von Josef
Haupt. ^ Zunächst auf Wiener handschriften gestüzt unterscheidet
Haupt zwei textgestaltuugen , beide in mitteldeutscher spräche, die er
für zwei verschiedene Übersetzungen hält, die eine aus dem dreizehn-
ten, die andere aus dem vierzehnten Jahrhunderte. Verbunden mit
einer aufzählung und besprechung der Wiener handschriften teilt er
auch kurze proben aus beiden gestaltungen mit zur veranschaulichung
und vergleichuug.
Weil der deutsche Macer noch ungedruckt und noch so gar wenig
bekant und beachtet ist, wird es nicht überflüssig sein, im anschlusse
an Haupts abhandlung die handschriften aufzuzählen , so weit ich bis
jezt von ihnen kentnis erlangt habe.
1) Wien. Nr. 2524. Octav. Pergament. 13. jahrh. Enthält
bl. SB"" — 41'' die ältere gestalt. Voran geht eine vorrede, deren anfang
lautet: „Tucipit liber de naturis herbarum. — Swer der wrce nätüre
unde ir craft irkenne wil Der muz wizen waz die arcetbuch sprechen
von uirhande nätüren. Di erste ist warm Di andere kalt Di dirte
fücht Di virde trocken. Di arcetbuch segen uns von uir greten der
1) Paracelsus, Bücher und Schriften, herausg. von J. Huser. Basel 1589 fgg.
4«. 1, 1070 — 88. Vgl. Macer ed. Choiilant s. 4. Häser 1, 639.
2) Macer Floridus de viribus herbarum . . recens. Lud. Choulant. Lips. 1832.
3) Henrik Harijestrengs danske Laegebog fra det trettende Aarhundrede, udg.
ef Christ. Molbech. Kiobh. 1826. 8«, in 220 exemplaren gedruckt. — Vgl. Chou-
lant, histor. litterar. Jahrbuch f. d. deutsche raedicin. 2. jahrg. 1839. s. 125 fgg. —
Me)'er, gesch. d. bot. 3, 537 fgg.
4) Über das mitteldeutsche arzneibuch des meisters Bartholomaeus. Wien
1872. (Aus: Sitzungsber. d. phil. hist. cl. der kais. akad. d. wiss. 1872. bd. 71.
s. 451 - 566.)
192 J. ZACHER
nätüre. Der erste grät der ist so man sprichet warm Der andere wer-
mer Der dirte aller wermest. Der virde grät ist so mau sprichet wer-
Dier den aller wermest. usw. ~ Von einer entsprechendeu vorrede des
lateiuischen texles findet sich in Choulauts ausgäbe keine spur. Sie
scheint demnach von dem deutschen bearbeiter hinzugefügt zu sein, als
vorausgesante erkläruug der bei den einzelnen pflanzen stets widerkeh-
renden derartigen angaben. • — Dahinter folgt dann der eigenthche
text, anhebend mit 1. von dem biboze (artemisia), aber schou abl)re-
chend mit 20. von der salbeien (salvia).
2) Wien. Nr. 5305. Papier. XV. jahrh. Enthält bl. 317"— 334*
den volständigeu text der älteren gestalt, wovon jedoch das erste blatt
verloren ist, welches die vorrede und den anfang von biboz enthielt,
und dann noch ein l)latt zwischen 326 und 327.^ Die zahl der kräu-
ter beträgt 90, und schliesst mit 90 cerui boletus hirz swam.
3) Rom. Vaticana. Nr. 4847. Quart. Papier. 15. jahrh., beschrie-
ben im Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit. Neue folge. 2. jahrg.
1854. Juli. nr. 7. sp. 184 — 186, aber hier nicht als Macer erkaut,
und auch nicht von Haupt genant. Diese handschrift ist uuverkenbar
ein gegenstück zu der Wiener nr. 5305. Sie enthält (bl. 244'), mit
unerheblichen, meist erweiternden abweichungeu , dieselbe vorrede wie
die Wiener handschr. uo. 2524: „Wer der wurtz nature vn ir kraft
erkennen wil der muz wizzen dz die artz pücher sprecheut von vier
haut natur die erst ist warm die ander kalt, usw.," begint dann mit:
„1. Arthimesia haizt biboz" und schliesst (bl. 225 '') mit: „90. Cerui-
boletus hirzsv^amm." Die vorede , der anfang des ersten , und das
lezte kapitel sind im „Anzeiger" (a. a. o.) abgediiickt.
4) Wien. Nr. 2977. Papier. XIV. jahrh. Enthält bl. 147*^ — 171'^
die ältere textgestalt, aber unvolständig und in gestörter Ordnung, nur
die vorrede und 32 pflanzen.
5) Wien. Nr. 14545. Papier. XV. jähr. Enthält bl. 13" — 20^
nur einen auszug aus der älteren textgestalt, in derselben kapitelfolge
wie nr. 2 (= Wien. 5305).
6) Wien. Nr. 2962. Papier; wahrscheinlich XV. jahrh. Enthält,
nach Haupts angäbe (s. 86) auf bl. 60''- 85"', „die zweite deutsche
1) In dieser handschrift finden sich, nach Haupts angäbe (s. 47) folgende
beachtenswerte eiuzeiehimngen. Auf bl. 317, von einer band des 15. jahrh.: ,, Macer
de virtutibus herbarura theutonice . . . erifordie a Nycolao venditore libroruni circa
gradus beato niarie virginis 1460." und : ,,In hac eciam liberaria parua contiuetur
et habetur eciam Macer metricc Raymundus uietrice et alia in vno paruo volumine
et pergaraenio." und bl. 381 : ,, Iste über pcrtinet Gerhardo In Curia de Elderka Reni
coloniefi. dyocesis et dominii quem Emit Erffordie Anno 1479."
MACER UND DIE DEUTSCHE BOTANIK 193
bearbeitiing ," aber unvolständig, in gestörter Ordnung untermengt mit
anderen lateinischen stücken , und nachlässig geschrieben , beschränkt
auf 37 pfianzen,
7) München. Cgm. 376. 4«. XV. jahrh. bl. 114 — 170: „Macer
de viribus herbarum, deutsch."
8) München. Cgm. 133. 4». XV. jh. bl. 1 — 102: „Macerde
viribus herbarum, deutsch."
9) München. Cgm. 722. 4». XV. jh. bl. 79 — 131 : „Macerde
viribus herbarum , deutsch." ^
10) Frankfurt am Main. „Macer de herbis, germanice. 12".
... in plagula 279 legitur: anno 1394 die 12. mensis Nouembris."
Erwähnt, ohne angäbe des aufbewahrungsortes und der Signatur, und
ohne genauere beschreibung, von L. Diefenbach in seinem Glossarium
latino-germanicum. Francof. a. M. 1857. s. XIII. unter nr. 4. — Der
auf s. 115'' daraus entnommene pflanzenname „ Ceruiboletus , hyrsis-
swam" stimt zu nr. 31 unserer bruchstücke = nr. 90 sowol der Wiener
haiidschr. nr. 5305 wie auch der Vaticanischen. Darnach lässt sich ver-
muten , dass diese Frankfurter handschrift die ältere textgestalt enthält.
11) Breslau. Eliedigersche Bibliothek (jezt mit der Stadtbibliothek
vereinigt) „XXXII. germ. lib. IX." ^ Pergament. XIV. jahrh., 152 zwei-
spaltig geschriebene bl. in folio. — Auf diese sehr reichhaltige und
wichtige handschrift hat zuerst Hoffmann von Fallersleben aufmerksam
gemacht in seinen Fundgruben für geschichte deutscher spräche und
litteratur. Breslau 1830. 1, 317 — 327, ihren Inhalt ganz kurz ange-
geben und einige proben daraus mitgeteilt Dann hat Jos. Haupt in
seiner vorerwähnten abhandlung ihren hauptsächlichsten und wichtig-
sten Inhalt kundiger und genauer bestimt und seine bedeutung klarer
dargetan. — Sie enthält bl. 1 — 93 nach Haupt: „ein grosses metho-
disches werk" (in deutscher spräche), „welches in seinen vier büchern
den kreis der medicinischen Wissenschaften , wie er im mittelalter
umschrieben war, volständig erschöpft." Dies methodische werk war
zusammengestelt „nicht nur aus den griecliischen und lateinischen
1) Die angaben über 7 — 9 sind entnommen aus dem cataloge ,,Die deut-
schen Handschriften der K. Hof- und Staatsbild. zu München nach J. A. Schniel-
lers kurzem Verzeichnis. München 1866.
2) Diese von Hoffmann nicht angegebene Signatur entnehme ich aus: Heu-
schel, Synopsis chronologica scriptorum medii aevi medicorum ac ph^ysicorum quae
codicibus bibliothecarum Vratislavieusium continentur. Vratisl. 1847. A". (Jubel-
programm für Remer.) s. ll''. — Fruchtlos ha1)e ich mich bemüht einen anderen
catalog Henschels zu erlangen : Catalogus codicuni medii aevi medicorum ac physi-
corum qui manuscripti in bibliothecis Vratislaviensibus asservantur. Particula I.
Vratislaviae 1847. ap. Ed. Trewendt, in commissi» .
ZKITSCHR. F. DEUTSCHF. PHILOLOGIE. I!D. XII. 13
194 J. ZACHER
autoren des altertums, sondern auch, und zwar überwiegend, aus den
arabischen Schriftstellern , wie Averroes , Mesue u. dgl. , neben denen
dann vorzüglich Platearius und Nicolaus Praepositus die hauptquellen
sind. Aus dem lezteren ist besonders das vierte buch genommen." ^ —
Weiter folgt bl. 93 — 114, wie es scheint, ein methodischer auszug
aus der Practica des Bartholomaeus.^ — Dass der folgende abschnitt,
bl. 122" — 146'' „heilkräfte verschiedener kräuter" mit „Aemilius
Macer übereinstimme" hatte schon Hoflfmann bemerkt, ohne jedoch
näher darauf einzugehen. Es ist eine Übersetzung des Macer Flo-
ridus, und eine sehr charakteristische stelle daraus, welche Hoflfmann
aufgenommen hat in das dem ersten bände der Fundgruben angehängte
glossar, s. 358 s. v. alp: „der rouch von der holwurtz vertribit den
alp oder ungehüren." stimt genau zu der entsprechenden stelle in
cap. VI. (Aristolochia) der hier gedruckten bruchstücke. — Endlich
folgen in dieser Rhedigerscheu handschrift von bl. 146 — 152 noch
einige auf apothekerwesen und verschiedene heilmittel bezügliche
abschnitte.
Zu diesen 11 handschriften würde eine durchstöberung von cata-
logen und bibliotheken wol noch einen reichlichen Zuwachs ergeben,
zumal wenn auch auf solche geachtet würde, in denen das werk ohne
titel oder verfassernamen erscheint, und deshalb leicht übersehen wer-
den kann. Aber schon aus den wenigen und spärlichen nachrichten,
1) Auch die übrigen ihm bekant gewordenen handschriften dieses noch uuge-
druckten werkes hat J. Haupt aufgeführt und eingehender besprochen. Die wich-
tigsten darunter sind eine Wiener (ur. 13647. Perg. XV. jh.), und eine des Chor-
herren - stiftes zu Kloster -Neuburg (Pgm. XII. jh. 137 bll.). Von dieser lezteren
hatte Diemer abschrift genommen, und diese abschrift ist als ,,Diemers arz-
neibuch" im mhd. wörterbuche von Müller und Zarncke (2, 1, III) und im mhd.
handwörterbuche von Lexer (1, XV) unter den benuzten quellen aufgeführt.
2) Bartholomaeus gehört zu den „bemerkenswertesten Salernitanern der
zweiten hälfte des 11. Jahrhunderts." Sein hauptwerk ist betitelt: Introductiones et
experimenta in practicam Hippocratis, Galieni, Constantini, graecorum medicorum,
und ist als „Bartholomaei Salernitani Practica" nach einer handschrift der Marcus-
bibliothek in Venedig gedruckt in de Eenzis Collectio Salernitana 4, 321 — 408.
Diese Practica ward schon im 13. jahrh. in das Hochdeutsche, Niederdeutsche und
Dänische übertragen. Häser kent bereits elf hochdeutsche handschriften. Gewöhn-
lich aber bildet für die mittelalterlichen deutschen arzneibücher die Practica des
Bartholomaeus ,,nur den grundstock, neben welchem noch andere quellen benuzt
sind." — Häser, gesch. der med. 1, 663 fgg. Jos. Haupt, über das mitteldeutsche
arzneibuch des meisters Bartholomaeus. Wien 1872, worin s. 69 fgg. 16 handschriften
und bruchstücke aufgezählt werden, und ferner erwiesen wird, wie wenig die aus-
gäbe von Pz. Pfeiffer genügen kann, welche den titel führt: Zwei deutsche arznei-
bücher aus dem 12. und 13. jahrlmndert. Wien 1863 (= Sitzungsberichte usw.
bd. 42.).
MACER UND DIE DEUTSCHE BOTANIK 195
welche über die 11 hier aufgezählten handschriften vorlagen, hat sich
mit hoher Wahrscheinlichkeit der scliluss gewinnen lassen, dass die
hier abgedruckten bruchstücke zur ältesten deutschen Übersetzung
des Macer gehören.^ — In der reihenfolge der capitel zeigen, nach
Choulants angäbe , schon die lateinischen handschriften mancherlei Ver-
schiedenheiten; die deutschen scheinen hierin noch stärker untereinan-
der abzuweichen. In unseren bruchstüchen ist die capitelfolge in eine
ungefähre alphabetische Ordnung umgesezt.
Mac er Floridus ist nicht eine in der litteratur vereinzelt und
vereinsamt dastehende erscheinung, sondern andere werke verwanten
Charakters und Zweckes sind ihm vorausgegangen und nachgefolgt.
Deshalb scheint es zweckdienlich, wenigstens auf einige der wichtig-
sten und wirksamsten unter diesen einen raschen blick zu werfen.
Unter den dem Macer vorangegangenen sind zwei werke von
unbekanten Verfassern hervorzuheben, deren eines unter dem nameu
des Plinius, das andere unter dem des Apulejus umlief.
Das ältere dieser beiden werke, welches jezt als Ps endo -Pli-
nius, oder Medicina Plinii, oder Breviarium Plinii bezeichnet
wird , ist wahrscheinlich in der ersten hälfte des vierten Jahrhunderts
entstanden, und ist im wesentlichen ein auf die heilwirkuugeu von arz-
neipfianzen sich beschränkender auszug aus der Historia Naturalis des
Plinius mit wenigen anderswoher entnommeneu Zusätzen , verfasst zu
dem in der vorrede ausgesprochenen zwecke, reisenden als band- und
hilfsbuch zu dienen , um diese von teuren unbekanten ärzten unabhängig
zu macheu. Deshalb sind alle ausländischen, entlegenen und teuren
arzneistoffe weggelassen und auch die frauen- und kinderkrankheiten
übergangen. Geordnet ist das material nach den krankheiten , und zwar
so , dass das erste und zweite buch die mittel gegen die krankheiten der
einzelnen glieder, vom köpfe herab bis zu den füssen enthält, das dritte
darauf die mittel gegen solche krankheiten , die nicht auf einzelne glie-
der beschränkt sind, als wunden, fieber, hautkrankheiten, Vergiftungen
usw. In den folgenden Jahrhunderten , besonders im seclisten und sie-
benten, ist dieses werk durch starke Umarbeitungen sehr verändert und
erweitert, und auch noch durch hiuzufügung eines vierten und fünften
buches vermehrt worden. Gedruckt sind bis jezt nur solche spätere
Umarbeitungen, in denen der Verfasser Plinius junior, Plinius
Secundus, oder Plinius Valerianus genant wird. Den wirklichen
richtigen Sachverhalt hat Val. Rose aufgedeckt und nachgewiesen in
1) Dieser scliluss folgt aus dem unter ur. 2. 3. 10. 11 über hirzswani und
alp = ungehiure angemerkten.
13*
196 J. ZACHEB
seiner abliandluug „Über die Medicina Plinii," imd an deren Schlüsse
auch eine kritische ausgäbe in aussieht gestelt.^
Das andere werk, früher unter dem verfassernamen A pul ejus
Barbarus oder Apulejus Platonicus gehend, jezt gewöhnlich
Pseudo-Apulejus genant, ist wahrscheinlich im fünften Jahrhunderte
entstanden. In nachahmung der vorrede des Breviarium Plinii sagt
der unbekante Verfasser, dass er ZAim frommen seiner mitbürger, um
sie von habsüchtigen und unwissenden ärzten unabhängig zu machen,
ein kurzes handbuch der geeignetsten arzneimittel , enthaltend „herba-
rum vires et curationes corporis," zu liefern beabsichtigt habe. Dies
werk ist im wesentlichen ein auszug aus Dioskorides, und handelt in
128 (bis 131) kapiteln von eben so vielen pflanzlichen mittein, in der
weise, dass stets auf eine aufzählung der verschiedenen benennungen
in mehreren sprachen eine kurze beschreibung der betreffenden pflanze,
und darnach eine angäbe ihres verschiedenartigen heilgebrauches folgt.
Für die grosse und andauernde beliebtheit des Werkes zeugen zahlreiche
erhaltene handschriften , die aber sehr stark untereinander abweichen.
Meist sind in ihnen die pflanzennameu übel verderbt, die beschreibun-
gen weggelassen, und die angaben des heilgebrauches bald gekürzt,
bald erweitert und mannigfach geändert. Die älteste noch ungedruckte
textgestalt enthält namentlich auch eine beträchtliche anzahl von
besprechungsformeln und precationen heidnischen Charakters zum ge-
brauche beim einsammeln und bei der heilanwendung der verschiedeneu
kräuter, welche, wie sie einerseits an die griechischen qi'C.ordi.ioL sich
lehnen mögen, so andererseits vielleicht in Umbildungen noch bis auf
die gegenwart fortwirken können, auf die noch jezt üblichen kräuter-
segen und kräuterweihen.^
1) Val. Rose, in: Hermes, lisg. v. Hübner. Berlin 1874. 8, 18 — G6. Vgl.
Meyer 2, 398 fgg. Häser 1, G23 fgg. Teuffei § 411 s. 962 fg.
2) Ausgaben: Parabilium medicamentorum scriptores antiqui, Sexti Placiti
Papyriensis de medicameutis ex animalibus liber, Lucii Apuleji de medicamiuibus
berbarum liber, ex rec. et cum notis Jo. Cbr. Gl. Ackermann. Norimb. et Altorfii
1788. Daneben ist, worauf Meyer aufmerksam macht, namentlich wegen des com-
mentares noch zu benutzen : In hoc opere contenta. Ant. Musae de herba Vetonica
liber 1. L. Apulei de raedicaminibus berbarum liber I. Per Gabr. Humelbergium,
Eavenspurgensem. s. 1. e. a (1537. 4"). — Vgl. Val. Rose, in Hermes 8, 35 fgg.
Meyer 2, 316. Häsor s. 627. Teuffei §367, 1^ s. 860. — Über eine alte text-
gestalt und namentlich über die darin enthaltenen besprechungsformeln (in einer
Breslauer hs. des IX. jahrh. , univ. -bibl. IIT. F. 19.) hat in anziehender und gehalt-
voller abhandlung (betitelt: „Der älteste modinische Codex der Breslauer Univer-
sitätsbibliothek") belehrt Henschel in seiner Zeitschrift Janus (Zeitschr. f. gesch.
u. litt. d. mediein). Breslau 1846. 1, 639 — 684. - Eine altenglische bearbeitung
des Pseudo-Apulejus ist gedruckt in: Leechdoms, Wortcunuing , and Starcraft of
MACER UND DIE DEUTSCHE BOTANIK 197
Bald nach Macer Floridus beginnen die heilmittellehren der ara-
bischen und der salernitanischen ärzte. Von diesen hebe ich
drei der wichtigsten und einflussreichsten über einfache arzneimittel
heraus: die des Platearius, des jüngeren Serapion und des Mat-
thaeus Sylvaticus. Verfasst von ärzten für ärzte sind sie natürlich
viel reichhaltiger als Macer ; weil sie aber grossenteils aus denselben
hauptquellon geschöpft haben, treffen sie in ihren angaben sachlich
doch liäufig mit ihm überein , zumal dann , wenn beide gleicherweise
auf Dioskorides zurückgehen. Deshalb kann ihre vergleichung der kri-
tik und dem richtigen Verständnisse sowol des lateinischen wie des
deutschen tcxtes Macers zu statten kommen. — Die nachfolgenden
angaben gründen sich , wie natürlich , auf die forschungen und urteile
der besten und verlässigsten gewährsmänner, Meyer und Häser.
Matthaeus Platearius war ein glied der an berühmten ärzten
reichen familie der Platearier zu Salerno. Er schrieb im elften , oder zu
anfange des zwölften Jahrhunderts. Sein werk De simplici medicina
begint mit den worten: ..Circa instans negotium de simplicibus medi-
cinis nostrum versatur propositum," und wird deshalb gewöhnlich
„Circa instans" genant. Es ist eine auf griechischen und lateinischen
quellen beruhende , nach den namen der mittel alphabetisch geordnete
heilmittellehre, die vom 12. bis in das 16. Jahrhundert im höchsten
ansehen stand, und sehr viel benuzt und ausgeschrieben wurde. Sie
ist widerholt gedruckt worden , aber niemals einzeln , sondern stets nur
als anhang zu anderen werken, zu der Practica des Johannes Platea-
rius, zu der Practica des älteren Serapion und zum Dispensarium oder
Antidotarium magnum magistri Nicolai Praepositi ad aromatarios, und
wird deshalb leicht übersehen. Ich benutze die ausgäbe: Practica Jo.
Serapionis s. 1. 1525 in klein folio. Darin steht des Platearius buch
Circa instans auf bl. 22.3* — 252^. — Dieses werk des Platearius
beschränkt sich also auf die Simplicia, auf die einfachen arzneimittel.
Was man aber damals, und durch das ganze mittelalter, unter der
benennung Simplicia verstand, das erklärt Platearius gleich zu anfange
seines werkes kurz und bündig : ,, Simplex autem medicina est , que
talis est, qualis a natura producitur, ut gariofilus (gewürznelke), nux
muscata, et similia, vel, quae, licet aliquo sit mutata artiticio, non
est alii medicine commixta, vt tamarindi, qui abiectis corticibus artifi-
cio conquassantur , et aloen , quod ex herbe succo artificiose excocto
Early England. Collected and edited by 0. Cockayne. London 1864. 1, 1 fgg.
(= Rerum Britann icarum medii aevi scriptores. 35). B. ten Brink in seiner Ge-
schichte der englischen Litteratnr (Berlin 1877. 1, 125) sezt die entstehung dieser
bearheitung in die erste hälfte des elften Jahrhunderts.
198 J. ZACHER
efficitur." — Solche einfache arzueimittel , Simplicia , waren die haupt-
niittel der mittelalterlichen medicin, und unter ihnen behaupteten
widerum die pflanzlichen mittel, bis auf und noch nach Paracelsus, so
sehr den vorrang, dass die animalischen und mineralischen weit hinter
ihnen zurückstanden und nur in beschränktem masse zur anwendung
kamen. Daher verfassten zum behufe der medicinischen praxis die
arabischen und die salernitauischen ärzte widerholt Sammelwerke über
diese Simplicia, in denen die altüberlieferten und die neuerlich iiinzu-
gekommenen einfachen arzueimittel und ihre mannigfachen anwendun-
gen mehr oder minder volstäudig aufgezählt wurden , mit natürlichem
grossem übergewichte der pflanzlichen mittel. Solche Sammelwerke
erhielten denn wol auch den ihren compilatorischen Charakter bezeich-
nenden titel Aggregator oder Pandectae.
Des jüngeren Serapion werk über die einfachen arzueimittel
ist nach Käsers urteil eine sehr volständige Zusammenstellung dessen,
was griechische und arabische ärzte bis dahin über einfache arzueimit-
tel geschrieben hatten. Nachrichten über den Verfasser und seine
lebensverhältnisse gebrechen gänzlich. Nach Steinschneiders meinung
soll er sein werk in Spanien oder Mauretanien verfasst haben, noch
vor Platearius. Aber dem christlichen abendlande ist das ursprünglich
arabisch abgefasste werk erst zugänglich und bekant geworden durch
eine nicht eben gewante lateinische Übersetzung, welche Simon von
Genua (Januensis) , arzt des pabstes Nicolaus IV. , mit hilfe eines Juden,
Abraham Tortuosiensis , zu ende des 13. Jahrhunderts verfasst hatte,
und auch nur in dieser gestalt ist es bis jezt gedruckt. Ich benutze
die eben schon bei Platearius genante ausgäbe (s. 1. 1535), in welcher
der Practica des älteren Serapion (eines griechischen , christlichen arztes
des neunten oder zehnten Jahrhunderts) auf bl. 113" — 201"= diese arz-
neimittellehre des jüngeren Serapion angefügt ist unter dem titel:
„Incipit liber Serapionis aggregaf in medicinis simplicibus secundum
translationem Symonis Januensis, interprete Abraam iudeo Tortuoensi
de arabico in latinum."
Die dem könige Robert von Sicilien (1310 — 1343) gewidmeten
Pandectae medicinae des Matthaeus Sylvaticus sind die vol-
ständigste heilmittellehre jener zeit. Grösstenteils sind sie geschöpft
aus berühmten und damals in höchstem ansehen stehenden Schriftstel-
lern, namentlich aus Dioskorides , Galenus, Plinius, Mesue, Avicenna,
Serapion u. a. , und den einzelnen excerpten ist, wie bei Viucentius
Bellovacensis , die abgekürzte bezeichnung der quelle vorangestelt, aber
auch eigene bemerkungen laufen mit unter. Die reihenfolge der meist
mit arabischer, griechischer und lateinischer benennung angegebenen
MACER UND DIE DEUTSCHE BOTANIK 199
heilmittel ist eine eigeutümlich moditicierte alphabetisch e. Auch die-
ses werk stand über das raittehilter hinaus in hohem ansehen und ist
oft gedruckt worden. Mir steht nur die ausgäbe zur Verfügung: Opus
Pandectarum medicine Matthei Siluatici etc. Lugduni 1534. fol, in
welcher der ursprüngliche echte text des Sylvaticus bereits vermehrt
ist durch eiuschaltung der Clavis sauationis des Simon Januensis und
durch andere zusätze.
Mit dem ablaufe des mittelalters und nach erfindung der buch-
druckerkunst erfahren auch die kräuterbücher eine volstäudige Umwand-
lung, die in Deutschland in einigen hauptwerken klar zu tage tritt,
so dass es zweckmässig erscheint, auch diese werke noch kurz in
betracht zu ziehen.
Die gedruckten kräuterbücher in Deutschland beginnen im lez-
ten viertel des 15. Jahrhunderts, und zwar zunächst in zwei reihen,
die eine unter dem titel Herbarius (oder auch Herbolarium), die
andere unter dem titel (li)Ortus sanitatis.
Die älteste datierte ausgäbe des Herbarius erschien zu Mainz
1484, nachdem ihr vielleicht schon eine undatierte vorausgegangen war.
Pritzel, in seinem Thesaurus litteraturae botanicae, Lips. 1851. 4*^,
s. 349, zählt unter nr. 11867 — 11875 neun ausgaben des Herbarius
auf, und zwar sechs in lateinischer, zwei in italienischer und eine in
niederländischer spräche. Keine dieser ausgaben habe ich gesehen , und
vermag deshalb auch nicht aus eigener anschauung darüber zu berich-
ten. Nach Meyers mitteilung ^ heisst es in der vorrede des Herbarius :
„Ob id presens opusculum suam sumpsit denominationem Aggregator
practicus de simplicibus'"; und Meyers eigenes urteil lautet (s. 184):
„ des buches ausgesprochener zweck ist , den armen des kostbaren bei-
standes der ärzte und apotheker zu überheben. Doch geht es über
seine grenzen hinaus, indem es, zumal in den sechs lezteu kürzeren
Partikeln , die ich als anhang zum ursprünglichen werk betrachte , viele
kostbare ausländische mittel anführt; und es verfehlt seinen zweck
durch die Oberflächlichkeit oder gänzliche auslassung der pflanzen-
beschreibungen." — Demnach war auch dieser Herbarius noch eine
arzneimittellehre , in einer seit mehreren Jahrhunderten üblich gewor-
denen gestalt, zusammengestelt aus damals gangbaren und geschäzten,
vom Verfasser oft namentlich angeführten büchern, unter denen auch
Macer genant wird. Neu aber ist, und überaus wichtig, die anwen-
dung des holzsclmittes. Denn wenn auch, nach Meyers urteile, die
1) Gesch. d. Bot. 4, 179.
200 J. ZACHEK
pflanzenabbildiingen noch so mangelhaft ausgefallen sind, dass „sich
nur wenige derselben mit mühe erkennen lassen," so liegt doch grade
hierin der erste keim eines wirklichen fortschrittes und einer ganz neuen
Wissenschaft, wie sich bei betrachtung der nächstfolgenden werke als-
bald deutlich herausstellen wird.
Der (h)Ortus sanitatis erschien zuerst in kürzerer deutscher
gestalt, als „Gart der Gesuntheit" zu Mainz 1485, und darauf in
umfänglicherer lateinischer, widerum zu Mainz 1491. Pritzel, in sei-
nem Thes. lit. bot. führt unter nr. 11876 — 11906 31 ausgaben dessel-
ben auf, und zwar 5 in lateinischer, 21 in deutscher, 2 in nieder-
deutscher, 1 in holländischer, und 2 in französischer spräche; ein
redendes zeugnis für die grosse beliebtheit und Verbreitung des Wer-
kes. — Mir liegen nur zwei späte ausgaben vor, eine lateinische s. 1.
1517 fol., und eine deutsche, Strassburg 1536 fol. , in welcher lezteren
aber grade die herbae fehlen.
Verfasser und entstehungszeit des Ortus sanitatis sind unbekant;
ja es ist noch nicht einmal sicher ermittelt, ob die kürzere deutsche
oder die längere lateinische gestalt desselben die ältere und ursprüng-
lichere sei. Der umfang des Inhaltes ist in dem titel der lateinischen
fassung übersichtlich angezeigt: „Ortus Sanitatis. De Herbis et Plan-
tis. De Animalibus et Eeptilibus. De Auibus et Volatilibus. De Pis-
cibus et Natatilibus. De Lapidibus et in terre venis nascentibus. De
Vriuis et earum speciebus. " Es beschränkt sich demnach das werk
niclit anf die pflanzen, sondern erstreckt sich über alle drei naturreiche;
nur dass die lierbae mindestens eben so viel räum einnehmen als alles
übrige zusammen. Auch dieses werk ist noch eine blosse compilation,
zusammengestelt aus den gangbarsten arzneimittellehreu , bis herab auf
Matthaeus Sylvaticus, und aus den encyclopädien des 13. Jahrhunderts,
aus den encyclopädischen werken des Bartholomaeus Anglicus, Arnol-
dus de Saxonia,^ Thomas Cantimpratensis , Viucentius Bellovacensis und
1) Nicht Arnaldus de Villanova, wie Meyer 4, 194 meint. Das richtige
konte Meyer damals freilich noch nicht ermitteln, weilArnoldus de Saxonia damals
noch völlig verschollen war. Ich kante ihn zwar längst aus den reichlichen anfiih-
rungen und auszügen bei Vincentius Bellovacensis, aber alle meine bemühungen
seiner habhaft zu werden blieben ergebnislos , weil kein litterarhistoriker , kein
bibliograph, kein handschriftenkatalog , kein bibliothckar ihn kante, bis es Val.
Rose glückte, ihn in der Amplonianischcn bibliothek zu Erfurt zu entdecken, worü-
ber er dann auskauft gegeben hat in Haupts zeitschr. für deutsches altertum. Ber-
lin 1875. 18, 321 fgg. — Ob übrigens der vorf. des Ortus sanitatis das werk des
Albertus de Saxonia in originali benuzt, oder ob er sich begnügt habe die citatc
aus Vincentius Bellovacensis abzuschreiben, das habe ich nicht untersucht, weil ich
dessen für meinen gegenwärtigen zweck nicht bedurfte.
MACER UND DIK DEUTSCHE BOTANIK 201
Albertus Magnus. Der zweck des Werkes ist in der lateinischen vorrede
bestirnt und deutlich ausgesprochen: „Id ipsum autem perficiendum
nie prinio principalissinieque charitas vrgebat, quae eorurn inopie me
tecit couipati, quibus temporalis non subministrat facultas pro necessi-
tate couducendi medicos et apotecarios, pecunia eis deficiente. Nara
lii huius doctrina libri adiuti , sumptibus admodum exiguis concurrenti-
bus, ipsis (1. ipsi) sibi conferre valebimt praeseruatiua remedia perfecta-
que medicainina." Nach der hier ausgesprochenen absieht also solte das
buch eine arzneimittellehre sein für solche , die des arztes entraten wol-
len oder müssen; in der ausführung jedoch hat der Verfasser diesen
zweck stark aus dem äuge verloren , und sich begnügt kritiklos zusam-
menzustöppeln was seine vorlagen ihm darboten, auch wenn es für
heilzwecke unverwendbar war, ja sogar wenn es überhaupt gar nicht
existiert, wie die fabelhaften tiere und steine, an denen die mittel-
alterlichen bücher reich sind. — Die holzschnitte , mit denen auch
dieses werk ausgestattet ist , sind noch in der lateinischen ausgäbe roh
und ungeschickt; in der deutschen von 1536 zeigen sie zwar einen
merklichen technischen fortschritt, können sich aber an charakteristi-
schen stellen doch noch nicht losreissen und frei machen von den in
der älteren ausgäbe vorliegenden typen. Und es kann auch überhaupt
von vorn herein ein ehrliches und ernstes streben nach naturtreue doch
schwerlich massgebende absieht des Verfassers oder herausgebers gewe-
sen sein, weil ja auch die steine und die fabeltiere, wie z. b. Cerastes,
Draco, Formice majores (die goldgrabenden ameisen), Leuiathan, Pilo-
sus, Pegasus, Salamandra, Basiliscus, und viele andere, mit blossen
phantasiebildern ausgestattet worden sind. Darnach scheint es fast, als
hätten die bilder hauptsächlich dazu dienen sollen die käufer anzulocken.
In dem quellenverzeichnisse zu dem Mittelniederdeutschen wör-
terbuche von Schiller und Lübben (Bremen 1875) wird s. IX aufgeführt:
„Eyn schone Arstedygeboeck van allerleye ghebreck vnnde kranckhey-
den der mynschen." Am ende: „Finitus est iste libellus herbarius.
Ao. 1483." Klein folio. Und im Wörterbuche selbst sind stellen aus
diesem drucke ausgehoben, die so nahe zu den hier gedruckten bruch-
stücken des deutschen Macer stimmen, dass sie sehr wol aus einem
niederdeutschen Macer stammen können; ja es wird darin sogar Macer
ausdrücklich genant, wie z. b. 1, 297, unter Betekalk: „also secht
Macer"; (vgl, in den hier gedruckten bruchstücken , unter VI. Aristo-
lochia). — In welchem Verhältnisse aber dieser alte Lübecker druck
zu Macer, oder auch zu dem vorhin erwähnten Mainzer Herbarius ste-
hen möge, vermag ich nicht anzugeben; denn ich habe weder diesen
Lübecker druck selbst erreichen können, noch auch das programm, in
202 J. ZACHER
welchem über ihn gehandelt sein soll: ,,C. Deecke, Einige nachrichten
von den im XV. jh. zu Lübeck gedruckten niedersächs. büchern. Lübeck
1834. 4"." Bei Pritzel, Meyer und Häser habe ich diesen Lübecker
druck nicht erwähnt gefunden.
Mit dem Mainzer Herbarius und dem Ortus Sanitatis war die
behandlungsweise der mittelalterlichen arzneimittellehren und kräuter-
bücher erschöpft und ausgelebt. Denn der neu eröffnete Zugang zu den
römischen und zumal zu den griechischen originalwerken , die nun auch
durch den druck für jedermann bequem zu erreichen waren, schuf auch
hier neues leben, führte zur revision der seit Jahrhunderten herköm-
lichen, vielfach verdunkelten und verderbten Überlieferung, und regte
widerum zu eigenem denken und forschen an. Und der neuerwachte
trieb erwies sich auf diesem gebiete so mächtig und fruchtbar, dass
in der ersten hälfte des 16. Jahrhunderts hart hintereinander, und grossen-
teils noch nebeneinander „die deutschen väter der Pflanzenkunde,"
wie Sprengel sie treffend genant hat, auftraten und den ersten siche-
ren grund legten zu einer wirklich wissenschaftlichen behandlung der
botanik: Otto ßrunfels, Hieronymus Bock und Leonhard Fuchs.
Otto Brunfels, vermutlich kurz vor 1500 zu Mainz geboren,
gieng als junger magister ins kloster, verliess es aber bald wider und
wante sich zum protestantismus. Nachdem er darauf durch mehrere
jähre in Strassburg als lehrer erfolgreich gewirkt und daneben auch
medicinische Studien betrieben hatte, erwarb er im jähre 1530 zu Basel
die medicinische doctorwürde, und gewann bald solchen ruf, dass er
mit ansehnlichem gehalte als stadtarzt nach Bern berufen wurde, wo
er aber bereits 1534 starb. Er hat verschiedene theologische und meh-
rere medicinische werke verfasst; sein hauptverdienst aber ist sein
bahnbrechendes botanisches werk, welches zuerst lateinisch erschien
unter dem titel : Herbarum vivae eicones , ad naturae imitationem sum-
ma cum diligentia et artificio effigiatae una cum effectibus earundem,
in gratiam ueteris illius, et iamiam renascentis herbariae medicinae.
Argentorati 1530 — 36. 3 bde. in folio, und in lateinischer fassung
widerholt gedruckt wurde (bd. 1. 1532; bd. 2. 1536; bd. 1 — 3. 1537
und 1539), dann aber auch deutsch, unter dem titel: Contrafayt Kreu-
terbuch usw. Strassburg 1532—37. 2 bde in fol. Ich benutze, aus
der bibliothek der Leopoldiuisch - Carolinischen akademie , ein unvol-
ständiges exemplar der zweiten ausgäbe des ersten lateinischen teiles,
Argentorati 1532. fol.^
1) Seitdem habe ich selbst ein volständiges exemplar des ersten teiles der
ersten lateinischen ausgäbe, Ai-geut. 1530. fol., duixh kauf erworben.
MACER UND DIE DEUTSCHE BOTANIK 203
Der text gliedert sich iu der regel in folgende abschnitte :
1) nomeuclatura , aufzäliliuig der griechischen, lateinischen und deut-
schen benenuungen der betreft'enden pHanze; 2) autorum placita, angäbe
dessen was die namentlich aufgeführten Schriftsteller über diese pflanze
gesagt haben; 3) Temperanientum , bezeichnung des grades der wärme,
kälte usw.; 4) Vires et juvamenta, Übersicht der heil- und nutzanwen-
dungen derselben pflanze, widerum unter namentlicher anfuhrung der
dafür einstehenden schriftsteiler. Unter diesen erscheint auch Macer,
dessen lateinische hexameter dann im betreffenden falle meist auch
volständig aufgenommen sind. Der über der seite stehende columnen-
titel lautet durchweg: Simplicium pharmacorum tomus primus. Dar-
nach hält sich der text äusserlich scheinbar noch in dem alten her-
gebrachten geleise und rahmen der mittelalterlichen kräuterbücher , die
nichts weiter waren und sein weiten als Sammelwerke der simplicia,
der einfachen arzneimittel aus dem pflanzenreiche ; innerlich jedoch, in
art und geist der auffassung und behandlung ist er von allem früherem
grundverschieden. Denn nicht nur werden die früheren bedeutenderen
Schriftsteller in erschöpfender reihe aufgeführt, vom ältesten griechi-
schen altertume, von Hesiodus an, bis auf die unmittelbare gegenwart,
bis herab auf des Verfassers eigene Zeitgenossen , unter denen nament-
lich auch „Nobilis herbarius Hieronymus," d.h. der sogleich näher zu
erwähnende Hieronymus Bock, erscheint, sondern Brunfels fügt auch
in der regel , und zuweilen mit der ausdrücklichen Überschrift „ Nostrum
Judicium ," sein eigenes urteil hinzu ; oder mit anderen werten : er
bestrebt sich überall kritik zu üben; und das ist seine erste neuerung
und sein erstes grosses verdienst. — Er übt aber diese kritik — und
das ist sein zweiter wichtiger und entscheidender fortschritt — auf
grund der eigenen anschauu'ng und beobachtung an den ihm
selbst vorliegenden pflanzen. Diese sucht er in den benennungen und
angaben seiner Vorgänger wider zu erkennen , und damit licht und Ord-
nung in die unklare und verworrene Überlieferung zu bringen. — Und
dieses bemühen führt ihn mit innerer notweudigkeit zu dem dritten
fortschritte : es begint jezt die be Schreibung der pflanzen in den Vor-
dergrund zu treten, und sich von der bis dahin fast allein herschenden
nutzanwendung abzulösen, so dass Brunfels vereinzelt auch schon den
„ locus ," den Standort der betreffenden pflanze aufführt. — Damit aber
wird die pflanze an sich selbst gegenständ der beobachtung und
forschung — und das ist der vierte grosse fortschritt. Daher sind
auch bereits in diesen ersten teil wirklich einige pflanzen aufgenommen,
von denen Brunfels sagt, dass er sie bei seinen Vorgängern vergeblich
gesucht und nicht gefunden habe , und dass er über ihre heilwirkungen
204 J. ZACHER
nur nach hörensagen berichten könne — („ab empiricis id compertum
habemus"; „sunt qui velint"). So s. 217. „Kuchenschell" (Anemone
pulsatilla), s. 218. „Gauchblüm" (Cardamine pratensis). — Und end-
lich — und das ist der fünfte und nicht der geringste fortschritt —
sind zur Unterstützung der beschreibuugen abbildungen der pflanzen
in holzschnitt hinzugefügt, welche, wie überhaupt das ganze buch, vol-
koramen das leisten, was der titel verheisst; denn sie sind in der tat
„ ad naturae imitationem summa cum diligentia et artificio effigiatae."
Sie geben jedesmal die volständige pflanze, mit wurzel und blute, und
nehmen bald die halbe, bald die ganze höhe der folioseite ein. Sie
lassen durchweg den kundigen botaniker gewahren, der die pflanzen
dem Zeichner in der zweckmässigsten anordnung vorgerichtet hat, und
den geübten maier, der sie mit äuge und band künstlerisch aufzufas-
sen und meisterhaft widerzugebeu vermochte. Damit aber waren die
betreff"enden pflanzen so genau und sicher bestimt, dass sie gar nicht
verkauf und verwechselt werden konten , sondern für alle zeit fixiert
bleiben. Diese vortreflichen holzschnitte sind das verdienst des maiers
und formschneiders meisters Hans Weiditz von Strassburg.
Legt man diese holzschnitte des Brunfelsischen werkes vom jähre
1530 neben jene des Ortus sanitatis, und sogar neben die schon sehr
verbesserten in dessen deutscher ausgäbe vom jähre 1536 , so tritt die
gewaltige kluft, welche diese beiden werke von einander scheidet, mit
unmittelbar überzeugender und überwältigender anschaulichkeit vor
äugen; hier, bei Brunfels, entschiedenste naturtreue der abbildungen,
ernstlichst erstrebt vom Verfasser, und auch wirklich erreicht durch
die kunstfertige band des maiers und formenschneiders ; dort, im Ortus
sanitatis, fast durchweg blosse phantasiegebilde , die erst in der lezten
ausgäbe durch die handwerksmässig geschulte technik des holzschnei-
ders endlich ein gefälligeres aussehen, und hie und da auch eine etwas
grössere annäherung an die natur erhalten haben, als sie in der über-
aus ungeschickten und rohen behandlung in den früheren ausgaben
gezeigt hatten.i
1) Brunfels selbst hat es als seine bestirnte und bewuste absieht ausgespro-
chen, dass er etwas wesentlich neues liefern wolle, und als mittel dazu bezeichnet:
naturgetreue abbildungen und genaue zuverlässige beschreibungen unter kritischer
benutzung der wichtigeren älteren schriftsteiler. Er sagt darüber in der dem ersten
lateinischen bände vorangedruckten widmung au den Slrassburger rat: ,,Caeterum
de Herbarii nostri ratione hoc velut in compendio habetote. Primum nihil aliud
DOS spectasse in toto hoc opere, quam ut publico omnium bono Herbariae jam jam
coUapsae porrigercmus subsidiarias manus, earnque prope extiuctam in lucem revo-
caremus. Quod quia non alia ratione fieri posse auimadvertimus , quam abolitis
prioribus ac veteribus Herbariis , atque de novo vivis et acu pictis imaginibus editis ;
MACER UND DIE DEUTSCHE BOTANIK 205
Hieronynuis Bock (latinisiert: Tragus), geboren 1498 zu Hei-
(lerbacli im Zweibrückisclien , war von seinen eitern für das kloster
bestirnt worden, gelangte jedoch, dem widerstrebend, durch hilfe von
verwanten, zum besuche einer unbekanten Universität, auf welcher er
humaniora , theologie und besonders medicin studierte. Darnach erhielt
er 1523 durch den pfalzgrafen Ludwig in Zweibrücken eine lehrerstelle
und die aufsieht über den fürstlichen garten. Nach Ludwigs tode,
1532, übernahm er eine predigerstelle im nahen Städtchen Horubach
im Wasgau. Hier übte er, neben dem evangelischeu predigtamte , aus-
gedehnte medicinische praxis, und sezte auch sein botanisches lieb-
lingsstudium eifrigst fort, die pflanzenreiche gegend zu diesem behufe
tleissig und achtsam durchforschend. Durch confessionelle Streitigkei-
ten ans seinem amte verdrängt fand er eine Zuflucht in Saarbrück, bei
graf Philipp von Nassau, den er früher von einer schweren krankheit
geheilt hatte, konte jedoch später nach Hornbach zurückkehren, und
verwaltete von da ab sein predigtamt daselbst bis zu seinem im jähre
1554 erfolgten tode.
Sein grosses botanisches werk, zu dessen ausarbeitung und Ver-
öffentlichung Otto Brunfels ihn ernstlich angetrieben hatte, Hess Bock
zuerst im jähre 1539 erscheinen unter dem titel „ New Kreutterbuch."
Diese erste ausgäbe , wie alle folgenden in folioforraat , ist in zwei bücher
geteilt, und enthält noch keine abbildungen. Einer zweiten, ebenfals
in zwei bücher geteilten, die unter dem titel „Kreutterbuch" im jähre
1546 herauskam, sind 465 holzschnitte eingeschaltet; und in einer drit-
ten, vom jähre 1551, ist ein drittes buch hinzugefügt und die zahl
der holzschnitte um 72 vermehrt. Nach des Verfassers tode erschienen
in den jähren von 1556 bis 1630 noch acht weitere ausgaben, teils
unverändert, teils durch Melchior Sebitz (aber, wie Meyer urteilt,
nicht zu ihrem vorteile) vermehrt. Diese lange ausgabenreihe bezeugt
die grosse und dauernde beliebtheit des Werkes. Ich benutze die Strass-
burger ausgäbe vom jähre 1556.^
Seinen zweck gibt Bock selbst, in der vorrede, als einen vier-
fachen an. Er wolle 1) die einfachen erdgewächse, simplicia genant,
so viel derselben im teutschen land ihm zu banden gestossen seien,
wie , wo und w^ann sie waclisen , aufs aller fleissigste beschreiben ;
2) angeben, wann sie im jähre am besten zu finden oder anzubauen
deinde solidis ac firmis descriptionibus ex priscis et autenticis autoribus prolatis,
utrumque tentavimus atque curavimus."
1) Eine lateinische Übersetzung der deutschen ausgäbe von 1551 , von David
Kyber besorgt, erschien ebenfals bei Wendel Rihel in Strassbuig, 1552 in 4", aus-
gestattet mit den holzsclmitten der deutschen ausgäbe.
206 J. ZACHER
seien, und welchen boden oder grund jedes liebe; 3) die deutschen,
lateinischen , griechischen , arabischen und anderen fremden namen auf-
führen; 4) endlich jedes gewächses eigenschaften und arzneiwirkungen
nach Galen, Dioscorides und Theophrast, vornehmlich aber aus eige-
ner langer erfahrung kund geben. Demgemäss bietet denn auch jedes
kapitel zuerst eine ausführliche beschreibung , von der zweiten ausgäbe
ab nebst beigefügter abbildung , und darnach folgt ein absatz „Von den
namen," und ein zweiter „Von der kraft und Wirkung."
Die abbildungen in Bocks Kräuterbuche sind zwar ebenfals meist^
nach der natur gezeiclinet, und auch gröstenteils ähnlich genug gera-
ten , so dass die pflanzen darnach sicher erkant werden können ; sie
stehen jedoch an naturtreue und an künstlerischer ausführung beträcht-
lich hinter denen des Brunfelsischen werkes zurück. Dieser mangel
rührt teils daher, dass sie nicht von einem kunstfertigen meister, son-
dern von einem jungen autodidakten, David Kandel aus Strassburg,
angefertigt worden sind, den der Strassburger Verleger, Wendel Rihel,
dem Verfasser zugesant hatte, wahrscheinlich doch wol, weil er die
kosten einer kunstgerechten ausstattung scheute; teils ist er, und wol
aus demselben gründe, verschuldet durch den übelstand, dass fast alle
abbildungen in der gleichen geringen höhe von ungefähr 14 centime-
tern ausgeführt sind, wodurch namentlich die bilder der grösseren
pflanzen, der Sträuche, und zumal der bäume, oft schematisierende
und verkürzende Verunstaltungen erfahren haben.
Dagegen machte nun Bock die beschreibung der pflanzen zur
hauptsache , und übertraf in dieser seinen Vorgänger Brunfels bei wei-
tem. Er schildert in sehr eingehender und anschaulicher weise den
gesamtcharakter jeder pflanze , fügt angäbe ihres Vorkommens und ihrer
fundorte hinzu , bietet überall selbst gesehenes und selbst beobachtetes,
bemüht sich auch bereits , verwante pflanzen gruppenweise zusammen-
zustellen, und vergleicht endlich die ergebnisse der eigenen beobachtung
und forschung vorsichtig prüfend mit den angaben älterer berühmter
schriftsteiler, insonderheit des Dioscorides. Demnach zeigt sein werk
schon die ausgeprägten und einer fruchtbaren e'ntwickelung fähigen
keime dessen, was wir gegenwärtig als Flora bezeichnen. Rühmende
erwähnung verdient auch der stil. Bock ist mit poetischem sinne
begabt, schreibt in ungekünstelter, aber anmutig belebter spräche, und
erfreut durch reizende naivität und durch einen ergötzlichen auflug
1) Ein nicht nnerhcbli(^her teil derselben besteht freilich nicht aus neuen
originalzeichnungen , sondern, wie Meyer 4, 306 angibt, nur „aus verkleinerten
copien der grossen schönen Zeichnungen , Avelche Fuchs schon 1542 geliefert
hatte."
MACER UND DIE DEUTSCHE BOTANIK 207
von gefälligem humor, so dass er wol verdient in den litteraturgeschich-
ten unter den prosaikern des sechzehnten Jahrhunderts lobend erwähnt
zu werden.
Leonhard Fuchs, geboren 1501 zu Membdingen in Baiern,
widmete sich, nach dem besuch der schulen zu Heilbronn und Erfurt,
auf der Erfurter Universität zumeist eifrig dem Studium der alten spra-
chen, und erwarb sich daselbst, noch sehr jung, den grad eines bac-
calaureus. Heimgekehrt eröfnete er in seiner Vaterstadt eine gelehrte
schule, die er durch anderthalb jähre leitete, dann aber, seit 1519, die
Universitätsstudien wider aufnahm, in Ingolstadt, avo er zunächst gleich-
fals den klassischen studieu oblag und 1521 magister ward, darnach
aber zu dem Studium der medicin übergieng und 1524 doctor der medi-
cin wurde. Auch wante er sich damals in Ingolstadt, angeregt durch
Luthers Schriften, zum protestantismus. Seitdem wirkte er als prac-
tischer arzt oder als professor der medicin an verschiedenen orten:
zuerst in München, dann, seit 1526, als professor zu Ingolstadt, darauf,
seit 1528, als leibarzt des markgrafen Georg von Brandenburg, zu
Ansbach, und widerum, im jähre 1533 als professor zu Ingolstadt.
Aber noch im selben jähre ward er durch die Jesuiten von dort ver-
drängt und kehrte wider in seine frühere Stellung nach Ansbach zurück.
Endlich ward er 1535 als professor nach Tübingen berufen, und ver-
blieb in diesem Wirkungskreise bis zu seinem im jähre 1566 erfolg-
ten tode.
Fuchs scheint ein zwar recht gelehrter und scharfsinniger, aber
auch ein eitler, unruhiger und streitsüchtiger mann gewesen zu sein.
Seine medicinischen Schriften tragen zum teil den Charakter heftiger
Streitschriften. Sein botanisches hauptwerk erschien zuerst in lateini-
scher spräche bei Isingriu zu Basel 1542 in gross folio unter dem
pomphaften titel: De historia stirpium commentarii insignes, maximis
impeusis et vigiliis elaborati , adjectis earundem vivis plus quam quingen-
tis imaginibus uunquam antea ad naturae imitationem artificiosius effic-
tis et expressis, Leonarto Fuchsio, medico hac nostra aetate longo
clarissimo, auctore etc. Kurz darauf, 1543, folgte in demselben Ver-
lage die um 6 abbildungen vermehrte deutsche bearbeitung, unter dem
titel „New Kreüterbuch, in welchem nit allein die gantz histori, das
ist namen, gestalt, statt vnd zeit der wachsung, natur, krafft vnd
würckung , des meysten theyls der Kreüter so in Teütschen vnnd andern
Landen wachsen, mit dem besten vleisz beschriben, sonder auch aller
derselben wurtzel, stengel, bletter, blümen, samen, frücht, vnd in
summa die gantze gestalt, allso artlich vnd kunstlicli abgebildet vnd
contrafayt ist, das deszgleichen vormals nie gesehen, noch an tag
208 J. ZACHER
komen. Durch den hocligelerten Leonhart Fiichsen der artzney Doc-
torn, vnnd derselbigen zu Tübingen Lesern." usw.
Über den zweck seines werkes bat der Verfasser selbst sieb aus-
gesprocben in der dem deutseben texte vorangescbickten dedication an
frau Anna, die gemabliu des römisclieu königes: sein lateinisches werk
habe er verfasst und herausgegeben für ärzte, sein deutsches aber nicht
deshalb, „damit auch der gemein man kündte jhm selbert in der not
artzney geben, vnd allerley kranckheyt heylen. (Dan mir wol bewüsst,
das vil mehr zu einem rechtgeschaffnen artzt gehört, dan allein kreü-
ter vnd derselbigen würckung erkennen vnd wissen)"; sondern weil er
für gut und nttzlich befunden habe , „ das die kreüter nit allein von
den ärtzten, sonder auch von den Leyen vnd dem gemeinen man in
gärten hin vnd wider vleissig gepflantzt vil aufferzogen werden , darmit
derselben erkantnuss in Teütschen landen dermassen täglich wachs vnd
züneme, das sie nimer in vergessung möge gestelt werden." Darum
„hab ich," fährt er fort, „in dem Teütschen mich in sonderheyt beflis-
sen, das die ding so dem gemeinen man zu wissen nit dienstlich noch
notig sind, wurden außgelassen vnd überschritten. Hergegen hab ich
die bescbreibung der gestalt aller kreüter vil völliger gemacht, vnd
baß herauß gestrichen, dan vormals im Latein geschehen, darmit die-
selbigen menigklich dermassen würden jngebildet, das sie fürhin niiher
in einigerley vergessen komen möchten."
Seinem also angegebenen zwecke gemäss liat Fuchs jedes, von
einer oder mehreren abbildungen begleitetes kapitel der deutscheu bear-
beitung seines werkes in folgende abschnitte geteilt: „Namen. Geschlecht.
Gestalt. Statt irer wachsung. Zeit. Die natur vnd complexion. Die
kraff't vnd würckung." Die beuennungen der pflanzen hat er hier meist
nur einfach aufgeführt, und für deren begründung und kritik, so wie
überhaupt für alle gelehrte erörterung auf sein lateinisches werk ver-
wiesen. Dagegen folgt er in der pflanzenbeschreibung dem vorbilde
seines Vorgängers Bock, dessen werk er auch vor sich gehabt, und es
auch reichlich, und meist wörtlich, nur kürzend, ausgeschrieben liat.
Selbständiger aber verfährt er, seiner medicinischen berufstätigkeit,
neigung und absieht entsprechend, in der reichhaltigeren und über
Bock hinausgehenden angäbe der Verwendung der pflanzen für heil-
zwecke. — Im algemeinen ist in dem Kreuterbuche von Fuchs die
darstellung klar und bündig, aber nüchtern, schematisch eingeschnürt,
und überall an die entstehung in der studierstube des gelehrten erin-
nernd. Es gebricht dem Verfasser der poetische hauch und die erquik-
kende einfachheit und Unbefangenheit des mit kindlichem sinne aus der
vollen natur schöpfenden naturfreundes und naturbeobachters Bock,
MACKR UND DIE DEUTSCHE ÜOTANTK 209
Daher erklärt es sidi auch , weshalb bei Fuchs die von Bock so reich-
lich angegebenen stand- und fundörter der pflanzen fehlen.
Den hauptwert geben dem Fuchsischen werke die vortreflichen,
von den malern Heinrich Füllmaurer und Albrecht Meyer und
dem formschneider Veyt Rüdolff Speckle verfertigten abbildungen,
deren dieser band etwas über 500 enthält. Meist nach musterhaften,
und höchst geschickt und ZAveckmässig dazu vorgerichteten und ange-
ordneten exeniplaren in scharfen umrissen ausgeführt, und jedesmal die
ganze seite des grossfolioblattes einnehmend, geben sie deutliche, natur-
treue und zugleich künstlerisch aufgefasste bilder, von denen Meyer
mit recht rühmt, dass viele derselben, wenn ein neuerer künstler die
für uns jezt nötigen analysen der blumen und fruchte hinzufügte , sich
noch heute den besten, die wir besitzen, zur seite stellen könten. —
Das bild von Fuchs selbst, in ganzer figur, ist auf der rückseite des
titeis, die brustbilder der maier und des formschneiders sind auf der
lezten seite des werkes hinzugefügt.
Diese pflanzenabbildungen sind, nach Meyers angäbe, in verklei-
nerter gestalt auch einzeln erschienen „ mit deutschen und lateinischen
namen , und mit einer vorrede von Fuchs, sonst aber ohne text, in
zwei ausgaben, bei demselben Verleger, beide im jähre 1545, in octav."
Auch ist das werk, ohne mitwirkung von Fuchs, nachgedruckt, und
ins Niederländische , Französische und Spanische übersezt worden ; so
wie auch die kleinen textloseu ausgaben nachdrücke mit sehr kleinen,
wertlosen abbildungen erfahren haben.
Diesem werke, welches, wie aus dem hier berichteten deutlich
hervorgeht , ebeufals eine höchst wertvolle Vorarbeit zur deutschen flora
bildet, beabsichtigte Fuchs noch eine fortsetzung gleicher beschaffen-
heit folgen zu lassen. Zwei weitere bände, widerum je 500 oder mehr
abbildungen nebst zugehörigem texte befassend , scheint er auch im
manuscripte vollendet zu haben; weil aber kein Verleger die herstel-
lungskosten daran wagen wolte, und eine erbetene und auch in aus-
sieht gestelte fürstliche Unterstützung ausblieb, sind sie nicht in den
druck gelangt. Die handschrift aller drei bände soll 1732 in Wien
um 300 gülden feilgeboten worden sein , ist aber seitdem verschollen ;
und auch die dazu gehörigen bereits fertigen in holz geschnittenen for-
men sind verzettelt worden und nun wol auch meist verkommen und
verloren; doch mag sich vielleicht ein teil derselben, nach Meyers Ver-
mutung, in Tübingen erhalten haben.
Unter denen , welche diesen drei bahnbrechenden meistern , Bruu-
fels, Bock und Fuchs, eifrig und erfolgreich nachstrebten, hebe
ZEITSCHR. F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD, XII. 14
210 J. ZACHER
ich nur noch mit kurzer erwähuung hervor den doctor der medicin
Jacob Theodor, oder, wie er nach seinem geburtsorte Bergzabern
benant wurde, Tabernaemoutauus. — Angeregt durch seinen pfäl-
zischen landsmann Bock, der von ihm mit grosser Verehrung erwähnt
und als „mein lieber praeceptor seliger Hieronymus Tragus Brettanus "
bezeichnet wird, verfasste Tabernaemontanus in 36jähriger arbeit, und
unter vielen durch die beträchtlichen herstellungskosten verursachten
mühen und sorgen, ein grosses kräuterbuch, für welches er endlich, wäh-
rend er als practischer arzt zu Neuwhausen in der Pfalz würkte , in dem
Frankfurter buchhändler Nicolaus Bassins einen Verleger gewann. Bei
diesem erschien das werk zuerst 1588, in folio, und ward darnach,
durch Nicolaus Braun, und weiter durch Caspar Bauhinus verbessert
und vermehrt, in einer langen bis auf Linnes zeit herabreichen-
den ausgabenreihe oft wider gedruckt. Ich benutze die durch Bau-
hinus in zwei statlichen foliobänden besorgte Frankfurter ausgäbe vom
jähre 1613.
Auf eine sorgfältige beschreibung der einzelnen pflanzen, in welche
bei den seltneren oder minder bekanten auch angaben der fundorte auf-
genommen sind, lässt Tabernsemontanus stets eine kritische und auch
die neueren lebenden sprachen berücksichtigende erörterung der beuen-
nungen folgen, und darauf eine sehr ausführliche und reichhaltige
abhaudluug über die anwendung der betreffenden pflanzen und der aus
ihnen bereiteten medicamente (extracte , weine , salben u. dgl.) zu inner-
lichem und äusserlichem heilgebrauche. Denn als arzt rühmt er ebeu-
fals noch die simplicia, die pflanzen, als die besten und wirksamsten
heilmittel, und widmet demgemäss auch der medicinischen nutzanwen-
dung so überwiegende beachtung. Jedoch auch in den rein botanischen
abschnitten seines Werkes Übertrift er seine Vorgänger durch reichtum
und anordnung des dargebotenen. Namentlich bemüht er sich , alle
ihm bekant gewordenen arten einer gattung zusammenzustellen und
hinter einander abzuliandelu. So bespricht er z. b. bereits an die 30
oder mehr arten der gattung Ranunculus, wobei er freilich art und
Spielart noch nicht bestimt auseinanderzuhalten vermag. Und widerum
auch werden die beschreibungen fast jeder im texte behandelten art
unterstüzt durch abbildungeu, welche in holzschnitt zwar nicht mit
künstlerischer Vollendung, aber doch so geschickt ausgeführt sind, dass
sie bei einer geringen durchschnittlichen liöhe von nur ungefähr 12 cen-
timetern doch naturgetreue darstellungen ergeben, in denen die pflan-
zen sicher erkant werden können.
Dem texte vorangedruckt ist ein Verzeichnis von mehr als 100
benuzten Schriftstellern, welches von Fythagoras und Aristoteles bis
MACEE UND DIE DEUTSCHE BOTANIK 211
auf des Verfassers Zeitgenossen herabreicht. Bock und Fuchs sind darin
aufgefülirt, während es auffallen rauss, dass Otto Brunfels fehlt. Auch
Aemilius Macer erscheint hier widerum unter den gewährsmäunern,
und wird auch im texte ab und zai genant, zuweilen unter hinzufüguug
einiger verse des lateinischen gedichtes, während er mir bei Bock und
Fuchs nicht aufgestossen , und von diesen beiden vielleicht auch nicht
unmittelbar benuzt worden ist.
In diesem grossen hier kurz dargelegten zusammenhange gewint
der Macer Floridus erst seine volle bedeutung. Sein unbekanter Ver-
fasser hatte aus quellen, welche ihm und seinen Zeitgenossen als die
wertvolsten und zuverlässigsten galten, eine blumeniese des wichtig-
sten zusammengestelt über die heilwirkungen. solcher pflanzen und
gewürze, die damals fast sämtlich für jedermann leicht und billig zu
erreichen waren , und hatte damit nicht nur ein bequemes handbüchlein
für ärzte geliefert, sondern zugleich auch eine anleitung zu einer haus-
apotheke, die von höchstem werte sein muste zu einer zeit, wo ärzte
und apotheker noch selten und teuer zu haben waren, und jede haus-
frau zugleich auch noch hausarzt war. Wie aber die in sein gedieht
aufgenommenen angaben zum teil schon aus sehr alter Überlieferung
stammen, so haben sie sich auch weiter fortgepflanzt, durch die heil-
mittellehren der arabischen und salernitanischeu ärzte, und dann widerum
durch die von deutschen ärzten verfassten kräuterbücher bis über das
16. Jahrhundert hinaus. Und wenn sie gegenwärtig auch aus den gelehr-
ten botanischen und medicinischen handbüchern verschwunden sind, so
bewahrt doch noch manche erfahrene hausfrau und hausmutter eine
reiche kentnis altbewährter hausmittel aus dem pflanzenreiche, und
verficht die in eigener erfahrung erprobte Wirksamkeit derselben tapfer
gegen die gleichgiltige oder gar abschätzige meinung des akademisch
gelehrten arztes. Andrerseits freilich mag auch gar manches stück des
heute noch unter dem volke gangbaren aberglaubens aus solchen alten
und zum teil uralten Überlieferungen herstammen.
Heutiger wissenschaftlicher prüfung würden sich vielleicht nicht
wenige von Macers angaben als medicinisch wertlos oder aucli irrig
und sogar schädlich herausstellen , damals jedoch wurden sie algemein
für glaubwürdig gehalten , durch das ganze mittelalter fortgeführt , und
mit neuen angaben vermehrt, welche eben so gläubige aufnähme fan-
den, bis endlich nach dem wideraufleben der klassischen Studien kritik
und eigene forschung erwachte und almählich erstarkte, wie denn auch
die ärzte des 16. Jahrhunderts in ihren kräuterbüchern das selbsterfah-
rene und selbst erprobte ausdrücklich betonen. Je weniger man aber
14*
212 J. ZÄCHEK
im mittelalter die glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit der angaben
Macers bezweifelte, desto mehr empfahl sich das büchlein den gelehr-
ten durch die handlichkeit seines umfanges und durch die gefälligkeit
und bequemlichkeit seiner hexametrischen versform. Und weil es durch
seine beschränkung auf leicht und überall erreichbare mittel zugleich
auch dem bedürfnisse der ungelehrten so vorzüglich entgegenkam , ward
es auch diesen durch deutsche Übersetzung zugänglich gemacht.
Hieraus ergibt sich, dass die deutsche bearbeitung des Macer
Floridus einen nicht unerheblichen kultur - und litteraturgeschichtlichen
wert besizt. Aber auch in sprachlicher beziehung ist sie von Wichtig-
keit, teils überhaupt als ein denkmal der deutschen lehrhaften prosa
des 13. und 14. Jahrhunderts , teils auch , weil sie eine anzahl minder
üblicher ausdrücke darbietet, die in Sprachdenkmälern anderen Inhaltes
selten oder gar nicht begegnen. Joseph Haupt hat volkommen recht,
wenn er, in seiner abhandlung „Über das mitteldeutsche arzneibuch des
meisters Bartholomaeus," die deutschen philologen wegen ihrer Vernach-
lässigung der mittelalterlichen naturwissenschaftlichen und medicinischen
litteratur tadelt, und ihnen zu kritischer bearbeitung und herausga,be
insonderheit empfiehlt: das grosse methodische medicinische werk,
welches die mittelhochdeutschen Wörterbücher als „Diemers Arznei-
buch" bezeichnen; die Practica des Meisters Bartholomaeus; den
Macer Floridus; und das Obst- und Weinbüchlein des Gotfried
von Franken.^ Leicht und bequem ist eine solche arbeit freilich
nicht, wegen der sehr verwickelten und verzwickten handschrift-
lichen Überlieferung, viel nützer aber und viel verdienstlicher wäre sie
unzweifelhaft als die besorgung eines abdruckes so mancher wertlosen
reimerei.
Ein recht schlagendes zeugnis für die algemeine Verbreitung und
die hohe Schätzung dieser arzneibücher während des mittelalters gewährt
eine äusserung des bruder Berthold , der als wirksamer volksprediger
seinen nach tausenden zählenden und aus allen ständen gemischten
Zuhörern doch nur derartiges darbot, was allen fassbar und einleuch-
tend war, und eben deshalb seines wuchtigen eindruckes nicht verfehlte.
In einer predigt „Von des libes siechtuom unde der sele töde" sagt
er : ^ „ Sumeliche liute hänt den siechtuom , den alle meister nicht ver-
tribeu künnent; unde gieugen alle meister zuo, die von erzenie ie
geläsen, die künden etelichen siechtuom niemer vertriben noch gebüe-
1) In der Wiener papierhandschrift des 14. Jahrhunderts nr. 2977 lautet sein
titel: Lucidarius von allir ley pfroppfunge der boume vud wie man den weyn legen
vnd halden sali.
2) Berthokl von ßegensburg , herausg. von Fz. Pfeiffer. Wien 1862. 1, 517.
MACEE UND DIE DEUTSCHE BOTANIK 213
zen; unde lebte noch lier Galienus uiide her Oonstantinus imde her
Avicennä unde her Macer unde her Bartholomeus , — die wären die
aller hohesten meister die von erzenie ie geläsen, unde habeut alle
künste erfunden und erdäht, diu von erzenie ie wart erdälit — , unde
lebten die alle noch , sie möhten etelichen siechtuom niemer gebüezen."
Und ungefähr um dieselbe zeit rühmt den Macer in gleich bevorzugen-
der weise der Verfasser des deutschen Cato, wenn er (ed. Zarncke,
Leipzig 1852. s. 40) mit bezeichnender gegenüberstellung sagt : über
die kräfte der pflanzen gebe Macer auskunft, wie Marbod über die
der steine:
Wildü kündic werden
240 ze büwen die erden,
daz si dir vruht müez gebende wesen,
so soltü Virgiljuui lesen;
so tuot dir Macer kuntschaft
würzen unde kriuter kraft,
245 der steine Lapidärjus;
strit und urliuge Lücänus.
Den oben abgedruckten bruchstücken einer deutschen bearbeitung
des Macer Floridus habe ich, um die beurteilung des deutschen textes
zu sichern und zu erleichtern, die entsprechenden stücke des latei-
nischen textes nach Choulants ausgäbe beigegeben. Auch habe ich
einige berichtigende oder erläuternde anmerkungen hinzugefügt, wofür
die obengenanten arzneimittellehren und kräuterbücher in ihren ent-
sprechenden, teils aus Macer selbst geschöpften, teils aus derselben
Urquelle und Überlieferung herstammenden angaben verlässigen anhält
darboten.
Vergleicht man nun den deutschen text mit dem lateinischen, so
ergibt sich, dass der deutsche bearbeiter seine aufgäbe im algemeinen
mit richtigem Verständnis und anerkennenswertem geschick gelöst hat,
so dass ihm nur wenige und geringfügige versehen untergelaufen sind.
Übergangen hat er gleichfals nur weniges, und meistens nur solche
stellen, welche gelehrte litterarische notizen enthalten, und ihm des-
halb practisch entbehrlich schienen, oder auch solche, welche geschlecht-
liche Verhältnisse in einer ihm anstössigen weise berühren. Dagegen
bieten die hier abgedruckten deutschen bruchstücke drei kapitel dar,
welche sieb im lateinischen texte des Macer Floridus nicht vorfinden,
weder in dessen alten echten kapiteln, noch unter den später hinzu-
gekommenen unechten, die Choulant seiner ausgäbe des Macer, und
auch nicht unter jenen unechten, die Keußs seiner ausgäbe des Hortu-
214 J. ZACHER
lus von Walafrid Strabus ^ anhangsweise beigefügt hat. Es sind die
kapitel xvj. Beta, heisgresse; xsx. Cucumer, cuntir; xxxj. Cerviboletum,
Mrsesswam.
Anlangend kapitel 16. Beta, lehrt die vergleichung mit den Pan-
dectae medicinae des Silvaticus, dass das im deutschen texte dieser
bruchstücke gesagte dem inhalte nach im wesentlichen übereinstimt
mit dem was Silvaticus darbietet als geschöpft aus Dioscorides, und
dasselbe ergebnis liefert für das in kapitel 30 über Cucumer berichtete
die vergleichung mit dem Liber de simplicibus des Serapion. Demnach
ist zu vermuten, dass der deutsche bearbeiter des Macer diese beiden
kapitel aus einem lateinischen Dioscorides, oder aus einer von diesem
abgeleiteten quelle entnommen und eingeschaltet habe. — Dagegen ist
es mir nicht gelungen von kapitel 31. Cerviboletum, die quelle zu ent-
decken. Gemeint ist nach aller Wahrscheinlichkeit Lycoperdum cervi-
num , hirschtrüffel , ein schwamm , der ehemals unter der benennung
Boletus cervinus in der medicin gebraucht wurde. ^ Der lateinische
Macer, Serapion, Platearius, Silvaticus, und der Ortus sanitatis bieten
nichts entsprechendes. In den kräuterbüchern von Bock und Fuchs
sind die schwämme überhaupt nicht behandelt, und Tabernaemontanus
widmet ihnen gegen ende seines Werkes nur ein kapitel, in welchem
er der „Hirtzbrunst," oder des „Hirschschwammes," oder der „Erd-
morchel " und ihrer Wirkung nur ganz kurz und obenhin gedenkt. —
Ebensowenig habe ich bei kapitel 32 die quelle der wunderlichen in
der deutschen bearbeitung gebrauchten lateinischen und deutschen benen-
nungeu: „Caratum, stopf den buch'''' auffinden können. Gemeint ist
zweifellos, wie die vergleichung des lateinischen textes beweist, „Inula
Helenium ," oder , wie die benennung früher gewöhnlich lautete , „ Enula
campana, Alant." Für ein lateinisches Caratum wolte sich nirgend
ein anhält darbieten, und die anderwärts ebenfals vergeblich gesuchte
deutsche benennung „ Sto^if den buch " stimt doch kaum zu dem im
texte über die Wirksamkeit der Inula berichteten.
Alle drei kapitel 16. 30 und 31 scheinen aber bereits der älte.-
sten deutschen bearbeitung des Macer angehört zu haben. Denn kap. 16.
Beta, heizgresse unserer bruchstücke entspricht nach aller Wahrschein-
lichkeit dem kap. 67. hetz in der (oben als nr. 2 verzeichneten) Wiener
handschrift nr. 5305 , nach Haupts angäbe in seiner abhandlung Über
das arzneibuch des meisters Bartholomaeus s. 85 [533]; und gleicher-
weise scheint kap. 30. cucumer, cuntir unserer bruchstücke dem von
1) Walafridi Strabi Hortulus, auctore F. A. Reuss. Wirceburgi 1834.
2) Nemnich, Polyglotten -lexicon der natiirgeschiehte 3, 473. s. v. Lycoper-
dum cervinum.
MACER UND DIE DEUTSCHK BOTANIK 215
Haupt ebendaselbst angefürteii kap. 86 pedeme derselben Wiener hand-
schrift zu eutsprcchon. Endlich kap. 31. cerviboletum unserer bruch-
stücke begegnet ebensowol in derselben Wiener handsclnift nr. 5305,
wie in der oben als nr. 3 verzeichneten vaticanischen nr. 4847, und
zwar in beiden als kap. 90. cerviboletus, liirzsivam.
Wenn aber , nach der kapitelzahl der beiden eben genanten hand-
schriften, der Wiener und der vaticanischen, zu schliessen, die älteste
deutsche bearbeitung 90 kapitel enthielt , so übertraf sie den nur
77 capitel darbietenden lateinischen text um 13 kapitel, welche folg-
lich der deutsche bearbeiter aus anderen quellen entnommen haben
muss.
Endlich bleibt noch zu erwähnen, dass auch eine Übersetzung in
deutsche gereimte verse, aber eine ziemlich übel geratene, neuerdings
aufgefunden worden ist, in einer 299 folioblätter befassenden papier-
handschrift aus dem anfange des 15. Jahrhunderts in der Biblioteca
Bertholiana zu Vicenza , über welche A. Schönbach in Haupts Zeitschrift
für deutsches altertum (Berlin 1877) 21, 434 eine kurze nachricht mit-
geteilt hat. Sie folgt in dieser handschrift nach einem italienisch -
lateinischen kräuterbuche auf den blättern 142 — 269, und begint:
Erbarum quasdam dicturus carmine vires
Herbarum matrem, dedit Arthemisia nomen
cui grecus sermo, justum puto pouere primum.
Ich wirdt sagen von etlicher wurtzen kraft
als ich gefunden hab in der maisterschaft.
dy kriechisch sprach hat geben an allen list
der pesmalten ^ ein besunderen nam ze diser frist,
ain muetter der kreutter, und Arthemisiam;
und darumb ist recht von ir zu heben an.
Der schluss lautet bl. 269 :
Hie ist explicit Macer Herbarum,
aber du solt nicht fragen warumb.
HALLE, APRIL 1880. J. ZACHER.
1) pesmalte, d.i. besenmelde, ist ein vulgärname der Artemisia abrotanum,
der stabivurz. Diese benennung fehlt in den Wörterbüchern von Müller- Zarucke,
Lexer und Grimm , wird aber aufgefülirt von Diefenbach in seinem Glossarium
latino-germanicum (Prancof. 1857) s. 51 '' unter artemisia als pesemnalten. Des-
gleichen bieten Bock s. 129*, Tabernacmontanus 1, 52 und Nemnich 1, 466 für
artemisia abrotanum, stabivurz, die ganz ähnlich gebildete Vulgärbenennung besen-
kraut.
21G BEHAGHEL, DATIV UND ACCUSATIV
DATIV UND ACCUSATIV.
Zu ztschr. 11, 73.
Kinzel will in seinem autsatze in dieser ztschr. XI, 73 meine
Untersuchung Germ. XXIV, 24 fgg. ergänzen. Besonders findet er es
einseitig, dass ich nur von casusvertauschung beim pronomen gespro-
chen habe, während doch beim Substantiv ebenfals accusativ für dativ
und dativ für accusativ vorkomme. Dies erhärtet er durch eine reihe
von belegen. Vermutlich ist mancher leser dieser Zeitschrift zur ansieht
gekommen, dass mich die götter mit blindheit geschlagen. Glücklicher
weise aber liegt das übersehen nicht auf meiner seite. Erstens
hat Kinzel folgenden satz meiner abhandlung übersehen (s. 30): „...
habe ich hier bei der Zählung die beispiele, wo der casus von einer
Präposition begleitet ist, nicht berücksichtigt. Denn in diesen fällen
beschränkt sich die vertauschung nicht auf die pronomina; sie erscheint
algemein, auch bei Substantiven. Hier geht sie offenbar aus von
den Präpositionen, die sowol dativ als accusativ regieren, dehnt sich
dann nach und nach mit der zeit so ziemlich auf alle präpositio-
nen aus."
Zweitens hat er übersehen — und das ist schlimmer — , dass
unter seinen beispielen von accusativ der substantiva statt dativ kein
einziges ist, wo nicht der casus mit einer präposition ver-
bunden wäre. Nicht einmal das ist ihm aufgefallen, dass unter den
14 aus Alexander angeführten beispielen von apocope des e im dativ
der substantiva dreizehn fälle des angeblichen dativs bei präpositionen
stehen (und das vierzehnte ist verdorben). Diese fälle sind natürlich
ebenso zu beurteilen , wie die von ihm s. 76 unter c angeführten , d. h.
es steht accusstiv statt dativ bei der praeposition.^ Die von Kinzel
beigebrachten tatsachen von accusativ des Substantivs für dativ sind
also gerade diejenigen, deren heranziehung ich ausdrücklich und aus
guten gründen zurückgewiesen hatte. Denn dass eine casusvertauschung,
die nur bei präpositionen stattfindet, nichts zu tun haben kann mit
einer solchen, die bei allen Verwendungen der betreffenden casus ein-
tritt, das liegt auf der band. Aus gleichem gründe ist es auch unzu-
lässig, die von Kinzel und mir angeführten vertauschungen mit der
tatsache in Verbindung zu bringen , dass auf niederfränkischem , nieder-
deutschem und teilweise auf mitteldeutschem gebiet der dativ des star-
ken adjectivs von einer gewissen zeit au auf -e« statt auf -e/M ausgeht,
]) Übrigens kann keine rede davon sein, dass in liüs das dativ -e apoco-
piert sei.
THIELE, BRIEFE AN ESCHENBÜRCx
217
also accusativ imd chitiv des masciüins gleich werden (aber nicht des
feminins und des neutrums!).
Auch die wenigen beispiele von dativ des Substantivs für accu-
sativ haben weder mit den casusvertauschungen des pronomens noch
mit dem Übergang des m in u etwas zu tun. Es sind nur einzelne
bestimte verben: ein paar beispiele bei heilen, ^ eines bei miiowen,
eines bei gcrinwcn. Dunken, von dem Kinzel ein beispiel anführt,
gehört nicht hierher (got. thugkeith misü). Bei heizen richtet sich der
dativ nach der construction bei dem synonymon gebieten, bei muowen
und riuiven nach ausdrücken wie : mir ist wc, mir ist leide usw. Kin-
zel selbst illustriert die tatsache, dass ein wort die constructionsweise
eines synonymons erhalten kann; er schreibt s. 74: „Einer besonderen
erwähnung verdienen die fälle."
HEIDELBERG, DEN 17. FEBK. 1880 OTTO BEHAGHEL.
BRIEFE AN JOH. JOACH. ESCHENBURG.
I. Von Christian Felix Weisse.
A Monsieur
Monsieur Eschenburg,
Gouverneur ^ au College illustre de &
ä Brunsvs^ig.
Warum so viele Entschuldigungen, mein liebster Freund;, über
Ihre verzögerten Beyträge zur Bibliotheck ? ^ es ist ja ohnedieß bloße
Güte, daß Sie in Zukunft Theil daran nehmen wollen.^ Ich danke
Ihnen also von ganzem Herzen für das Ueberschickte : beunruhigen Sie
sich wegen des nächsten Stückes nur nicht: ich will es so gut auszu-
füllen suchen , als ich kann , da mir die itzigen Festtage * einige Stun-
den Zeit verschaffen, Die Abhandlung über die Chinesische Malerey,
die ich auch schon zu übersetzen angefangen , wird recht gut , die Stelle
der Abhandlung vertreten.^ Ob des Guys Lettres sur les Grecs eine
ßecension verdienen, zweifle ich beynahe: was er von Künsten sagt,
ist ka^m der Mühe werth und wie mich deucht, schon zehnmal besser
gesagt.*^ Bei der Recension des Lessingischen Trauerspieles habe ich
das Bedenken , daß gleichwohl diese Zeitung , die wenigstens bey uns
hier bekannt ist , in fremde Hände fallen und den Verfassern der Biblio-
theck, die mau nicht kennt, den Vorwurf des Abschreibens zuziehen
möchte.'^ Zweytens bin ich noch immer der Meynnng, daß ich die
1) Vgl. Eilh. 4380 dö hiz he cleme hnapin. Serv. 1 , 58 als hy synen jonghe-
ren Met. Herb. 26263 und hiezen in (sc. den fromven).
218 THIELE
Bibliotheck mehr den Künsteu und Aestlietischen Büchern als dem deut-
schen Witze ^ gewiedmet seyn lasse. Ich habe es aus der Erfahrung,
daß man entweder nichts thun, als loben, oder sich den größten kriti-
schen Anfechtungen aussetzen muß, wenn man seine Gedanken mit
Freymüthigkeit zu sagen waget : ^ dieß lezte würde aber mein Leben
mit Unruhe erfüllen, und ich habe weder Muth noch Kräfte, mich in
Streitigkeiten einzulassen , noch eine bittere Eache gleichgültig zu ertra-
gen, die gelegentlich nicht außen bleibt. Dieß ist auch die wahre
Ursache , warum ich bisher auch von unsern besten kSchriftstellern , oder
vielmehr Dichtern geschwiegen habe. Ich habe dadurch so viel gewon-
nen , daß ich auch dadurch die Zudringlichkeit der mittelmäßigen Köpfe
von mir abgewiesen habe, die mir Kecensionen abgefodert haben. Ich
weiß nicht, ob Sie diese meine Beweggründe für gut halten: aber ich
denke, unsterbliche Werke werden ohnedieß von aller Welt gelesen:
die gelehrten Journale und Zeitungen sind itzt so eine große Menge,
die jedes Werk dieser Art anpreisen, daß wenn ich auch nichts dabey
thue , als bloß mit einstimmen , für das Publicum , nicht der mindeste
Vortheil erwächst. Aesthetische und Kunstbücher zu prüfen, ist aber
der wenigsten ihre Sache: wenige Journale lassen sich darauf ein und
gleichwohl nimmt die Kunstliebhaberey so itzt unter uns zu, daß sie
vorzüglich ein Gegenstand der Kritick zu seyn scheinet. Wenn ich bis-
weilen eine Recension über Poesien mit eiugestreuet habe, so ist es
der Abwechslung wegen, und bey solchen Schriftstellern geschehen,
die bey Genie noch Besserung bedürfen, die meine Kritick nützen kön-
nen und von denen ich hoften darf, daß sie mir verzeihen, wenn ich
auch irrte. Doch dieß sage ich Ihnen alles ins Ohr, als einem meiner
Busenfreunde. Sie haben doch meiner Sophia *" Ihre Kritick beygefügt?
Dieß wünsche ich vornehmlich. Herr Döbbelin^^ ist hier und ich freue
mich darauf, unseres Lessings treffliche Emilia zu sehen: er wird,
wie ich höre , damit den Anfang machen. Gern schrieb ich ihnen mehr,
mein Theuerster , aber man fodert mir meinen Brief ab. Ihre Beyträge
zur Bibliotheck will ich Ihnen nach den Bogen getreulich berechnen
und die Mad. Dyckin ^^ bittet sich aus, ihr nur wissen zu lassen, was
Sie gern von ihren Verlagsbüchern haben möchten. Meine Frau und
Kinder empfehlen sich Ihnen freundschaftlich auf das lebhafteste. Erhal-
ten Sie mir des Herrn Pr. Eberts/^ Gärtners,^* und Lessings Gewo-
genheit.
Ich bin lebenslang
Ihr
Leipzig d. 16. Apr. [1772]. Weiße.
Eiligst.
BRIEFE AN ESCHENBÜRG
II. Von Fried. Nicolai.
219
1.
Herrn Prof. Eschenburg Berlin tl. 15. Dec. 1781.
in Braunschweig.
Ich bitte Sie um Verzeihung mein theuerster Herr und Freund
daß ich Ihr Schreiben v. 14. Novbr nicht eher beantwortet habe. Ich
habe wirklich so viele Geschäfte vorgefunden, dalS ich Ihnen jetzt auch
nur in großer Eile schreiben kann.
Daß ich das dankbarste Andenken an die glücklichen Tage hege,
die ich in Ihrer Gesellschaft zugebracht habe, können Sie mir gewiß
glauben. Wollte Gott ich könnte so glücklich seyn, Sie ganz hier zu
sehen. Aber was könnten wir Ihnen hier anbieten , was Ihrer dortigen
Lage gleich käme. Wenigstens hofte ich doch, daß Sie einmahl eine
Reise hieher thun werden.
Ich danke Ihnen für die Schriftproben die recht gut sind, und
über die Preise des Druckes würde sich ja allenfalls auch mit dem
Drucker eine Auskunft finden laßen. ^^ Aber die Hauptschwierigkeit ist
immer noch das Papier. Wenn sich Herr Rückling nicht sollte bewe-
gen lassen, für solches Papier wie Lessings Bejträge haben, ^® zu
sorgen, so muß ich Sie mein bester Freund bitten, sich die Adresse
an den Papiermacher geben zu lassen (die ich hier nicht finden kann)
an denselben einen Bogen zur Probe zu senden, und ihn zu fragen, ob
er etwa 5 ä 6 Pallen solches Schreibpapieres diesen Winter noch
liefern könne, und wie theuer, frcö bis Braunschweig liefern könne,
gegen gleich baare Bezahlung, sobald es Probemäßig geliefert wor-
den. Ich habe die Anzahl der Pallen angegeben , in der Meinung,
daß es 25 ä 30 Bogen ä 1000 Auflage werden würden. Sollten Sie
es stärker schätzen, so bitte ich Sie, verhältnißmäßig die Anzahl
des Papieres zu schätzen. Sobald ich den Preis erfahre, so werde
ich gleich die Bestellung gleich ganz richtig machen. Verzeihen Sie
daß ich Sie hiemit beschwere. Ich weiß mir nicht anders zu helfen.
Nun bitte ich Sie auch mir gelegentlich zu melden ob ich hoffen
darf, daß der 2. Band zum Hederich^' der ganz Ihre Arbeit seyn
wird,'^ zu Ostern 1783 gedruckt zu sehen hoffen kann, und wann
Sie glauben , daß der Anfang des Druckes geschehen könne. Auch bitte
ich den lieben H. Schmid Ph. (den ich von ganzem Herzen umarme)
zu ersuchen, daß Er Ihre Intention hierüber in seiner Vorrede zum
1. Bande bekannt machen möge. ^^
Ich habe Ihnen ein Pro M. wegen verschiedener Nachrichten die
ich verlangte, hinterlaßen, das ich Ihrer gütigen Besorgung empfehle.
220 THIELE
Zwey ähnliche P. M. über andere Nachrichten habe ich an H, Ch. Schmid
Ph. und H. Bibliothekar Langer ^^ gegeben. Seyn Sie doch so gütig
beide daran zu erinnern.
Auch wünschte ich eine genauere Beschreibung der gläsernen
Maschine in der herzoglichen Naturalienkanimer in Brauuschweig, wo-
durch der Umlauf des Blutes vorgestellt wird. Ich habe den H. Prof.
Zimmermann ^ * in einem Billet darum gebeten. Darf ich bitten , die-
sen lieben so gern procrastinirenden Mann daran zu erinnern.
In den Gothaischen Gelehrt. Zeitung, nr. 70 von 1781 steht: Ein
Windmüller Felter in Leinde bei Wolfenbüttel habe einen Wagen ver-
fertigt , mit welchem er ohne Pferde vermittelst, des Windes fahre.
Ich wünschte Nachricht, ob dieses wahr? und in solchem Fall
genaue Beschreibung der Maschine und ihrer Wirkung.
Verzeihen Sie die viele Bemühung, die ich Ihnen verursache.
Ich bitte Sie noch, mich und meinen Sohn^^ Ihrer liebenswürdigen
Frau Gemahlinn, Ihrem Herrn Schwiegervater,^^ und allen den ver-
ehrlichen Leuten, in deren Umgang ich so vieles Vergnügen gehabt
habe zu empfehlen. Ich bin von ganzem Herzen
Ihr ergebenster Diener
Fr. Nicolai.
Herrn 2.
Herrn Eschenburg
HerzogL Hofrath und Professor Berlin den 6. August 1803.
am Carolinum
zu Braunschweig.
Ich ^^ habe , mein würdigster Herr und Freund , Ihr Schreiben
vom 18. Julius zu seiner Zeit richtig erhalten. Meine Handlung hat
Ihnen auch das 6. 7. 8. Heft von Herders Adrastea^^ gesendet.
Ach mein theuerster Freund, ich habe wohl der Eeise nach Pyr-
mont entsagen müssen, denn, es macht mir nicht nur, die A. D. B.,^^
vereint mit meinen übrigen Handlungs- und anderen Geschäften so
unbeschreiblich viel Arbeit, daß ich mich gar nicht besinnen kann,
und beynahe den Gedanken fassen mul^, die A. D. B. aufzugeben,
sondern es ist mir auch in dieser zeit so unbeschreiblich viel häus-
licher Kummer zubereitet, daß ich wohl voraussehen konnte es würde
vergeblich seyn, eine Keise zur Kur unternehmen zu wollen, zu einer
Zeit wo mir natürlich die Euhe des Gemüths ganz fehlen muß. Mein
einziger übergebliebener Sohu^' der in der günstigsten Laufbahn ist,
indem er in jungen Jahren schon erster Kammer -Direcktor in Kaiisch
und sehr glücklich verheirathet ist,^^ bekam bey dem sehr heißen
Anfange des Aprills einen gefährlichen Blutsturz. Er hatte alzufrüh
BRIEFE AN ESCHENBURG 221
wieder angefangen zn arbeiten, und so bekam er im Junius ein noch
gefährlicheres Recidiv. Zwar ist er nun seit Kurzem aus dem Bette
aufgestanden , aber noch , sonderlich wenn er wieder in die Geschäfte
kommt, nicht außer der Gefahr eines zweyten Recidiv, welches ihn
wahrscheinlich tödlich seyn würde. ^^ Meine älteste Tochter^" kam im
May mit ihrem dritten Kinde nieder , hatte eine schwere Geburt und
befand sich seitdem so schwach daß die Zufälle sehr bedenklich waren,
und wohl voraus zu seilen war, sie würde lange schwach bleiben. Sie
schien sich etwas zu erholen, aber den 18. Julius starb ihr kleinstes
Kind. Nachdem sie dasselbe bey eigner Schwäche schon an 14 Tage
lang gepflegt , hatte sie wohl für ihre Kräfte allzuviel gethan , und so
gefast auch ihr Geist ist, so hat doch seitdem ihre Krankheit so zu-
und ihre Kräfte so abgenommen , daß wir ihrer Auflösung täglich ent-
gegen sehen müssen, und fast gar keine Hoffnung übrig bleibt. Meine
jüngste Tochter ^^ von der die Kranke Tag und Nacht gepflegt wird,
geht auch zu Grunde, und siebet wie ein Schatten aus. Mein Schwie-
gersohn vergeht vor Kummer. Was ich dabey leide, können Sie sich
vorstellen , ohnerachtet ich alle Kräfte anwende mich zu fassen , um
auch die Meinigen nicht meinetwegen zu betrüben. Aber wie viel mich
diese Philosophie kostet, und wie heftig sie auf mein Innerstes wirkt,
ist nicht auszusprechen. Beschäftigung durch Arbeiten mancher Art ist
noch mein bester Weg zu einiger Erholung; aber [wer] weis ob in
einiger Zeit meine Kräfte auch dazu zureichen werden, denn mein
häusliches Glück, mein Einziges, hat einen harten Stoß gelitten. Ich
höre iudeß nicht auf mir selbst Ruhe zu predigen, und es gelingt mir
in so weit, daß ich wenigstens meine notliwendigsten Geschäfte ver-
richten, und meine betrübten Kinder in etwas trösten kann. Auch ist
meine Gesundheit leidlich, bis auf einen seit vorigen Winter eingewur-
zelten Husten. Leben Sie wohl mein theurer Freund und bleiben Sie
gesund und glücklich, ich bin von ganzem Herzen
der Ihrige
Fr. Nicolai.
N. S. Noch einen Tag ehe das Kind starb, und unsers äußerstes
Unglück angieng , war ich mit meiner jüngsten Tochter in Kl. Schöne-
beck auf einem kleineu Feste wegen H, Fred. Rapps (dessen Gattin Sie
kennen) silbernen Hochzeit. Ich hielt dabey eine Rede , die anbey liegt.
Aumerkung-en.
Im besitze des herrn geh. oberjustizrates 0. Preuss , früheren chefs des
obergerichts , z. zt. bibliothek. der öffentlichen bibliothck zu Detmold, befindet
sich eine wertvolle autographensamlung. Zu dieser gehören die oben gedruckten
222 THIELE
drei briefe, welche mir der besitzer nicht nur in der freundlichsten weise zur ver-
öifentlichung überlassen hat, sondern bei deren drucklegung er mich auch durch
seinen beirat auf das trefflichste unterstüzte. Die briefe selbst erhielt herr Preuss
von seinem Schwiegervater, dem im jähre 1861 in Detmold verstorbenen regierungs-
präsidenten Wilhelm Arnold Eschenburg (vgl. d. Allgem. Deutsch. Biographie s. v.
W. A. Eschenburg), dem söhne Johann Joachim Eschenburgs. Der vater des herrn
Preuss, legationsrat Frz. Ludwig Preuss, zuerst ingenieuroffizier in preussischen
und hannoverschen diensten , dann vom jähre 1808 an bis zu seinem tode lehrer
der mathematik und geographie am gymnasium zu Detmold (starb 1845, vgl. das
Programm des gymuasiums Leopoldinum zu Detmold v. j. 1845), war mitarbeiter
an der Allg. Deutsch, und Neuen Allg. Deutsch. Bibliothek von Fr. Nicolai (vgl.
die Mitarbeiter z. Fr. Nicolais Allg. Deutsch. Bibl. v. G. Parthey, 1842, s. 22);
wir werden unten in anm. 26 auf ihn zurückkommen. Die briefe sind genau in der
Orthographie und mit der Interpunktion der originale abgedruckt.
1) Da Job. Joachim Eschenburg von Michaelis 1767 bis 1773 ,, öffentlicher,
in herzogl. diensten stehender hofmeister" (gonverneur d. i. ein junger lehrer
„zur aufsieht über die in dem collegiengebäude wohnenden jungen leute" — vgl.
Entwurf einer Geschichte des Collegii Carolini in Braunschweig v. J. J. Eschen-
burg, Berlin und Stettin bei Fr. Nicolai 1812, s. 18) am Collegium Caroliuum war
(vgl. Jördens Lexicon Deutscher Dichter und Prosaisten VI. bd. s. 768) , aber bereits
am anfange des Jahres 1773 zum professor an derselben anstalt ernant wurde (vgl.
Entwurf usw. s. 66) , ferner da Lessings Emilia Galotti am ende des briefes erwähnt
wird, welche bekautlich am anfange des Jahres 1772 gedruckt (vgl. Karl Lessings
briefe an seinen bruder vom 14. jan., 1. febr. , 3. febr. , 15. febr. , 29. f ehr. und
12. märz 1772, Lessings Werke bei G. Hempel bd. XX. 2. abteilung Briefe an Les-
sing, herausgegeben von Redlich, s. 541fg. , 552 fgg., 558, 561 fg. , 570 fgg., und
von Lessiug an Voss vom 25. jan. 1772 und an seinen bruder Karl vom 25. Jan.,
10. febr. und 1. märz 1772, a. a. o. erste abteilung s. 475 fg., 474 und 482 fg.) und
bereits am 13. märz 1772 in Brauuschweig zum geburtstage der verwittweten her-
zogin nach dem manuscripte des dichters von Döbbelin (vgl. Danzel-Guhrauer
Lessings Leben und Werke, 11, 1 s. 37 und Eberts brief an Lessing vom 14. märz
1772, a. a. o. , erste abt. s. 576 fg.) so wie am 6. april 1772 in Berlin (vgl. die
briefe Nicolais an Lessing vom 7. april 1772 und Karl Lessings vom 12. april 1772,
a. a. 0. s. 583 fgg. und s. 589 fgg.) auf dem Kochschen theater (vgl. Brachvogel
Gesch. d. kgl. Theaters zu Berlin L s. 238) aufgeführt wurde , so muss der brief
am 16. april 1772 geschrieben sein; hiermit stimt auch die zeit der Veröffentlichung
von Weisses abhandlung, welche in der 4. anmerkung erwähnt wird.
2) Es ist natürlich die von Nicolai im jähre 1757 gegründete und seit 1759
vom 5. bis 12. bde. von Weisse redigierte „Bibliothek der schönen Wissenschaften"
gemeint, welche seit 1765 unter dem titel „Neue Bibliothek der schönen Wissen-
schaften und freyen Künste " von Weisse fortgesetzt wurde. Anfänglich hatte Weisse
die herausgäbe allein besorgt , dann mit dem Verleger Dyk zusammen , zulezt über-
liess er sie demselben gänzlich. Sie gieng mit dem 72. bände im jähre 1806 ein.
3) Da die recensionen in der ,, Bibliothek" anonym erschienen, so lässt sich
nicht ermitteln, welche Beiträge Eschenburgs Weisse im sinne hat.
4) Es sind die osterfoiertage des jahres 1772; ostern fiel in diesem jähre am
19. und 20. april, also schrieb Weisse am grünen donnerstage.
5) In der N. Bibl. d. seh. W. und fr. K. steht immer eine abhandlung voran,
dann folgen die recensionen. Die bezeichnete abhandlung führt den genauen titel:
BRIEFE AN ESCHENBURG 223
Auszug eines Schreibens des P. Amiot aus Peking vom I.März 1769, welches
Nachrichten von dem Jesuiten Attiret, einem dortigen geschickten Maler, und von
dem Zustande der Malerey in China überhaupt enthält (Anmerkung: Dieser auszug
ist von dem herrn Deguignes und im Journal des Schavans Juin 1771 befindlich)":
sie erschien in der bibliothek band XIII, 1772, stück II s. I!i7 — 225.
6) Merkwürdig ist es, dass Weisse trotzdem diese abhandlung damals selbst
übersetzte, und zwar unter dem titel: liiterarische Reise nach Griechenland oder
Briefe über die alten und neuern Griechen, nebst einer Vergleichung ihrer Sitten
von Herrn Guys. Aus dem Französischen. Erster, zweiter teil. Leipzig 1772,
(1 rth. 6 Gr.): vgl. Jördens, s. v. Weisse, bd. V. s. 289.
7) Wahrscheinlich hatte Eschenburg das eben erschienene und die grösste
aufmerksamkeit erregende trauerspiel Lessings, Emilia Galotti, in irgend einer
gelehrten zeitung besprochen, vielleicht in dem „Gelehrten Beiblatte zu den Braun-
schweigschen Anzeigen ," für welche er schrieb (vgl. Schiller, Braunschweigs schöne
Literatur in den Jahren 1745 bis 1800, 1845, s. 83), oder wahrscheinlicher han-
delt es sich um die von Redlich (Lessings Werke XX. bd. 1. abteilung, Brief an
Eva König vom 15. märz 1772 s. 488 anm. 3) erwähnte besprechung der „Emilia"
in der Hamb. N. Zeitung 1772 st. 47 und 53, von welcher der gelehrte Lessing-
forscher vermutet, dass sie aus Eschenburgs feder herrühre. Eschenburg wolte
also diesen artikel in der N. B. wider abdrucken lassen.
8) ,,Witz'' ist hier in der bekanten bedeutung des 18. jahrliunderts zu neh-
men, = ,,genie," ,,werk des witzes," ,, dichtwerk " ; vgl. Hamburg. Dramat. , her-
ausgeg. von Schröter und Thiele , st. I anm. 3.
9) Weisse bezieht sieb hier auf seine trüben erfahrungen , die er mit Sulzer
imd Bodmer gemacht hatte , vgl. Jürdeus a. a. o. s. 263 — 264.
10) ,, Sophie oder die Brüder" lautete ursprünglich der titel eines bürger-
lichen trauerspieles, welches Weisse 1769 — 70 verfasst hatte, und welches erst
später den umgeänderten titel „Die Flucht" erhielt. Der Verfasser hat es durch
längere zeit zurückbehalten. Er schrieb darüber am 28. december 1772 an Uz :
„Ich habe seit zwei jähren ein trauerspiel liegen; aber so gerne ich mich beschei-
denen kritiken unterwerfe, so möchte ich doch nicht scurrilisiert werden." Nach
Plümike ist es durch Koch am 4. februar 1772 in Berlin aufgeführt worden. —
Vgl. J. Minor, (!hr. Fei. Weisse. Innsbr. 1880. s. 245 fg. — Die Chronologie des
deutschen Theaters, von Ch. H. Schmid, Leipzig 1775, sagt darüber s. 310, zum
jähre 1771: „und von einem neuen trauerspiele desselben, „Sophie, oder die Brü-
der ," darf noch nichts gesagt werden , da es noch nicht im druck erschienen ist."
11) Karl Theophilus Döbbelin (geb. 1720 zu Berlin, nach andern 1727 zu
Königsberg in der Neumark, vgl. Chronologie des deutschen Theaters s. 143, Prutz
Vorlesungen über die Geschichte des deutschen Theaters s. 358), ist der bekante
und in Lessings briefwechsel oft erwähnte theaterprincipal. Da er, wie in anm. 1
bemerkt ist, das manuscript der „Emilia" besass, so wolte er, um von dem neuen
stücke viel vorteil zu ziehen, es wahrscheinlich auch in Leipzig zur aufführung
bringen. Döbbelin , der viel wanderte und die merkwürdigsten Schicksale erlebte,
war zwar damals in Braunschweig, spielte aber grade in Leipzig gern, vorher und
auch noch später, wie z. b. eine notiz in der ,, Chronologie des deutschen Thea-
ters" s. 345 z. j. 1774 beweist: ,,Herr Döbbelin gieng zu o.stern über Magdeburg
nach Leipzig."
12) Die Weissesche bibliothek erschien im Verlage der Dykischen buchhand-
lung in Leipzig.
224 THIELE
13) Joh. Arnold Ebert (1723 — 1795), damals professor der englischen und
griechischen spräche am Collegiuni Carolinum zu Braunschweig.
14) Karl Christian Gärtner (1712 — 1791), zu jener zeit professor der Sitten-
lehre und deutschen redekunst am Coli. Carol.
15) Es scheint, als ob Nicolai bei seinem besuche in Braunschweig bei
Eschenburg den versuch gemacht habe, in der Waisenhausbuchhandlung zu Braun-
schweig, deren factor der gleich darauf erwähnte herr Bückling (nach einer freund-
lichen brieflichen mitteilung des herrn archivrat Hänselmann in Braunschweig war
Heinrich Bückling, nachdem Michaelis 1756 sein amtsvorgänger Wilhelm Christoph
Henning entlassen war, factor der im jähre 1751 gegründeten buchdruckerei des
herzogl. Waisenhauses, in der er, gleich Henning , zuvor als setzer gearbeitet hatte.
Er erweiterte dieselbe mit vielem glück und geschick und starb , dreiundneunzig
jähre alt, am 7. april 1805; vgl. Grotefend Geschichte der Buchdruckerei in den
Hannov. und Braunschweigschen Landen, Hannover 1840) war, artikel seines Ver-
lages drucken zu lassen, wahrscheinlich aus rücksichten grösserer billigkeit, und
zwar wol zuerst die anm. 18 erwähnte neubearbeitung des ,, Hederich"; doch ist
der plan nicht gelungen, da sowol bd. 1 von Schmidt -Phiseldek als bd. 2 von
Eschenburg den gewöhnlichen druckort der Nicolaischen verlagswerke ,, Berlin und
Stettin" tragen, wie ich bei beiden mir vorliegenden Originalausgaben sehe.
16) Nicolai meint von Lessing: Zur Geschichte und Literatur, aus den
Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel. Erster Beitrag, Braunschweig
in der Buchhandlung des Fürstl. Waysenbauses 1773, Zweiter band ebenda 1773,
Dritter band ebenda 1774, Vierter band ebenda 1777, Fünfter band ebenda 1781
von Lessing und Eschenburg, endlich Sechster band ebenda 1781 von Lessing und
Christian Leiste.
17) Mag. Benjamin Hederich, geb. am 12. dec. 1675 zu Geithen, einer stadt
bei Meissen, lehrer an der schule zu Kloster Bergen bei Magdeburg, 1705 rector
zu Grossen - Hayn in Sachsen, starb daselbst am 18. juli 1748 (vgl. Jöcher Allgem,
Gelehrtenlexikon 2. bd. s. v. Hederich). Das betreffende werk von ihm, das 1710
zuerst erschien, führt, wie die mir vorliegende 4. aufläge vom jähre 1725, Witten-
berg bei Gottfried Zimmermanns sei. Wittwe, zeigt, folgenden titel: ,, Anleitung zu
den fürnehmsten Historischen Wissenschaften , sofern solche einem politen
Menschen, insonderheit aber denen, so die Studia zu prosequiren gedenken, nütz-
lich und nöthig."
18) Dieses für seine zeit innnerhin bedeutende buch wolte Nicolai neu her-
ausgeben und übertrug die bearbeltung der 7. aufläge, welche 17G0 erschienen war,
an Christoph Schmidt -Phiseldeck (geb. 1740 in Northeim bei Göttingen, seit 1765
professor des öffentlichen rechtes am Carolinum zu Braunschweig) und Joh. Joach.
Eschenburg. Der 1. band, von Schmidt -Phiseldeck besorgt, erschien 1782, der
2. band, den Eschenburg umarbeitete, 1783. Beide sprechen sich in den ,, vorre-
den" über ihre tätigkeit genauer aus, Schmidt vornümlich auf s. 3 dahin, dass er
das werk für seine zeit brauchbarer machen wolte, ohne die eigentliche bestim-
mung desselben zu einem schulbuche aus den äugen zu setzen , Eschenburg auf der
zweiten seite des ,, Vorberichtes," dass er den Hederichschen plan nicht nur erwei-
tert habe, sondern dass in seiner ganzen arbeit fast nirgend eine spur von der
Hederichs anzutreffen sei.
19) Dies hatte Schmidt auf s. 6 der am 26. febr. 1781 unterzeichneten vor-
rede mit folgenden Worten bereits getan: ,,Der zweite Theil dieses Buches, wel-
BRIEFE AN ESCHENBURG 225
chen Herr Professor Esclienburg ausarbeitet , wird die Mythologie , die römischen
Alterthümer und eine Notiz der klassischen Schriftsteller enthalten , und zur Oster-
niesse 1783 an\s Licht treten."
20) Tianger war Lessings nachfolger in Wolfenbüttel und verwaltete die
bibliothek bis zu seinem am 24. febr. 1820 erfolgten tode. Er schrieb reccnsionen
in die Allgem. Deutsche Bibliothek (darauf bezieht sich wol Nicolais P. M.) und
in die „Göttingischen Gelehrten Anzeigen;" vgl. Schönemaun Hundert Merkwürdig-
keiten der Herzogl. Bibliothek zu Wolfenbüttel, 1849, und 0. v. Heinemann Die
Herzogl. Bibliothek zu Wolfenbüttel, 1878.
21) Eberhard August Wilhelm Zimmermann (geb. 17. aug. 1734) war seit
1766 ordentl. professor am Carolinum und hielt Vorlesungen über mathematik , phy-
sik und naturgeschichte : vgl. Eschenburg Entwurf einer Gesch. des Coli. Carol. s. 92.
22) Hiermit meint Nicolai wol seinen ältesten söhn Samuel Friedrich , der
ihn auf seiner reise durch Deutschland und die Schweiz begleitet hat; er unter-
stützte damals seinen vater in der fiihrung der buchhandlung. Selbst nicht ohne
gelohrsamkeit und durch fieiss ausgezeichnet, starb er leider schon 1790; vgl.
Göckingk Friedr. Nicolais Leben und literarischer Nachlass, 1820, s. 30.
23) Joh. Joach. Eschenburgs gattiu war Dorothea, die tocliter des bekanten
freundes von Lessing, des herzogl. Braunschweig, consistorialrates und professors
der religiou und latinität am Carolinum Konrad Arnold Schmid (geb. 23. febr. 1716,
seit 1760 in Braunschweig, er starb am 16. nov. 1789); vgl. Eschenburg a. a. o.
s. 85 fg. und Schiller a. a. o. s. 75 — 80.
24) Der brief ist dictiert worden , wie es Nicolai in seinen späteren jähren
meist tat; nur die adresse, die nach- und unterschritt sind von seiner eigenen band.
25) Adrastea, herausgegeben von J. G. v. Herder, 5 bände (jeder band zu
2 stücken), Leipzig 1801—1803 (der sechste band erschien erst 1804). Hier ist
also die zweite hälfte des 3. und der ganze 4. band gemeint. Der erstere enthielt:
Horazens ersten brief des ersten buches, der 4. band: Persius, P^inleitung und erste
Satire; vgl. Jördeus lexikon II s. 387.
26) Vielleicht dürfte es nicht uninteressant sein, hier noch einen brief aus
dem nachlasse des am anfange unserer erörterungen erwähnten legationsrates Preuss,
den Nicolai an denselben schrieb, als er ihn zum mitarbeiter an der Allg. Deutsch.
Bibliothek warb, zu veröffentlichen. Dieser brief lautet:
Hoch wohlgeborener Berlin d. 19. Juni 1804.
besonders hochzuehreuder Herr.
Der Herr Oberst v. Massenbach hat mir gesagt, dass Ew. Hochwohlgeboren
geneigt wären, an der allgemeinen deutschen Bibliothek durch Eecensierung neuer
Kriegsschriften Antheil zu nehmen. Dieß ist mir sehr angenehm, und ich bin
daher so frey, Ihnen anbei theils das gedruckte Promemoria von der äußeren Ein-
richtung der Bibliothek und verschiedener dahin gehöriger Circularien als auch
einige neue Bücher zu senden , um deren Recensiou ich bitte. Für das Honorarium
werden 6 rth. für den gedruckten Bogen gerechnet, und Sie bekommen auch gra-
tis ein Exemplar von allen neuen Bänden der Bibliothek, so wie sie herauskom-
men. — Wenn Sie einmal nach Berlin kämen, so würde ich mich freuen, Ihre
persönliche Bekanntschaft zu machen. Ich füge nur noch die Versicherung der voll-
kommenen Hochachtung hinzu, womit ich verharre
Ew. Hochwohlgeboren
ergebenster Diener
Fr. Nicolai.
ZEITSCHR. F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XII. 15
226 KINZEL
N. S. Ihre Zeichen werden sein:
3)t. (deutsch) Hr. (lat.)
womit Sie, nach Gefallen, abwechselnd Ihre Eecensionen zu unterzeichnen belieben.
Kurz nachher, am 25. sept. 1804, zeigt Nicolai in einer gedruckten nach-
richt den empfang zweier am 10. aug. j. j. von Eschenburg eingesanten recensionen
an, wobei er sich in einer eigenhändigen nachschrift entschuldigt, weil er wegen
seiner abwesenheit im bade Pyrmont erst so spät geantwortet habe. — Neben einzel-
nen mahnzetteln um ablieferung von recensionen schliesst dann die correspondenz
bald mit der Übersendung eines drei quartseiten langen promemorias an die sämt-
lichen herren Verfasser der algemeinen deutschen Bibliothek aus dem anfange des
Jahres 1805 (Nicolai sagt darin: „ich trete in wenigen wochen in mein 73. jähr," —
er war geboren am 18. märz 1733), worin Nicolai seinen entschluss mitteilt, die
,, Bibliothek" eingehen zu lassen.
27) Nicolais ältester söhn starb, wie in anm. 22 bereits erwähnt ist, im
jähre 1790; sein zweiter söhn Carl August war auch bereits im jähre 1799 verstor-
ben, und so lebte im jähre 1803 nur noch der jüngste, David. Göckingk, a. a. o.
s. 30 fg., erzählt, dass derselbe Ökonomie theoretisch und praktisch studiert
und auch als Schriftsteller sich in seinem fache hervorgelan habe. Zuerst als
domainen - Intendant in der provinz Südpreussen angestelt , wurde er dann director
der kriegs- und domainenkammer zu Kaiisch.
28) David Nicolai war mit der tochter des geh. oberfinanzrates Parthey zu
Berlin vermählt ; vgl. Göckingk a. a. o. s. 31.
29) Er starb nicht in folge jener blutstürze, sondern eines unglücklichen
Sturzes, den er auf der jagd mit dem pferde tat, bereits im jähre 1804.
30) Wilhelmine Nicolai hatte sich im jähre 1797 mit dem hofrat Parthey,
welcher bei dem general-oberünanzdirectorium zu Berlin angestelt war, vermählt.
Sie starb wirklich im jähre 1803. Ihr söhn ist der Verfasser der Zusammenstellung
der mitarbeiter an der Allg. Dtsch. Bibl. , erschienen 1842. Göckingk a. a. o. s. 31
rühmt sie als eine gebildete, geistreiche und liebenswürdige danie.
31) Auch die besorgnis, welche Nicolai für seine jüngste tochter Charlotte
Macaria hatte, war nicht unbegründet. Göckingk, a. a. o. s. 32 zolt ihr gleiches lob
wie ihrer Schwester; auch besass sie eine sehr schöne stimme, doch soll dies die
Ursache ihres frühzeitigen todes gewesen sein, weil durch die anstrengung, die sie
ihrer schwachen brüst beim singen zumutete, der in ihr liegende keim zur Schwind-
sucht sich weiter ausbildete, denn sie starb bereits im jähre 1808. So muste Nico-
lai das traurige geschick haben , alle seine kinder zu überleben , bis er selbst am
6. Jan. 1811 die lebensmüden äugen schloss.
DETMOLD, na MAI 1880. R. THIELE.
DER WADEL.
Ich habe schon in dieser zischr. XI, 493 darauf hingewiesen,
dass ivndel in Seifrid Helb. III, s. 172 schwerlich eine art badehose
bezeichne, wie A. Schultz in seinem Höf. Leben meint. Das richtige
hätte der Verfasser bei Haupt z. f. d. a. XI, 51 (Zu Wolframs Parzi-
val) gefunden, und wenn er Georg Zappert, Über das badewesen mit-
DER WADEL 227
telalterlicher und späterer zeit im Archiv f. kuude österr. gesch. quel-
len 1859 21. bd. s. 1 — 166 gekant liätte, so wäre einiges in seinem
in. capitel schärfer gefasst worden. Beide handelten etwa gleichzeitig
auch über den gebrauch des tvadels. Ich möchte hier zugleich noch
auf zwei stellen aufmerksam machen, welche Schultz ebenfals entgan-
gen zu sein scheinen und auch sonst weder in den angeführten abhand-
lungen noch in den Wörterbüchern citiert sind.
Es sind besonders vier punkte, welche durch die monographie
Zapperts richtig gestelt werden. Schultz behauptet s. 170 fg. l) die
männer hatten badehosen angelegt, ehe sie ins bad stiegen. 2) Die
qucste (bisweilen mit perizoma glossiert) ist „ein schamgürtel.'^ 3) Sol-
che sind auf abbildungen des 15. Jahrhunderts zu sehen, wo sich mann
und weib im gemeinsamen bade befinden. 4) Seifrid lässt sich a. a. o.
einen ivadel umbinden.
Dagegen sagt Zappert s. 76: „im schwitz- wie wasserbade befand
man sich meist in völliger hüUelosigkeit, wie dies die (von ihm mit-
geteilten) abbildungen, ebenso die im Sachsenspiegel, die bekanten
abbildungen aus der bibel des königs Wenzel, der holzschnitte und
kupferstiche Behams, die holzschnitte in kalendern des 16. Jahrhun-
derts usw. zeigen." In den offenen mineralbädern und denen beider
gescMechter erwähnt er, dass „die badegäste aus der vermögenden
klasse mit einem schürz, die frauen mit einem weit ausgeschnittenen
badelaken bekleidet waren" (im 15. jh.). ,, Dieses gemeinschaftliche
baden beider geschlechter war in den früheren Jahrhunderten des mit-
telalters streng verpönt" und scheint erst aus dem Orient eingedrungen
zu sein (s. 82). Unter wadel, questen versteht er natürlich auch in
der stelle des Seifrid die zusammengebundenen büschel, welche dazu
dienten, „sich zur erhöhung der hauttätigkeit zu peitschen oder zu
besprengen" (s. 79). Er erwähnt aber, und das wird zugleich durch
eine abbildung aus einer handschrift der kaiserlichen hofbibliothek zu
Wien illustriert, dass man sich zugleich im notfalle die blosse mit
dieser badequaste deckte. Er weist nach, dass man in poesie und
maierei in folge dessen auch Adam und Eva so darstelte, wenigstens
in Deutschland , während „ die künstler Italiens , wo dampf bäder in
geringerem gebrauche als in Deutschland standen, sich schriftmässig
an das auch in ihrem vaterlande heimische feigenblatt halten." Man
vergleiche dazu Lexer unter wadel = laubbüschel: swfn wadel deck-
ten ir schäm Teichn. C 60''; unter schirmwadcl: mit dem Adames
schermwadcle wellent si ir schäm bedecken Prl. 108.
Ebenso Haupt a. a. o. über queste. Er führt eine anzahl biblischer
stellen an , wo queste dem perizoma entspricht ; bemerkt aber , dass die
15*
228 KINZEL, DER WADEL
ursprüngliche bedeiitung eines büschels zu gründe liegt, der also nur
vorgehalten wurde. Einer der späteren belege ist besonders interes-
sant ; denn er zeigt in der bedeutung des wertes deutlich den Übergang
zu einem wirklichen kleidungsstück. In Könighofens chronik s, 50
heisst es „von den leuten die Saturnus in Italien fand : ir cleider
worent üz loebe oder grase gemäht also questen oder matten (matten)"
(Haupt a. a, o. s. 51).
Auffallend ist es, dass nirgend zur erläuterung der Vorgänge im
bade und des gebrauchs der tvadel des „blossen keisers" des Herrand
von Wildonie gedacht ist. Die behandlung desselben Stoffes vom Stricker
berücksichtigt das bad nur sehr stiefmütterlich (GA III, 415): der
könig geht ins bad , sezt sich zu dem engel auf die bank und wirft den
sweiBbadcere , der ihn vertreiben will , mit einem kübel. Um so iustruc-
tiver hat Herrand die sache ausgestattet (ed. Kummer 1880 nr. III):
kleine junklierlm und wtbelm ein- teil diu man da vindet ringe veil
(v. 159) bedienen den kaiser im bade. Nach dem bade wird wasser
angegossen (an die heissen steine) , die fenster werden geschlossen , der
kaiser legt sich auf die bank. Unterdessen tritt der engel in seiner
gestalt aus der tür, die kämmerer reichen ihm sin badehleit und tra-
gen ihm sin hatgewant nach. Der kaiser wird blöz hinausgeworfen
(267):
nach im si sparten suo das tor,
da stuont er jämerlichen vor.
ein wadel was siner lide Jcleit;
diu vinster naht was im niht leit,
tvan si im dacte sine schäm.
Vielleicht hätte diese stelle Schultz noch in seinem irtum vom scham-
gürtel bestärkt. Aber es ist zweifellos: der kaiser ist ganz nackt;
man vgl. zur bestätigung v. 306: sin Up ist als min vinger har. Er
deckt seine blosse durch den vorgehaltenen wadel. Dies beweist denn
auch das bild in der handschrift. Kummer berichtet s. 205 seiner
ausgäbe: „es zeigt den nackten kaiser mit der kröne auf dem haupte
und neben ihm liegt der wadel , ein büudel grüner zweige , wie man ihn
jezt noch in dampf bädern zum besprengen und abklatschen gebraucht."
BERLIN, JUNI 1880. KARL KINZEL.
229
LITTERATUR.
Lessings Hainburgisclie Dramaturgie. Für die oberste Klasse höhe-
rer Lehranstalten und den weiteren Kreis der Clehildcten erläu-
tert von Dr. Friedrich Schröter und Dr. Richard Thiele. Halle, Verlag
der Buchhandlung des Waisenhauses. 1878. CXXXVI und G30 S. 8. n. 10 m.
Über notwendigkeit, zweck und plan ihres Unternehmens sprechen sich die
Verfasser in dem Vorworte folgendermassen aus:
, .Vieles in ihr (der H. I).), was Lessing als l)ekant voraussezte und voraus-
setzen durfte, weil es damals gemeingut aller gebildeten war, ist dem bildungs-
bewustsein unserer gegenwart entschwunden und daher jezt unverständlich. Ande-
rerseits findet sich aber auch gar manches, das Lessing aus dem schätze seines
vielumfassenden wissens gespendet hatte, und das, schon damals schwerlicli das
eigentum vieler, in unserer zeit, die bei dem wachsenden Inhalte der erkentnis
jeden mehr denn je sich auf ein einzelnes gebiet zu beschränken mahnt, erst recht
nicht mehr von allen gewusst wird und gewusst werden kann. So ist die Drama-
turgie ein buch geworden, das mehr gelobt als gelesen, mehr in den einzelnen
hauptfragen erfasst als voll vorstanden wird " ....
,, Daher muss die Wissenschaft liier eingreifen und vergessenes und verschwin-
dendes wider aufleben lassen oder auffrischen, mit einem worte: den teil des Wis-
sens reconstruieren , aus welchem heraus der dramaturgist sein werk schrieb. So
haben es Cosack, Buschmann und mit erweiterten zielen noch ganz jüngst Blüm-
ner mit dem Laokoon gemacht. Solte die Dramaturgie nicht dieselbe rücksicht
verdienen? Es lag deshalb der gedanke nicht zu fern, diesen schätz, der in die
tiefen des vergessens zu versinken drohte, für die gebildeten unserer nation zu
retten, welche die Dramaturgie in ernstem Selbststudium lesen wollen, und denen
es auf ein wirkliches Verständnis des herlichen buches ankomt, nicht minder sie für
diejenigen zugänglich zu machen, welche noch daran sind, sich die grundlagen
einer höheren bildung zu erwerben , also für die schüler der obersten klasse unse-
rer höheren lehranstalten , besonders zum zwecke einer fruchtbaren privatlectüre.
Um diesen kreisen zu dienen, haben die herausgeber ihr werk unternommen. Für
die speciellen zwecke der Wissenschaft beabsichtigt Cosack, der herausgeber des
Laokoon, die dramaturgie ebenfals zu edieren, und hat bereits vor mehreren jäh-
ren (in Herrigs Archiv für das Studium der neueren Sprachen bd. LI. 1873.
s. 33 — 78) einen kritisch bearbeiteten text und einen gelehrten commentar in aus-
sieht gestelt, sowie eine probe von lezterem veröifentlicht, welche wir für die
betreffenden stellen (st. X — XIV) mit dank benuzt haben: er hat aber leider bis
jezt, so viel uns bekant geworden, sein versprechen noch nicht eingelöst" . . .*
,,Wir wollen mit unserer ausgäbe denen , die an der gelehrten form anstoss
nehmen und dieselbe nicht bewältigen können , hilfreich zur seite stehen , sie teils
durch eine einleitung, in welcher sie sowol über die äussere geschichte und alles,
was damit zusammenhängt, als auch über den Inhalt im ganzen aufschluss finden,
1) Hier ist den Verfassern ein irtum begegnet. Auch Cosack verfolgt in seinem
fast gleichzeitig erschienenen commentare die aufgäbe Lessings klassische werke allen
gebildeten zugänglich zu machen und versichert u. a. den ausstellungen gegenüber,
welche Blümner an Cosacks Laokoon gemacht hat, aus vieljähriger erfahrung, „dass
es wirklich leute gibt, welche den Laokoon in die hand nehmen, trotzdem sie, ihrem
bildungsgange gemäss — mit fremdwörtern wie parergon, mensur usw. nicht vertraut
waren."
230
NEIDHABDT
zum Studium der dramaturgie liinführeu, vor allem aber durch anmerkungen ihnen
die Schwierigkeiten, welche sich im einzelnen finden, lösen und somit ihr wissen
erweitern" ....
„Was den text anlangt, so haben wir den der Lachmann -Maltzahnschen
ausgäbe beibehalten . . . Geändert haben wir nur die alte Orthographie und die
höchst eigenartige und zu üppige interpunction Lessings , und haben dafür den
jezt geltenden gebrauch eingeführt, besonders aus dem gründe, weil unsere aus-
gäbe auch für schüler berechnet ist ... Nirgends aber haben wir ins fleisch
geschnitten, wir haben auch nicht ein titelchen in der flexion der worte geändert,
auf dass der ganze und unverkümmerte Lessing mit all dem reiz seiner eigentüm-
lichkeit auch in der form der einzelnen Wörter zum leser spreche . . . Auch glaub-
ten wir alle fremdsprachlichen stellen durch Übersetzung sowol im texte als in den
anmerkungen tilgen zu müssen."
Um nun zunächst einen einblick in die gliederung und den Inhalt der ein-
leitung zu gewähren, möge hier eine Zusammenstellung der Überschriften zu den
einzelnen abschnitten platz finden , welche dem werke selbst nicht beigegeben ist.
Erster absclinitt. Äussere geschichte.
§ 1. Der zustand des deutschen theaters bis Gottsched. (S. I — VIL)
§ 2. Weitere entwickelung des deutschen theaters. Nachahmung der Franzo-
sen. Notwendigkeit der reform. (VII — XII.)
§ 3. Wie wolte die Hamburgische Unternehmung die reform bewerkstelligen ?
Die massgebenden persönlichkeiten dabei. Einleitung des Unternehmens.
Lessing wird als dramaturg berufen. (XIII — XVIII.)
§ 4. Lessings damalige Verhältnisse. Seine Übersiedelung nach Hamburg.
(XVIII — XXI.)
§ 5. Lessings leben in Hamburg. (XXI — XXV.)
§ 6. Der verlauf des Hamburger Unternehmens. Repertoir. Das unternehmen
misglückt. (XXV — XXXIII.)
§ 7. Lessings tätigkeit als dramaturg. Ankündigung. Art der herausgäbe der
dramaturgie. (Unterbrechungen.) Epilog. (XXXIII - XXXVII.)
§ 8. Die Schauspieler. (XXXVIII — LIII.)
Zweiter abschnitt. Inhalt der dramaturgie.
§ 9. Lessing als reformator der deutschen litteratur. Seine bestrebungen vor
der dramaturgie. Kritischer Standpunkt und einteilung des Inhaltes der-
selben. (LIV — LXIII.)
I. Negativer teil.
§ 10. Darlegung des zustandes der deutschen bühne: Dichter. Kritiker. Publi-
kum. Schauspieler. Originallustspiele. Übersetzungen. Originaltrauer-
spiele. (LXIII — LXXU.)
§ 11. Vernichtung des ausehens der Franzosen. Lustspiel. Weinerliches lust-
spiel. Tragödie. Theorie. (LXXII— CI.)
n. Positiver teil.
1) Die regeln des dramas.
§12. Algemeine gedanken: Über das drama im algemeinen. Über die
römische komödic. Unterschied zwischen tragödie und komödie, hinsicht-
lich des Schauplatzes wie des Schlusses. Einteilung des stoffes. Definition
der tragödie. (CU — CV.)
ÜBEK LESSINGS HAMB. DRAM. ED. SCHEOETER - TUIELE 231
§13. Gegenstand des trauerspi cles : Nachahmung. Handlung, und zwar
nach Stoffgebiet und behandlung. Charaktere. Arten des Trauerspieles.
Verhältnis der tragödie und koraödie zu nioral und gescliichte. Histori-
sches drama. (CV — CXII.)
§14. Form des trauerspieles: Bindung und losung des knotens. Die drei
oinheiten. Chor. Musik (überhauitt beim draraa). Schauspielkunst. Sce-
neric. Sprache. (CXII — CXVIII.)
§ 15. Wirkung dos trauerspieles: Algemeiner Standpunkt Lessings Aristo-
teles gegenüber. Aristoteles ansieht nach Lessing. Wie stelt sich Lessing
zu ihr? (CVm — CXXV.)
2) Shakespeare.
§ 16. Hinweis auf das britische theater und Shakespeare. (CXXV — CXXX.)
III. Auhaug. Einzelne erkentnisse.
§ 17. Der harlekin. (CXXX — CXXXI.)
§ 18. Hinweis auf das spanische theater. Vermischung des tragischen und komi-
schen. (CXXXI — CXXXIII.)
§ 19. Dichter und publicum. (CXXXIII - CXXXIV.)
§20. Die titel der stücke. (CXXXIV — CXXXV.)
§ 21. Der nachdruck. (CXXXV.)
§22. Schlusswort. (CXXXV — CXXXVI.)
Darnach folgt auf 609 selten der text der H. D. mit aumerkungen , in wel-
chen die Verfasser selbst laut Vorwortes das hauptstüek ihrer arbeit erblicken. Sie
stehen unter dem strich, sind für jedes einzelne stück fortlaufend numeriert, nach
zahl , umfang und Inhalt ausserordentlich verschieden. Ihre anzahl schwankt von
1 (St. LVIII.) bis 36 (St XVIII.), ihr umfang von 74 zeile (bei Stellennachweisen)
bis nahezu 3 selten (bei Inhaltsangaben von dramen); sie bringen grammatisches,
lexicalisches , geschichtliches, biographisches, litterarisches, bibliographisches, kri-
tik und begründung Lessingscher aufstellungen je nach gelegenheit des textes. Ihre
gesamtsumme beträgt 1356, und sie nehmen 43 "/o des raumes auf jenen 609 sel-
ten ein, wonach bei den gewählten Schriftarten ihre quautität zu der des textes
wie 3 : 2 sich verhält.
Den schluss des Werkes bilden vier anhänge:
I. Excurse Lessings, ohne anmerkuugen. S. 610— 616.
H. Varianten, die abweichungen von der Originalausgabe enthaltend. S. 617 —
619.
III. Kalender für april-juli 1767 mit hervorhebung der Spieltage am Hamburger
uationaltheater. S. 620.
IV. Verzeichnis sämtlicher in der dramaturgic erwähnten stücke mit hervor-
hebung der von Lessing besprochenen und nachweis der stellen , wo ihr
Inhalt angegeben ist. S. 621 — ^624.
und endlich ein namenregister mit hervorhebung der historischen personen. S. 625—30.
Vorstehendes mag ein ungefähres bild geben von der einriehtuug und der
reichhaltigkeit unseres commentars.
Leztere ist allerdings sehr gross, so gross, dass man sich mancher beden-
ken nicht entschlagen kann. Schon der quantität nach beläuft sich nach den oben
mitgeteilten massverhältnissen unter hinzurechnung der einleitung, welche eben-
fals enger als der text der H. D. gedruckt ist, die gesamtmasse der erläuterun-
gen auf mehr als das doppelte der commentierten schrift. Wenn nun dies verhält-
232 NEIDHABDT
nis, wenn es sich um die wissenschaftliche erklärung eines griechischen oder römi-
schen autors handelte, nichts auffälliges hätte, so liegt doch die frage nahe, ob
es bei einer bearboitung der H. D. für nicht gelehrte kreise als zweckmässig gebil-
ligt werden kann. Ist der Inhalt derselben in der tat so weit schon dem gebil-
deten bewustsein unserer tage entschwunden, dass es eines solchen aufwandes von
mittein bedarf, um ihn jenem nahe zu bringen und verständlich zu machen? Man
kann fürchten, dass, wenn wirklich so viele hebel angesezt werden müssen, um
jenen ,, schätz vor dem versinken in die tiefen des vergessens zu retten," nur wenige
noch kraft und lust genug fühlen werden , diese unabsehbaren reihen von hebeln
zu handhaben.
Diese besorgnis führt notwendig weiter zu der anderen frage, ob eigentlich
auch alles, was die Verfasser gegeben haben, zu einem ausreichenden Verständnisse
der H. D. erforderlich ist. H. Müller in seiner besprechung des werkest hat sie
verneint und findet ganz besonders in den aumerkungon viel aufdringliches, stö-
rendes und überflüssiges; das ganze werk erscheint ihm als ein raagazin mit viel
brauchbarem und unbrauchbarem material, und er findet dadurch den Lessingschen
text wie mit disteln und dornen überwuchert.
Es lässt sich leicht zeigen, dass diese ausstcUungen zum grossen teile unbe-
rechtigt sind. Denn ungerechtfertigt ist es , einem werke , das ausdrücklich für
Schüler der prima unserer höheren lehranstalten, also aucli für realschüler, und
für weitere kreise der gebildeten bestimt ist, zum vorwürfe zu machen, dass es
über Homer, Horaz und Sophocles auskunft gibt, fremdwörter erklärt, über musi-
kalische Instrumente, damenkleider des vorigen Jahrhunderts und theriak uns
belehrt; und es führt zu nichts, dagegen bald vom Standpunkte des lehrers des
deutschen, bald von dem des gymnasialprimaners, bald von dem des gebildeten
mannes einspruch zu erheben, sich beleidigt zu fühlen, von aufdringlichkeit zu
reden , und was dergleichen äusserungen einer subjectivistischen kritik mehr sind.
Der gymnasialprimaner weiss ungefähr, wen er unter Homer, Horaz und Sophocles
sich vorzustellen hat; der realschulprimanor wahrscheinlich nicht, und von dem
gebildeten in abstracto lässt sich nun gar nicht sagen, ob ihm dieses oder jenes
positive wissen zuzutrauen sei oder nicht. Wem eine solche anmerkung nichts
neues bringt, für den ist sie nicht geschrieben; aber er hat keine Ursache sich
dadurch beleidigt zu fühlen und kein recht gerade sein wissen oder sein Interesse
zur norm für einen commentar zu machen, der offenkundig so vielen dienen will.
Höchstens liesse sich fragen, ob überhaupt das unternehmen die H. D. für einen
leserkreis von so verschiedenartiger Vorbildung zu erklären in sich möglich und
gerechtfertigt sei. Wer dies zugibt, wie H. Müller es tut — und auch ref. ist
dieser ansieht, da sonst die forderung erhoben werden müste für erwachsene und
für Schüler, und dort wider für leute von akademischer und „algemeiner" bildung,
hier für gymnasiasten und realschüler je einen besonderen commentar zu schrei-
ben — der muss die consequenzen eines solchen planes billig mit in den kauf
nehmen.
Wenn ferner H. Müller die aufgäbe des commentators der H. D. dahin for-
muliert, dem leser in das wesentliche und bleibende, die eigentliche Substanz jener
eindringen zn helfen , wobei er anerkent , dass die Verfasser recht dankenswertes in
dieser hinsieht geleistet haben , so bezeichnet er damit unstreitig die schwierigste
1) Ztschr. f. Gymn.-wesen 1877 (der erste band der commentierten dramaturgie
war schon 1877 erschienen) s. 442—448 und ebenda 1880. s. 220 — 226.
ÜBER LESSINGS HAMB. DRAM. ED. SCHROETER- THIELE 233
und zugleich schönste seite seiner tätigkeit. Aber er erschöpft diese nicht. Auch
auf das kleine und unbedeutende hat sie sich zu erstrecken, auch die geringsten
hilflcistungeu dürfen ihr niciit zu niedrig sein , und ein gewissenhafter erklärer
niuss ebensywol vom tiieriak und brodieren als von der tragischen katharsis uns
rechenschaft geben, wenn wir ihrer bedürfen.
Dennoch muss ref. zugestehen, dass er bei der ersten lectüre des Werkes
mancher ähnlichen empfindungen, wie II. Müller sie ausspricht, sich nicht erweh-
ren konte, und dass auch das genauere studium eines buches, welches so eminen-
ten fleiss und so viel gesundes urteil beweist, ihn doch nur teilweise zu reiner
befriedigung geführt hat. Die oft überwältigende massenhaftigkeit der anmerkun-
gen und ihr buntes allerlei machen in der tat an solchen stellen es schwierig den
leitenden faden des Lessingschen textes festzuhalten. Wie oft trift das äuge, wel-
ches der Weisung der zittern getreulich folgt , auf einen Stellennachweis , der augen-
blicklich gar nicht interessiert, auf eine bemerkung wie ,,übersezt von den heraus-
gebern" oder: „aus der Übersetzung von X"; wie oft muss man sich durch allerlei
historische, biügrai)liische und bibliographische notizen durcharbeiten, ehe man auf
einen gedanken komt, der für das veiständnis des textes von unmittelbarem werte
ist. Eef. zieht daraus nicht den schluss , dass solches und ähnliches beiwerk besei-
tigt werden luüste. Manclies, was ihm selbstverständlich dünkt, mag anderen
nützlich sein; eine menge von notizen, Verweisungen und anführungcn sind für
Specialstudien von unzweifelhaftem nutzen, die umfangreichen inhaltsangaben auch
geringer stücke von obscuren Verfassern haben doch ein selbständiges, wenn auch
oft, um mit den herausgebern zu reden, nur pathologisches Interesse. Aber leider
häuft sich das alles zu sehr an einzelnen stellen und bringt unausbleiblich eine
ermüdende und zerstreuende Wirkung hervor.
Auch die einleitung, so reichhaltig und gründlich sie ist, scheint dem ref.
in dieser gestalt nicht recht zweckmässig. Sie überschüttet in ihrem ersten
abschnitte den leser mit einer fülle von detail, dessen kentnis, wie wünschenswert
an sich , doch keine notwendige Vorbedingung für das Verständnis der H. D. ist.
Der zweite und dritte abschnitt aber — wie seltsam mutet denjenigen, der die
Dramatui-gie schon kent , dieser auf paragraphen gezogene und systematisch etiket-
tierte extract aus dem meisterwerke Lessings an. Es ist dabei keine fälschung
mit untergelaufen, es ist der wesentliche und ächte Inhalt der H. D. Und doch
vyiderum nicht. Schon die äussere ungleichmässigkeit der teile beweist, wie
befremdlich solche systematische architektonik dem Inhalte der H. D. zu gesiebt
steht. Die Verfasser sprechen einmal in ihrem Vorworte, wie oben mitgeteilt, die
absieht aus denjenigen, welche an der „gelehrten form" der H. D. anstoss neh-
men , zu helfen. Von gelehrter form aber kann bei Lessing eigentlich nur insoweit
die rede sein, als er die kentnis fremder sprachen voraussezt. Im übrigen ist es
ja gerade der hauptreiz seiner besten werke , dass er wissenschaftliche erkentnisse
nicht in gelehrter form, sondern frei von allem system- und paragraphenzwange
im natürlichsten unterhaltungstone, den er so meisterhaft zu handhaben versteht,
weniger vorträgt als vor unseren äugen findet und entwickelt. Da ist alles leben
und frische, reizvolle Ungezwungenheit, dramatische kraft und hinreissende dar-
stellung. Von dem allem bleibt natürlich in der gelehrten form, welche in Wahr-
heit erst die herausgeber dem Inhalte der H. D. übergeworfen haben , wenig zurück.
Es konte nicht anders sein, und es ist nicht die schuld der Verfasser, dass ihr
auszug so ausgefallen ist; ein jeder systematische auszug würde ungefähr so aus-
fallen. Nur kann ref. nimmermehr glauben, dass eine solche darstellung geeignet
234
NEIDHARDT
sei zum Studium der dramaturgie hin zuleiten; mau müste sich denn geradezu
vorgenommen haben durch den contrast zu wirken. Er ist überhaupt kein freund
langer analysierender und räsonnierender einleitungen. Ihr genügendes Verständnis
sezt eigentlich das Studium des einzuleitenden Werkes schon voraus, und auch die
besten werden mit wirklichem nutzen erst nach dem hauj^twerke gelesen. Womit,
wenn diese beobachtungen richtig sind, bewiesen Aväre , dass jene nicht an ihrem
platze stehen oder keine einleitungen sind.
Hiernach richten sich die bedenken des ref. nicht sowol gegen den Inhalt
als gegen die form des Schröter - Thieleschen commentars. Nicht dass er so vieles
bringt und auf so verschiedenartige bedürfnisse berechnet ist, erscheint ihm unzweck-
mässig, sondern die art, wie er es bringt: die einrichtung des buches, welche jeden
leser zwingt alles ohne ausnähme, und zwar alles hintereinander, d. h. in den
anmerkungen durch einander, zu lesen und so einen zweck durch den anderen
beeinträchtigt. Die Verfasser setzen mit recht ein ernstes und gewissenhaftes Stu-
dium voraus. Bei solchem wird man nicht umhin können zunächst die ganze ein-
leitung durchzumachen, da in den einzelanmerkungen fortwährend auf sie bezug
genommen wird, und unter diesen widerum ist es nicht möglich, eine auswahl zu
treffen , augenblicklich störendes vorläufig zurückzuschieben , das wichtige und
unentbehrliche von dem nur eventuel brauchbaren zu sondern, da man nie weiss,
was man zu erwarten hat: ob sich nicht etwa an die deutung eines fremdwortes,
das man kent, an die nachweisung einer stelle, die man jezt nicht aufschlagen
will , an biographische und andere notizen ein nicht vermuteter aufschluss anknüpft
oder ein gesuchter unter ihnen sich verbirgt. Diese Vorführung des ganzen mate-
rials auf einmal bringt die oben gekenzeichneten misstände hervor. Indem die Ver-
fasser den leser nötigen auf zu vielerlei zugleich seine aufmerksanikeit zu richten,
ihn oftmals enttäuschen wie überraschen, machen sie ihm manche vergebliche
arbeit und geben seiner tätigkeit jedenfals einen beigeschmack der Zerfahrenheit
und des misbehagens.
Diese übelstände scheinen jedoch nicht notwendig mit einem werke, das die
absiebten des vorliegenden verfolgt, verbunden zu sein. Man kann sich eine ein-
richtung vorstellen, welche ganz denselben stoff den verschiedenartigen bedürfnis-
sen der leser so darbietet, dass jeder die seinigen mit Sicherheit und leichtigkeit
befriedigen kann , ohne durch fremdartiges gestört zu werden. Dem ref. schwebt
ein solcher plan vor, und es möge ihm gestattet sein, denselben zu skizzieren, und
wenn es auch nur zu dem ende wäre, bessere vorschlage hervorzurufen.
Zunächst also werde auf ein paar selten eine gedrängte darstellung der ver-
anlaesung und entstehung der H. D. gegeben ohne litterarhistorische und biogra-
phische Weitläufigkeiten. Wo dergleichen einen passenden platz finden , soll nachher
gezeigt werden.
Hierauf folge der text der H. D. in möglichst genauem abdruck der Origi-
nalausgabe, natürlich ohne deren fehler. Es ist ein entschiedener vorzug des Schrö-
ter-Thieleschen commentars vor dem Cosackschen, der im übrigen wesentlich den-
selben Charakter zeigt, dass er den text gleich mitgibt. Aber dieser vorzug würde
noch weit grösser sein , wenn wir einen wirklich ächten text ohne tilgung der
fremdsprachlichen stellen und ohne Verkürzungen erhielten. Was die lezteron betrift,
so haben die herausgeber mit der auslassung einzelner citate und der Verweisung
einiger gelehrten excurse Lessings in einen anhang ein paar selten räum gewonnen.
Wenn sie aber diese excurse fragen untergeordneten wertes und philologische quis-
quilicn nennen, so fordern sie den vergleich mit eiuem nicht ganz kleinen teile
ÜBEE LESSINGS IIAMB. DRAM. ED. SCHROETER- THIELE 235
ihrer eigenen arbeit nur zu leicht heraus. In wahrlieit kann es bei einem so
umfangreichen werke auf etliclic selten mehr oder weniger nicht ankommen, und
selbst wenn man für die unveränderte gestalt der H. D. einige dutzend noten des
commentars streichen oder kürzen müste , wäre der gewinn nicht zu teuer erkauft.
Denn dann würde das werk auch zu jeder wissenschaftlichen benutzung ausreichend
sein, und selbst dem gebildeten, solte man meinen, müste die authentische Über-
lieferung auch mit der Lessingschen orthograiihie und interpuuction erfreulich sein;
zum mindesten wird sie ihn in keiner weise hindern. Auch unsere primaner wer-
den es ohne schaden ortragen können , vom heutigen gebrauche abweichender Schrei-
bung zu begegnen, wie sie ja mit recht abweichende sprachliche formen und Wen-
dungen bei Lessing so gut wie anderwärts hinnehmen müssen.
Unter dem texte aber werde eine Übersetzung der fremdsprachlichen stellen,
nicht auch eine erklärung der fremdwörter, ohne alle weitere zutat gegeben; höch-
stens, dass die eigenen Übersetzungen des herausgebers durch einen stern oder
sonst wie bezeichnet werden. Der quellennachweis für die übrigen steht besser
anderswo. — Bei solcher bcschränkung ist jeder lescr nur so weit genötigt die
noten unter dem text zu beachten, als er der betreffenden sprachen unkundig ist,
und jeder findet doch, was er braucht; die fremdwörter an anderer stelle.
Nach geeigneten abschnitten aber, seien es die einzelnen stücke der H. D.
oder mehrere zusammengcfasst, wo dies aus inneren oder äusseren gründen rätlich
scheint , müste in unterscheidendem drucke in möglichst zusammenhängender und
doch übersichtlicher darstellung alles das gegeben werden , was zur erfassung des
wortsinnes, des Zusammenhanges, der gedankenentwickelung unbedingt nötig und
förderlich ist. Also zunächst worterklärung in den fällen, wo bei unveränderter
form ein bedeutungswechsel seit Lessing eingetreten ist, wie in den Wörtern
„empfindlich," „symbolisch," „Zudringlichkeit." Veraltete, provinzielle und tech-
nische ausdrücke dagegen, welche sich in ihrer besonderheit selbst kentlich machen,
mögen wie fremdwörter behandelt werden. x\bweichende structuren, wie sie z, b.
in der rection der präpositiouen sich linden, bedürfen, wenn der leser von der
absoluten Zuverlässigkeit des textes überzeugt sein kann , keiner erwähnung , aus-
genommen, wenn sie das Verständnis erschwerten, oder sie können in dem bald
ZU erwähnenden lexicon untergebracht werden.
Nach den sprachlichen erläuterungen , wo solche nötig sind, würde sogleich
zur erörterung des Inhaltes fortzugehen sein, welche folgende punkte vornehmlich
ins äuge zu fassen hätte: zuerst eine präcise feststellung dessen, was Lessing
gemeint und gewolt hat, in den dingen, wo irrige auffassungeu vorgekommen sind
oder nahe zu liegen scheinen. Es ist dies keine unwichtige aufgäbe. Ist es doch
selbst einem Spengel begegnet, dass er, in der ausgesprochenen absieht die Les-
singsche aulfassung der katharsis gegen Bernays zu verteidigen , in gutem glauben
so ziemlich auf ihr gegenteil hinauskomt und sich noch weiter von ihr entfernt als
selbst dieser.^ Daran würde sich uaturgemäss sowol berichtigung und kritik als
begründung und Verteidigung, resp. die weiterentwickelung der von Lessing behan-
delten oder nur angeregten fragen anschliessen. — Auf den vorliegenden commen-
tar angewendet, läuft diese fordorung im wesentlichen auf eine Verarbeitung der
hauptmasse der einleitung mit einem teile der noten zu einer anzahl den gang der
dramaturgie begleitender excurse hinaus, wovon, wie oben angedeutet, ref. sich
1) Vgl. die dissertation des ref. : de Euripide poetaruin maxinie tragico p. 30. 31,
auch in den dissertt. philol. Hai. vol. III pars II, p. 310. 311.
236 NEIDHARDT
Bichr ertrag verspricht als von jenen , und wodurch u. a. auch die häufigen und
unbequemen Verweisungen der einleituug auf die uoten und der noten auf die ein-
leitung in wegfall kämen.
Um aber nicht den schein unbilliger ansprüche zu erwecken , mag hier gleich
eine ausstellung H. Müllers eingeschränkt werden, der es bedauert, dass die Ver-
fasser in den oben bezeichneten fragen sich meist auf eine referierende darstellung
beschränkt und z. b. in dem katharsisstreit keine erklärte position eingenommen,
d. h. nach Müllers wünsche der Bernaytischen theorie beigepflichtet haben. Dass
eine festbegründeto ansieht für die darlegung so verwickelter problerae neben der
gefahr der einseitigkeit auch grosse vorteile, namentlich den der übersichtlichen
gruppierung und grösseren irische mit sich bringt und dann besonders dankenswert
ist, wenn sie einen fortschritt der erkentnis enthält, wird niemand in abrede stel-
len. Aber verlangen lässt sich dies von dem commentator der H. D. billiger
weise nicht; wol aber, dass er Lessings tendenz genau kent und darlegt, die ent-
wickelung und den stand der späteren forschung in den hauptzügen charakterisiert
und mit Sicherheit beurteilt oder doch den leser in den stand sezt mit Sicherheit
zu beurteilen , ob eine als die Lessingsche vorgetragene ansieht diesen anspruch
verdient. Dass aber die herausgeber unseres commentars diese aufgäbe im wesent-
lichen mit erfolg gelöst haben, muss anerkant werden.
Bei den vorgedachten erörterungen werden bibliographische angaben nicht
zu umgehen sein; aber sie mögen in gestalt von numerierten anmerkungen den
excursen folgen und nichts enthalten als titel und Seitenzahlen, damit, wer solche
nicht sucht, auch nichts anderes hier suchen muss. Den überg-ang dazu würde
passend die berichtigung kleiner irtümer Lessings in chronologischen und anderen
daten sowie der nachweis der von ihm benuzten und im äuge gehabten, aber nicht
oder ungenau bezeichneten quellen und stellen bilden. Solte die inhaltliche
Vorführung oder ergänzung von dergleichen nützlich erscheinen , so würde diese , je
nach dem grösseren oder geringeren belange, entweder in den tenor der excurse,
eventuel übersezt oder doch mit der Übersetzung, einzuflechten oder in den nun-
mehr zu besprechenden dritten hauptteil des commentars unter vorgängiger Verwei-
sung darauf aufzunehmen sein. — Solchergestalt würde sich in den excursen die
dreiteilung des ganzen widerholen.
Aus dem bisherigen ist zum teil schon ersichtlich, wie ref. sich den lezten
abschnitt des Werkes gestaltet denkt. Er wünscht in demselben in lexicaliseher
anordnung aufgeführt zu sehen die fremdwörter , die diesen gleich zu achtenden
deutschen Wörter, allenfals auch besonderheiten der formen und constructionen ;
ferner sämtliche biographische, historische, mythologische und die meisten litte-
rarhistorischen und bibliographischen mitteilungen ; endlich die Inhaltsangaben der
dramen und romane. Mit einem werte: in dem lexicalischen Verzeichnisse stehe
dasjenige, das wol unterrichtend, aber nicht unmittelbar erforderlich ist zum Ver-
ständnisse der H. D. , oder dessen kcntnis bei vielen vorausgesezt werden darf. Das
Verhältnis des ersteren dieser bestandteile zu den excursen Avürde im kleinen ein
analogen bilden zu demjenigen, welches Bernhardy durch trennung der äusseren
geschichte der litteratur von der inneren darzustellen gesucht hat. Dass aber die
gedachten kategoricn auch auf die inhaltsaugaben der in der H. D. vorkommenden
dichtwerke anwendung finden , leuchtet ein : die meisten der lezteren sind unbedeu-
tend, und die bedeutenden bald diesem bald jenem teile des vorausgesezten lescr-
kreises nicht fremd. Die lexicalische anordnung dieser materien aber verbindet den
ÜBER LESSINGS HAMB. DRAM. ED. SCHROETER - THIELE 237
Vorzug der verlässlichsten auffindimg mit der vornieidung jcgliclier Überfüllung und
Störung.
Im oinzeluou denkt sicli ref. die liauptmassc dieser notizen zu zusammen-
hängenden artikeln unter dem namon der betreffenden dichter und gelehrten nach
feststehendem schema verarbeitet. Z. b. artikel Voltaire: kurze biographie, alge-
meine Charakteristik und Stellung in der litteratur mit quellennachwcis, gesamt-
ausgabni und Übersetzungen. Darauf titel, Chronologie, eventuel beurteilung und
inbaltsangabe der in betracht kommenden einzelwerke, und zwar widerum in alpha-
betischer Ordnung , nebst ihrer litteratur. — Auf diese weise hätte man an einem
orte übersichtlich beisammen, was sonst an vielen punkten verstreut ist, während
doch die schematische anläge, unterstüzt durch eine zweckmässige typographische
einrichtung, schnelle Orientierung und leichte auswahl ermöglichten.
Ferner möchte es sich empfehlen, diesen teil des Werkes auch als register
zu gestalten, z. b. s. v. karthar.sis anzugeben, in welchem stücke der H. D. und
in welchem excurse hauptsächlich, in welchen nebenbei davon gehandelt wird, unter
dem uamen der dichtwerke auf die dichter zu verweisen. Ist ein und derselbe stoff
von mehreren dichtem bearbeitet, so wäre vielleicht behufs leichterer vergleichuug
von der regel abzuweichen und die besprechung der gleichnamigen werke gemein-
sam vorzunehmen, z. b. die der beiden Electren entweder bei Sophocles oder bei
Euripides, in ähnlicher weise, wie Cosack die Merope des Maffei und des Voltaire
act für act und scene für scene neben einander vorgeführt bat. Auch hierüber
müste selbstverständlich das register auskunft geben.
Doch ref. muss befürchteu sich schon zu sehr in einzelheiteu verloren zu
haben. Er ist durchaus nicht der meinung, dass der vorgeschlagene plan muster-
giltig sei. Sehr vieles kann gewiss zweckmässiger eingerichtet werden. Allein die
Überzeugung, dass die grosse, teils schwerfällige, teils zersplitterte masse der-
artiger commentare durch sonderung wie durch Zusammenfassung in übersichtliche
und handliche gruppen zu bringen wäre , um wesentlich an brauchbarkeit zu gewin-
nen; dass das princip der anordnung sein müste das unentbehrliche und wichtige
vor dem erst in zweiter linie wissenswerten zu geben ; dass das bestreben immer
darauf zu gehen hätte, den in betracht kommenden bildungsstufen und studien-
weisen ihre besonderen bedürfnisse leicht und möglichst unverwirrt mit anderem
darzubieten: diese Überzeugung glaubt ref. festhalten zu müssen, auch wenn es
ihm nicht gelungen ist, die wege, die dazu fühi'en, zu finden und zu zeigen. Einen
leisen anfang damit hat Cosack gemacht, indem er seinen comuientar mit anmer-
kuugen begleitet hat, aber freilich uiigleichmässig und ohne principielle Scheidung.
Denn der commeutar selbst trägt ganz den gleichen fragmentarisch -bunten Charak-
ter wie die anmerkungen dazu.
Zum Schlüsse möge hier noch dasjenige platz finden, was dem ref. im ein-
zelnen an dem Lessiugschen texte bei Schröter und Thiele und in den anmer-
kungen aufgefallen ist, und zwar nach der reiheufolge der stücke der H. D. auf-
geführt.
II, 2, 3. Zu den werten Lessings: „Wunder dulden wir da nur in der phy-
sikalischen weit; in der moralischen muss alles seinen ordentlichen lauf behalten,
weil das theater die schule der moralischen weit sein soll" bemerken die heraus-
geber unter A. 2. , nachdem sie den begriff des Wunders und des physikalischen
Wunders erläutert: ,,ein moralisches wunder aber würde es sein, wenn Gretchen
nicht zu gi-unde ginge , denn unser gerechtigkeitsgefühl verlangt die sühne als not-
wendige folge ihres fehltritts " — und unter A. 3. , zu den lezten der angeführten
238 NEIDHAEDT
Worte Lessings: ,, und also insofern vor allem nicht unser gerechtigkeitsgefiihl ver-
letzen darf."' — Durch einmischung des gerechtigkeitsgefühls und das gewählte
beispiel wird der Lessingsche gedanke alteriert. Lessing spricht sich gegen die
nicht genügend motivierte bekehrung der Clorinde aus; er vermisst nicht eine not-
wendige folge, sondern eine unerlässliche vermittelung , und nicht das gerechtig-
keitsgefiihl des Zuschauers findet er gefährdet — wie solte jemand diese bekehrung
ungerecht finden? — ■ sondern die befriedigung seiner einsieht. Allerdings darf
das theater als „schule der moralischen weit" auch jenes nicht verletzen; doch
lag dies hervorzuheben hier keine veranlassung vor. Wahrscheinlich sind die
Verfasser durch den ausdruck ,, moralische weit" irre geführt worden. Lessing
gebraucht aber „moralisch" in weiterem sinne zur bezeichnung der einheit des
geistigen und sittlichen, wie er ,,moral" jeden algemeinen satz nent, und wie wir
heute noch das wort in manchen Verbindungen anwenden, wenn wir z. b. von
„moralischen eroberungen" und dergleichen reden. Den gegeusatz von physika-
lischer und moralischer weit Avürde man heut zu tage wol durch den der materiel-
len und geistigen auszudrücken suchen.
10. Die hier gegebene kurze definition des Zweckes der tragödie als „wol-
tuender erregung von aifecten, deren mässigung im wirklichen leben man als die
aufgäbe des sitlichen menschen betrachtet" — ist irreleitend; zum mindesten hät-
ten die zu erregenden alFecte namhaft gemacht werden müssen. Da in der einlei-
tung und zu späteren stücken der H. D. weit eingehender und zutreffender von die-
sem gegenstände gehandelt Avird, so wäre hier eine blosse Verweisung richtiger
gewesen.
14. Ob die identificierung von ,,nothnagel" und ,,niednagel" etymologisch
gerechtfertigt ist, weiss ref. nicht. Dem obersächsischen sprachgebrauche wie dem
zusammenhange bei Lessing entspricht aber mehr die bedeutung ,,notbehelf" als
die von den herausgebern empfohlene: ,, lästige kleinigkeit."
17. Die notizen über Eckhof sind neben der einleitung entbehrlich.
in, 3. Dass die hier und LXXVI, 2 vorgetragene erklärung von „symbo-
lisch" = ,, bildlich," resp. ,, sprachlich" nicht richtig ist, hat bereits H. Müller
bemerkt, ohne bestimt zu sagen, wie man es zu erklären hat. Aus der verglei-
chung der drei stellen , wo das wort von Lessing gebraucht wird , St. III : „ Er (der
algemeine satz, die moral) ist kein blosser symbolischer schluss; er ist eine'
generalisierte empfindung" — St, IV: „Wenn es daher ein mittel gibt, ... das
symbolische der moral wider auf das anschauende zurückzubringen" —
St. LXXVI: ,,so kömt es darauf an, ob sich diese dinge ebensowol in der natur
von einander trennen lassen, als wir sie in der abstraction und durch den symbo-
lischen ausdruck (es ist von der disjunction durch ,, weder — noch" die rede) tren-
nen können" — und aus der erwägung ihres Zusammenhanges gelangt ref. zu dem
ergebnis, dass Lessing ,, symbolisch" = ,, formelhaft" gebraucht hat (symbol =
formel) , an den beiden ersten stellen mit dem nebenbegritf des unlebendigen , kal-
ten, an der lezten mit dem des herkömlichen , fest ausgeprägten, welche der for-
mel anzuhaften pflegen.
4. In Übereinstimmung damit nmss, wie auch schon Müller gesehen hat,
in den worten ,, generalisierte empfindung" der nachdruck auf dem Substantiv lie-
gen. Demnach will Lessing hier nicht sagen , was die herausgeber ihn sagen las-
sen, und was an sich ja nicht unrichtig ist: ,,die moral drückt einen gedanken
aus, der nicht nur der augenblicklichen empfindung der handelnden person ent-
spricht , sondern auch losgelöst von seiner beziehung zum augonblicke und zur per-
ÜBER LESSINGS HAMB. DRAM. ED. SCIIROETEH - THIELE 239
son eine algeiiieine geltung besizt." Vielmehr hebt er hervor: die moral im drama
ist nicht nur ein algemeiner satz, sondern es spricht sich in ihr zugleich die empfin-
dung der handelnden persou aus.
IV, 2. Die orklärung von ,, conventioiiell " == ,, nur durch langen gebrauch
erklärlich " — erschöpft den begriff nicht ganz. Es muss hier lieissen : durch das
herkommen festgestelt und dadurch algemein bekant und angenommen.
VI, 2. Nach der hier gegebenen erklärung muss mau glauben, der prolog
sei eine völlig legitime und durch die autorität dos Aristoteles geheiligte einrich-
tung des griechischen trauerspieles seit Euripides. Das richtige findet sich XLIX, 3
ausgeführt , und darauf war zu verweisen.
18. Zu dem verse: „Abscheuliches meistersttick der herschsucht und ihr
list" wird bemerkt, er werde nur lesbar dui'ch die ausspräche ,, abscheulches " oder
,,abscheulichs." Da der Verfasser dieses epiloges sich starke kürzungen erlaubt,
wie 5 Zeilen vorher: ,,die anders glaubens sind,'' statt ,, anderes," so darf man
ihm eine kürzung ,,abscheulichs" statt „abscheuliches" (nom. sing.) allerdings
zutrauen. Aber er braucht 8 Zeilen später auch das neutrale adjectiv in unflectier-
ter form: ,,In ein unschuldig herz," statt ,, unschuldiges." Und demnach könte er
auch hier geschrieben oder gemeint haben: ,, Abscheulich meisterstück." In einem
wie in dem anderen falle wird der vers scaudicrbar ; im zweiten jedoch, mit unflec-
tiertem adjectivum, wird er gefälliger.
20. Bei der stelle:
„Er war und — oh verzeiht die thrän! — und starb ein Christ.
„Liess sein vortreflich herz der nach weit in gedichten,
,,Um sie — was kann man mehr? noch todt zu unterrichten."
heisst es: ,,Zu liess ist „er" als subject aus dem vorhergehenden satze zu ergän-
zen." Die frage liegt nahe, ob nicht durch ein komma statt des punktes hinter
,, Christ" die construction zu erleichtern sei.
VIII, 10. Die notizen über madarae Löwen sind neben der einleitung ent-
behrlich; desgleichen
XII, 8. die über Ackermann.
XV, 6. Eomeo und Julie. Im Verzeichnisse der in der H. D. erwähnten
stücke s. 621 -- 624 hat ref. dieses nicht finden können.
XX, 9. tot linguae quod membra viro. Die Vermutung der herausgeber,
dass Lessing den vers selbst gebildet habe, ist durch Cosacks nachweis, s. 147,
hinfällig geworden.
XXVII. Im texte s. 173 steht durch versehen: ,, in dieser seine composition.
XXXI. Zu der construction s. 194: „was geht das dem dichter an?" wäre
die bemerkung J. Grimms in seinem deutschen wörterbuche 1, 341 zu verwerten
gewesen.
XXXVIII. Man vermisst hier einen bericht über die spätere entwickelung
des in diesem stücke behandelten problems. Auch in der einleitung § 11. s. XCIII
wird nur die von Lessing versuchte lösung des Widerspruches zwüsehen den forde-
rungen des 13. und 14. capitels bei Aristoteles mitgeteilt und ,, ebenso kurz als
scharfsinnig" genant, jedoch mit der Verwahrung, dass damit kein urteil über die
riclitigkeit der Lessingschen meinung gefält sein solle. Scharfsinn wird ihr nun
niemand streitig machen, aber unrichtig ist sie doch, da sie im gründe auf der
Verwechselung von nfQinhfia und f^traßolr) beruht. Auch die herausgeber bemer-
ken in § 12 der einleitung s. CHI a. 2, dass das, was Lessing unter peripetie ver-
steht, nicht ganz richtig sei, und führen die jezt algemein angenommene erklärung
240 NEIDHARDT
an Daraus folgt aber schon mit notwendigkeit, dass jener lösungsversuch , weil
ganz auf die unrichtige deutung der peripetie gebaut, nicht zum ziele führt, wenn
auch Cosack, auf Ed. Müllers autorität gestüzt, uns das wider versichert. — Aber
selbst, wenn man mit Vahlen im 13. c. die lehre von der /Linußol^ und nicht, wie
Lessing, von der ntQinsTfia erblickt, wird man den Widerspruch nicht los. Denn
erstlich ist die fAtraßoh) kein teil der handlung, sondern die summe derselben,
am wenigsten ein accessorischer, wie jene; und zweitens steckt der Widerspruch
auch im 14. c. allein, wie Susemihl gezeigt hat.*
XXXIX, 8. Heimat und zeit des Polybius sind schon unter XXIX, 10 ange-
geben.
XLIX , 5. Die bemerkung : „ Das urteil des Aristoteles (über Euripides) . .
kann nur mit einer gewissen einschränkung anspruch auf richtigkeit erheben, denn
auch bei Äschylus und Sophocles ist ein unglücklicher ausgang durchaus nicht sel-
ten" — vergisst, dass Aristoteles selbst unmittelbar vorher sagt: id toicvtiu tqk-
yixcjTccTui (fuh'ovrai. Eben deswegen ist die versuchte beziehung auf die jüngeren
tragiker unzulässig. Euripides erweist sich als der tragischste dichter, insofern
die genante art der composition bei ihm die vorwiegende oder wenigstens häufiger
war als bei jedem anderen dichter. "•^
7. ,, Aussetzen" kann hier nicht wol heissen ,, versehen," ,, ausrüsten." Ref.
nimt es gleich ,, exponieren" im medialen sinne: sich die expositiou machen. —
[Lessing braucht „aussetzen" im sinne von ,, ausgehen, seineu ausgangspunkt von
etwas nehmen , von einem punkte aus beginnen " ; vgl. am Schlüsse der vorrede
zum Laokoon : „Da ich von dem Laokoon gleichsam ausseztc, und mehrmals auf
ihn zurückkomme , so habe ich ihm auch einen anteil an der aufschrift lassen wol-
len." Demnach scheint hier der sinn sein zu sollen: „wenn er uns sofort könte
anheben lassen mit der Überzeugung" usw. J. Z.]
LVIII. Im text s. 342 liest man: ,,und erbarmen solte könige schimpfen?" —
Fehlt etwa das ,,be''?
LIX. Im text s. 346 steht: ,,in leidenschaften , deren jeder seine eigene
beredsamkeit hat." Hier steckt entweder ein fehler, anstatt: deren- jede ihre
eigene ..., oder eine künstlich geschraubte construction des sinnes: jeder bat seine
eigene beredsamkeit der leidenschaften, jeder weiss den leidenschaften einen indi-
viduellen ausdruck zu geben. Dem zusammenhange entspricht mehr die erstere
annähme. — [Meines bedünkens soll ,, deren" ungefähr die bedeutuug ,, in welchen"
haben, der genitiv ,, deren" aber abhängen von ,, beredsamkeit," so dass der sinn
ist: ,,in leidenschaftlicher erreguug hat jeder seine eigene, natürliche, angeborene,
nicht angelernte beredsamkeit. J. Z.]
LXI, 2. Durch versehen steht „so" anstatt ,,und."
LXXII. Der ausdruck „löschbrand" im text s. 400 hätte wol eine erklärung
verdient.
LXXIII, 24. Zu den worten Lessings : ,,ich würde Shakespeares werk wenig
stens nachher als einen Spiegel genuzt haben, um meinem werke alle die flecken
abzuwischen, die mein äuge unmittelbar darin zu erkennen nicht vermögend gewesen
1) Vgl. des ref. de Eurip. poet. niax. trag. p. 33 — 37, resp. 313 — 317, wo ein
versuch gemacht ist den schaden durch Umstellung der worte xgcirtaTov und äsvTfQov
zu bellen.
2) Vgl. die ausführungen des ref. 1. 1. p. 1. 2, 14—16, 37 — 39, resp. 281. 282,
294 — 296, 317 — 319.
ÜBER LESSINGS HAMB. DRAM. ED. SCHROETER -THIELE 241
Wäre" — fügen die herausgebev hinzu: „«lic aber (so dürfen wir wol Lessing ergän-
zen, weil or im folgi-nden Sliakosjjeare nirgends reclitfortigt) bei den grossen mas-
sen der Shakespeareschen tragödie leicht an dieser selbst zu erkennen gewesen
wären." — Sie nehmen also an, dass Lessing von fieeken in Shakespeares Richard III
rede, welche er, als dort leicht orkenbar, aufgesucht liaben würde, um die glei-
chen fehler in der eigenen arbeit zu tilgen. Diese auffassung ist weder im Wort-
laute des textes begründet, noch lässt sie sich irgend mit dem zusammenhange des
Stückes wie mit der gesamtanschauung Lessings von Shakespeare in einklang setzen.
Lessing will einfacb sagen: ich würde mein (fertiges) werk mit dem Shakespeares
als einem muster verglichen und aus dieser vergleichung, an den schiinhciteu
Shakespeares die fehler meines Werkes erkant haben, die ich bis daliin nicht gese-
hen hätte.
LXXIV. Im text s. 417 steht durch versehen „entwurf" anstatt ,,einwurf."
LXXV, 14. Phokas regierungszeit ist um 1000 jähre zu spät angesezt.
LXXVI, 4. 5. Dass Lessings erklärung des (fiXarfh^oinov die richtige ist,
meint ref. in seiner vorgenanten schrift bewiesen zu haben. ^
LXXVII, 1. Hier wird die Döringsche lehre von der potentiellen (tragischen)
und eigentlichen furcht vorgetragen, welche ref. für recht scharfsinnig, nur nicht
für aristotelisch ansehen, und welche bei Aristoteles nicht gefunden zu haben er
unmöglich mit den herausgebern Lessing als Unklarheit anrechnen kann.^
12. Durch versehen steht hier: ,,eine und des Aristoteles ansieht" anstatt:
,, seine u. d. A. a.
13. ,,Die herren haben gut streiten" braucht kein Gallicismus zu sein in
der bedeutung ,,striiten vergeblich." Wenigstens hiirt man in Schlesien, Sachsen
und Thüringen täglich Wendungen wie: ,, Du hast gut reden, raten, lachen" u.a.m.
in dem sinne: ,,Du hast oder machst es dir leicht, davon zu reden" usw. Übri-
gens liegt der begriff des vergeblichen darin mit eingeschlossen; denn diese aus-
drücke werden immer auf solche angewendet, die man in falscher position zur
sache ei'blickt, und deren reden und tun man darum richtigkeit, Verbindlichkeit
für andere und erfolg abspricht. Z. b. ,,Der reiche hat gut reden von den Vor-
zügen der armut" heisst: dem reiclien wird es leicht von den Vorzügen der armut
zu reden, weil er ihren druck nicht kent, - und eben darum redet er in den wind.
XCI, 5. Zu anfang der anm. muss Aristophanes anstatt Aristoteles gesezt
werden.
XCII, 6. An die bemerkung Hurds: ,,Der geizige des Meliere ist nicht so
eigentlich das gemälde eines geizigen mannes als des geizes selbst" — schliessen
die herausgeber folgende deduction Kre^'ssigs: ,.ein erfahrener Wucherer, der seinen
geldkasten vergräbt, ein mann der nicht zwei brennende lichte in seinem zimnier
leiden mag, der ohnmächtig wird, wenn sein koch ihm den küchenzettel eines
massigen abendbrotes vorträgt: und dieser selbe mann im besitz von kutschpfer-
den, eines Intendanten und zum überfluss sterblich in ein armes mädchen verliebt
und nebenbuhler seines sohnes — das sind färben, die sich in dem porträt eines
einzigen menschen nicht vertragen, möge der glänz jeder einzelnen immerhin nichts
zu wünschen übrig lassen." — Nun heisst es in demselben XCIL st. weiterhin bei
Hurd: „Meliere und Plautus haben statt der abbildung eines geizigen mannes uns
eine grillenhafte widrige Schilderung der leidenschaft des geizes gegeben. Ich
1) L. L p. 24 — 26. resp. 304 — 306.
2) Vgl. de Eurip. p. 23, resp. 303.
ZEITSCHR, F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XII. 16
242 NEI0HARDT, ÜBER LESSINGS HAMB. DRAM. ED, SCHROETER - THIELE
nenne es eine grillenhafte Schilderung, weil sie kein urbild in der natur hat. Ich
nenne es eine widrige Schilderung ; denn da es die Schilderung einer einfachen
unvermischten leidenschaft ist, so fehlen ihr alle die lichter und schatten, deren
richtige Verbindung allein ihr kraft und leben erteilen könte. Diese lichter und
schatten sind die Vermischung verschiedener leidenschaften , welche mit der vor-
nehmsten oder herschciiden leidenschaft zusammen den menschlichen Charakter aus-
machen." — Dass die beiden beurteiler gerade das entgegengesezte in dem stücke
des Meliere finden und tadeln , liegt auf der band. Hier durfte es an einer ver-
mittelung nicht fehlen, oder der leser durfte überhaupt nicht in dieses dilemma
versezt werden.
XCIV, 5. Hier heisst es u. a. : ,,In Wahrheit aber existiert das begriif liehe
nur in oder durch das einzelobject, nicht aber neben oder jenseit desselben, und
es gab somit für Plato keinen grund die kunst, soweit sie die erscheinungs-
weit nachahmt, aus seinem idealstaatc auszuschliessen." — Für Plato gab es eben
den grund, dass er die gegenteilige lehre, wie sie die herausgeber vorher richtig
zu anfang der anmerkung entwickelt haben, aufstelte.
XCV, 8. Den ausdruck fermenta cognitionis soll Lessing ,,wol ohne zweifei"
dem Solinus entlehnt haben. Diese gewissheit ist doch recht ungewiss vorgetragen.
XCVI, 7. „Gegen aller neuern jjolierten Völker ihre" (sc. litteratur) und
XCVni, 4. „Die niederlage bei sich erlaubt" sind sächsische Provinzialis-
men. „Niederlage" bezeichnet ort und gelegenheit zu verkehr in fremdem hause,
meist mit dem nebeubcgriffe des anstüssigen.
CI — CIV, 6. In einer längeren auseinandersetzung über Lessings dictum :
„ich bin weder Schauspieler noch dichter" liest man: ,,'Wir meinen vielmehr, es
liegt uns hier ein wort vor, durch welches Lessing in wahrhaft bewundernswerter
selbsterkentnis durch Schilderung seines eigensten wesens seine innersten herzens-
gedanken offenbart " . . . . „ Doch hier erweisen zu wollen , dass Lessing sich mit
den Worten selbst bitteres unrecht zugefügt hat, würde unnütze mühe sein, da
dies, wie jeder freund Lessings weiss, von weit berufener (berufenerer?) band
widerholt geschehen ist" .... ,,Aber alles dies erklärt nur, warum Lessing so
sprach, nicht aber, ob er recht hat. Und dies hat er in seinem sinne gewiss!" —
Diese sätze vermag ref. nicht zu vereinigen. Wenn Lessing — natürlich in sei-
nem sinne — recht hat, wenn er mit ,, bewundernswerter selbsterkentnis" sich
beurteilt, so kann er sich unmöglich bitteres unrecht zugefügt haben. Unrecht wird
ihm nur der tun, der ihn nicht in seinem sinne, also falsch versteht. Und dies
meinen wol auch die herausgeber.
Im text s. 603 liest man: „die ihn mit einem bewundernden Ah! nachfolgt."
37. Anstatt A. 11 ist zu lesen A. 12.
Trotz des kläglichen stiles der herren Dodsley und compagnie darf man wol
fragen, ob sie wirklich gedruckt haben : ,, so bald jemanden ein buch nacligedruckt
wird" — „von alle arten des nachdrucks" — ,,von unsre geselschaft aber"
s. 606. 607.
Endlich möchte ref. hinsichtlich der diction mit aller reserve, welche der
vor anderen subjective charakter solcher eindrücke erheischt, bemerken, dass ihm
hin und wider eine, um den Lessingschen ausdruck einmal selbst anzuwenden,
„symbolische" rhetorik entgegengetreten ist. Er macht in diesem betracht beson-
ders auf den anfang des Vorwortes, den schluss der einleitung und auf die num-
mern LIX, 9. LXXII, 5. LXXIII, 15. LXXXVII— VIII, 11. CI — CIV, 5. 6. auf-
merksam.
TOMANETZ , ÜBER HADAMAR ED. STEJSKAL 243
Kef. schliesst mit dem wünsche, dass es den Verfassern beschieden sein möge,
ihr tüchtiges und gewissenliaftes werk in nicht zu langer zeit weiter zu vervol-
komnen.
ERFÜRT. DR- E. NEIDHARDT.
Hadamars von Laber Jagd mit Einleitung und erklärendem Coni-
mentar herausgegeben von Dr. Karl Stejskal. Wien 1880 bei Alfred
Holder. XLIV, 219 s. fl. 3. 20
Schmellers ausgäbe von Hadamars ,. Jagd" ist schon 1850 als 20. publication
des literarischen Vereins erschienen : seitdem kam die vorzügliche Münchener hand-
schrift (bei Stejskal B) neu hinzu, andere hss. , die Schmeller wol gekant, aber
nicht benüzt hatte (C [14. jh.], d [15. jh.]) konten mit grossem vorteil bei der
textesherstellung verwertet werden; zudem basierte Schmellers ausgäbe auf der
ziemlich wertlosen Erlanger handschrift (15. jh., bei Stejskal c) und Hess manches
zu wünschen übrig; eine neue ausgäbe der Jagd war also wol gerechtfertigt, und
dass selbe in die hosten bände geraten ist , beweist die vorliegende edition in vol-
stera masse. Schon in seiner abhandlung ,,zu Hadamar von Laber" Zeitschr. f.
deutsch, alterth. 22, 263 — 99 hat Stejskal eine probe seiner umfassenden und
gründlichen vorarbeiten gegeben und die einleituug, die der ausgäbe vorausgeht,
erweitert die dort behandelten punkte , und fügt melirere neue hinzu , alle mit einer
Sorgfalt und genauigkeit ausgeführt, dass man für die ausgäbe selbst nur das beste
erwarten kann.
Bevor wir uns zu dieser selbst wenden, mag ein überblick über das in der
einleitung gebotene voraufgehen. Unter L gibt Stejskal einen abriss des lebens
Hadamars. Wenig war in dieser hinsieht vorgearbeitet, auch das gedieht selbst
bietet fast keine anhaltspunkte, alles muste aus den verschiedensten geschichtsquellen
mühsam zusammengelesen werden. Um so statin enswerter ist die relativ grosse
genauigkeit, mit der wir des dichters lebenslauf verfolgen können. Ich will als
resultat nur herausheben, dass Hadamar III. aus dem oberpfälzischen geschlechte
der von Laber um 1300 geboren ist, eine ziemlich wichtige politische rolle spielte,
zwischen 1335 — 40 unser gedieht verfasste und in den 50er jähren gestorben ist.
Sein rühm überdauert ihn um Jahrhunderte; sein literarisches beispiel wird mass-
gebend für die nachfolger und insoferne ist Hadamar als dichter von niclit zu
unterschätzender bedeutung. — Im 2. abschnitt bespricht Stejskal das handschrif-
tenverhältnis , wofür die oben erwähnte abhandlung das wichtig.ste schon vorweg-
genommen hatte. Die frage nach der ursprünglichen abfolge der Strophen ist bei
der „Jagd" eine ungemein verwickelte, da nicht zwei der erhaltenen handschriften
in derselben übereinstimmen und nicht eine ein volständig siugemässes ganzes
darbietet Mit gröster Sorgfalt sucht Stejskal diese frage ins reine zu bringen und
hat dabei unzweifelhaft, in befolgung richtiger grundsätze, die wahrscheinlich
ursprüngliche strophenfolge widerhcrgestelt. Sjieciell rechtfertigt er die anordnung
der ersten 21 atrophen, da hier die handschriften am meisten divergiren. Dass
trotzdem nicht überall ein fortlaufender gedankenfluss erzielt werden konte, liegt
in der natur des gedichtes und wol auch seiner abfassung, da es mir wenigstens
sehr wahrscheinlich ist, dass die ,,Jagd" nicht eine einheitliche coniposition , son-
dern in absätzen gearbeitet ist, deren Verschmelzung eine volständige ausgleichung
verhinderte. (Vgl. auch einleitung s. XIX.) Anschliessend gibt Stejskal eine Über-
sicht über den Inhalt und die art der composition des gedichtes: wir ersehen daraus,
dass die eigentliche allegorie der schwächste teil der dichtung ist, wie nicht anders
16*
244 TOMANETZ
ZU erwarten war, die stärke Hadaraars vielmehr in den eingestreuten betrachtun-
gen liegt, obwol auch hier nur selten wirklich schönes sich entdecken lässt, das
sogar inhaltlich nicht einmal auf erfindung des dichters zu beruhen braucht, son-
dern nur verarbeitetes gemeingut der damaligen gebildeten kreise sein kann. Ich
denke, Stejskal würdigt diese seite des gedichtes mehr als sie verdient. — Unter III.
bespricht der herausgeber die strophenform . die sich als eine nachbildung der
Scharfenbergischen Titurelstrophe erweist, indem diese dahin geändert ist, dass
nur klingender versschluss verwendet Avird. Lozteres ist darum interessant, weil
sich dabei die beobachtung ergibt, dass Hadamar den unterschied zwischen hoch-
betonter langer und kurzer silbe nicht mehr kante , und darum ein wort wie begeren
nur mehr klingend verwerten, mithin auch im vers nicht mehr verschleifen konte.
Dafür ist auch bei ihm das princip strenger abfolge von hebung und Senkung ohne
ausnähme durchgeführt. Übrigens beobachtet er im algemeinen die metrischen
gesetze der blütezeit , was Stejskal des näheren ausführt. Es ist ein verdienst die-
ser ausgäbe , diese metrischen beobachtungen auch textkritisch verwertet zu haben ;
Schmeller kam es nicht darauf an , einem verse 1 bis 2 hebungen mehr zu geben,
als er reclitmässig haben solte. - In IV schliesslich sammelt Stejskal einige der
wichtigsten rhetorischen mittel Hadamars: es sind ihrer nicht wenige, doch ver-
lieren sie meist ihren wert, da sie gewöhnlich auf die spitze getrieben werden.
An diese reichhaltige eiuleitung schliesst sich der text an. Über das ver-
fahren bei der herstellung desselben spricht sich Stejskal s. XLIII fg. aus. Berückr
sichtigt sind fast nur die handschriften des 14. jh.: ABC Da, und mit recht; denn
die im 15. jh. geschriebenen sind durch den Unverstand der Schreiber meist in
sinlosester weise corrumpiert. Von den erwähnten handschriften gehören A B C D
der handschriften - klasse x, a der klasse y an, so dass die Übereinstimmung in den
lesarten der beiden klassen für die textrecension von entscheidendem einfiuss sein
konte. In den seltensten fällen ist Stejskal von der handschriftlichen lesung abge-
gangen und hat conjekturen in den text gesezt, die aber sämtlich geglückt sind
(vgl. zu 24, 5). Eher könte man sagen, dass er sich zu sehr an die handschrift-
liche autorität gehalten hat (s. u.) ; der archetyp mag , wie in bezug. auf die stro-
phenfolge (vgl. ztschr. f. d. a. 22, 294) so auch rücksichtlich der textgestalt nicht
mehr ganz correct gewesen sein. Dass die abweichungen von Schmeller bedeutende
sind, wird niemandem auffallen, der bedenkt, dass Schmeller seinen text haupt-
sächlich nach der schlechten Erlanger handschrift construiert hat. Zu wünschen
wäre nur, dass wenigstens die bedeutenderen textdifferenzen, eventuel bei den les-
arten , ersichtlich gemacht worden wären. Dass freilich an vielen stellen durch den
neuen text immerhin noch keine klarlieit hergestelt ist, darf nicht dem heraus-
geber zur last fallen ; Hadamar hat sich oft einer so dunkeln ausdrucksweise beflis-
sen, die meist durch die form der allegorie hervorgerufen ist, dass gewiss schon
den Zeitgenossen hin und wider nicht ganz klar gewesen sein mag , was er gemeint
hat. Das lässt sich natürlich nicht gut machen. Jedoch gegen Schmellers text,
der manchmal einen platten unsinn bot, hat die neue ausgäbe gewiss einen sehr
bedeutenden fortschritt gemacht und, soweit man es beurteilen kann, fast überall
in der herstellung des textes das richtige getroffen. Nur kleinigkeiten sind es, an
denen recensent von Stejskals lesung altweichen möchte. So steht 15, G geselle,
hetzä Liehen. ABa, die liss., denen Stejskal stets gefolgt ist, uiul deren Überein-
stimmung um so wertvoller ist, da sie zwei handschriftenklasson angehören (vgl.
s. XVIII), lesen hetze. Wenn nun auch B an der zweiten stelle, wo es dieselbe
Strophe widerholt (B 512) hetsa liat, so steht doch für unsere strophe hetze fest. —
ÜBER HADAMAR ED. STEJSKAL 245
91, 7. helfet mir si liehen, mich ir bieten Ba, was Stejskal in der anmerkung als
eine auch gute lesart anerkent; sie ist sogar die l)essere. Denn abgesehen davon,
dass Ba als zwei handschrit'tenklassen angehörig viel melir gewicht haben als A.
dessen lesart im text steht, so ist in helfet mir si lieben (= helfet mir, dass sie
mich erfreue) si Subjekts - accusativ und der satz ein echter acc. c. inf. ; ich denke
nun, es ist stets das richtigere, einem solchen in einem mhd. gedieht auszuweichen,
zumal wenn auch andere gründe eine änderung befürworten. Schnieller hat, viel-
leicht von derselben erwägung geleitet, helfet (icsellen mir, ir liehen geschrieben. —
Schwierig ist die stelle 112, 4 man hoert si hellen lüte imd Jceines dönes. Das
eigentlich zweifelhafte wort ist dönes : die handschriften bieten das verschiedenste :
trones, lones ; icones, frones. Öclinieller und Bech conicierten der erstere rönes,
der andere hrönes (vgl. ötejskals anm. zur st.), dönes ist mit Ba wol richtig her-
gestelt und die anderen handschriften mögen geändert haben, um dem reim auf
dönes (v. 2) auszuweichen. Doch auch so ist die construction etwas eigentümlich,
a bietet chlaines dones. vielleicht könte es ursprünglich unMeines dönes geheissen
haben, so dass derselbe gedanke erst positiv, dann negativ gegeben ist, was bei
Hadamar öfter vorkorat. Vgl. 180 , 4. — Auch 275, 7 , wo im text steht oh ich
si staet , getriuwe und rein des muotes , gibt a mit reines muotes eine glattere
fügung. Freilich ist es wider in solchen fällen geratener, die seltenere construc-
tion als die ursprüngliche, von der zu einer gebräuchlicheren abgewichen wurde,
aufzunehmen. — In 312, 2 ez kere ^car ez kere, dar teil ich nimmer kriefjen wäre
ohne bedenken mit B immer in den text zu setzen gewesen; nimmer ist gewiss
falsch. Allerdings haben es die übrigen handschriften; da hört jedoch die pietät
gegen die handschriftliche autorität auf, die sonst der ausgäbe nur zum lobe
gereicht. Zum mindesten hätte die änderung im commentar als notwendig ange-
merkt werden sollen. — 330, 1 fgg. lesen wir: swer minner heizet tören, ser ich
daz loiderklaffe , so habe ich miniu ören. In dieser fassung ist es schwer, einen
practikabeln sinn herauszufinden. Die änderung ist jedoch sehr leicht und zwar
ganz an der band der handschrift, was Stejskal eben nur übersehen haben muss.
ABa lesen habt (was unter den lesarten s. 164 nachzutragen ist)^ und sodann eio
(= iu). Die stelle heisst somit: .so habt iu miniu ören und ihr sinn ist: ihr könt
dafür meine obren zum pfand nehmen. — 334, 4 ist wol herzentrüten zusammen-
zuschreiben. — 490, 1 liest Stejskal in Übereinstimmung mit allen handschriften:
ich sprach. Das ist nun schon deswegen auffallend, weil Hadamar seit 488, 6
spricht und zu sprechen noch gar nicht aufgehört hat Sodann ist der inhalt der
Strophen 490. 491 schwer mit Hadamar und seineu Jagderlebnissen vereinbar. Er
spricht nämlich str. 490 von einem liebchen , das ihm gott gegeben hat , und ohne
das er jezt nicht mehr am leben wäre; denn sie war ein zaemez wilt gehiure und
hatte den Jäger offenbar nicht zu lange auf der verte gelassen. Gerade das gegenteil
davon jedoch ist der inhalt der ,,jagd"; Hadamar entkörnt das wild stets und er
ist darob in Verzweiflung. Keinen anstoss gibt die strophe, wenn wir statt ich : er
lesen und diese werte dem Jäger, mit dem er spricht, in den mund legen. Dann
schliesst sich auch 491 vortreflich au. ,,Zum Zeitvertreib möchte ich nicht ungerne
einer scheuen binde, die der Schlauheit Schlauheit entgegenzusetzen versteht, den-
noch auf irgend eine listige ai't beizukommen suchen; solche kniffe muss eben einer,
der dem wilde nachjagt, kennen.'' Darauf komt wider Hadamar zum sprechen und
1) Ich habe diese ergänzung aus dem handschriften - apparate des herausgebers,
den er mir selber freundlichst zur Verfügung stelte.
246 TOMANETZ
meint, er vvolte ihm wol verzoilieii (dass er gegen sein wild listig vorgehe) wenn
er sein nachreiten und des wildes flucht zu sehen bcicäme und wie eines das andere
überlisten wolte — mit deutlicher bcziehung auf des Jägers rede in strophe 491.
Diese und 490 gehören zusammen, bilden die rede des Jägers, und 490, 1 ist dann
er zu schreiben. Damit entfält natürlicli Stejskals frage, wer wol dieses Hadamars
liebchen gewesen sein mag. — 497, 5 steht im texte: ez kom ein donrsträl, brin-
nent in der verte der blic von himel liUte. Aa lesen; in prennen verte , B pren-
nen verte. Das ist sinlos. Da also geändert werden muss , halte ich für viel ein-
facher zu lesen: in brinnenter verte. Das stimt fast volständig zu Aa. Die versezte
botonung von brinnenter kann bei Hadaraar , der lieber eine tieftonige silbe statt
der hochtonigen in hebung sezt, um nur ja nicht eine Senkung auslassen zu müs-
sen, nicht befremden. (Vgl. s. XXIX.) — 560, 6 Fröud ist von im gesiviget, er
(sc. Eüege) hat sich auch von manger vart verdrimgen. sich lesen alle handschrif-
ten , und darum hat es Stejskal beibehalten ; und doch ist es falsch. Schon Schmel-
1er (seiner anordnung str. 563) hat dafür, unzweifelhaft richtig, sie conicirt. — In
Strophe p, 7 (s. 147) schrieb Stejskal: und hüete wol der Zungen klaff erortes.
klafferortes muss jedenfals getrent geschrieben werden; denn Zungen kann nicht
von klafferortes abhängig sein , sondern nur klaffer von zwngen und dieses von
ortes.
Nur nebenbei möchte ich bemerken , dass hin und wider die s. 144 fgg. abge-
druckten Strophen , die sich nur in einzelnen handschriften finden , auch eine bemer-
kung verdient hätten.
Auch gegen die interpunction , deren durchführung an dem oft so schwierig
zu verstehenden Inhalt bedeutende hindernisse zu überwinden hatte, ist nur an
spärlichen stellen etwas einzuwenden. So 134, 5 fgg. nu sint si als die wolfe gar
tinmaere; die da den guoten wiben ir fröud verkerent, daz sint fruödirraere. Das
si in V. 5 verlangt notwendig eine erklärung, die eben in dem folgenden relativ-
satz gegeben ist; der Strichpunkt ist daher in einen beistrich zu ändern; der rela-
tivsatz steht dann änd xoivoD. Ich will hier anmerken, dass Hadamar diese con-
struction mit einiger Vorliebe anwendet; so steht sie kurz vorher 132, 5 fgg.: ich
mein die merker, die ez dicke noeten, [daz ez sin selbes kummer verswigen muoz],
daz loil es danne toeten. Dann 129, 4: ich hoffe, ez ivelle nü geschehen, [daz
Harre, Triuioe, Staete und Wille zuo einander setzen] , ^ö stoigen alle klaffer bil-
lieh stille. Hier ist bemerkenswert, dass daz zuerst mit ,,dass," im zweiten falle
mit ,,wenn" zu übersetzen ist. Freilich kann auch der durch so eingeleitete satz
für sich stehen, so hat dann die häufig vorkommende bedeutung ,,wenn das gesche-
hen ist, so," ,,dann" (wie auch 122, 7). In diesem falle ist aber natürlich der
beistrich vor so in einen Strichpunkt zu verwandeln. Es begegnet jedoch dieselbe
doppelte bedeutung von daz in einer « tto xotroö- construction auch strophe 441: ich
wünsche in minem herzen, [daz guoter frouwen ougen wol saehen äne smerzen in
al der minne gernden herze tougen wml oiich erkanden , da ir aller meinen], so
möht man guot dem guoten erzeigen und ouch miden die unreinen. Sie braucht
also 129, 4 nicht aufzufallen. Zu str. 441 Ist nur noch zu erwähnen, dass der bei-
strich nach erkanden jedenfals zu streichen ist. — 817, 3 fgg. ich däht, man solte
hohen iuch mörder, öwe einem armen gaste, dem bi in schalken sine hunde entlie-
fen. Nach mörder muss ein Strichpunkt oder punkt gesezt werden. — 397. Gesel-
liclicher läge üf alle schanze ivarten nnem ich für alle mäge. des muot besniten
waer so mit der barten, so daz er tvol geselleschaft erkande, verswigen und ant-
tvurten ze rehter zit, waz der unsaelde tvande. Der satz naem ich für alle mäge
ÜBER HADAMAR ED. STEJSKAL 247
sezt eine person voraus, Jio HacUiniar allen seinen verwaiiten vorziehen würde,
„wenn sie nämlich so j,'cartct wäre, dass sie wul von dem beisainniensein wüste,
jedoch zu rechter zeit zu schweigen und rede zu stehen verstünde, so dass (hidurch
alles Unheil heseitigt würde." Dies ist der Inhalt der v. 4 fgg., die notwendig zu
V. 3 gehören, weshalb ich es für das richtigehalte, den puukt nach müge in einen
beistrich zu ändern. V. 1 und 2 stehen dann gewissermassen anaphorisch da und
werden durch den satz mit des wider aufgenommen; des steht hier in derselben
bedeutung, in welcher so oft der == siver vorkomt = wenn jemandes, wenn eines
.... — 517, 1 fgg. ffcdenke in släfes tivalme midi Umngent ie so nähen, man
muht mit einem h(dme da zioischen niht, so ivaene ich, umbe vähen. So interpun-
giert, gehören mit einem hcdme du stoischen umhe vähen zusammen; das ist ja
eine reine contradictio in adjecto. Die besserung ist einfach, indem man den bei-
strich nach so ivaene ich weglässt und nach niht stärker interpungiert. Die stelle
lautet dann: „im träume bin ich stets so nahe an ihr, dass man mit einem haline
nicht dazwischen könte: so fest glaube ich sie zu umfangen." Die ellipse des
objectes, wie hier hei umherähoi. findet auch sonst bei Hadamar ihre entsprecliung;
vgl. 478, 4: gelich dem helnden diebe oant ich da leit, dem ich (sc. mich) noch nie
ertoerte. — Auch in strophe s s. 148 würde ich eine änderung der interpunktion
vorschlagen. Die strophe lautet: ivaz Ican diu herz durch kriechen, daz ez den
muot erfrischet, kein erzen't den siechen so holde labet, so ein wort daz mischet ist
mit dem zeichen dar an man enphindet ein lieplich sunder meinen , ivie snelle
daz unmnotes bant enbindet! Ich denke mir nun den gedankenzusammenhang so;
vorausgeht die frage: „was kann so in das herz dringen, dass es das gemüt
erquickt?" Darauf folgt als antwort nicht direkt: Worte und gebärden der liebe,
sondern in breiter ausführung: keine arzenei labt den kranken so bald, als ein wort,
das von gebärden, an denen man die liebe erkent, begleitet ist; und als resume
dessen zum schluss: ,,wie schnell dadurch der unmut beseitigt wird!" Danach
glaube ich, ist hinter erfrischet ein fragezeichen und hinter meinen ein Strichpunkt
zu setzen.
Dem texte schliessen sich die lesarten an, die jedoch nur eine auswahl von
handschriften berücksichtigen, vgl. s. 244; nur in wichtigeren fällen sind auch die
handschriften des 15. Jahrhunderts angeführt.
An die lesarten reihen sich die anmerkungen , die meist lexikalischen Inhal-
tes sind, indem die in dem gedieht so vielfach vorkommenden jagd- ausdrücke sorg-
fältig und gründlich erläutert werden, auch sonst bei schwierigen Wörtern die ent-
sprechende Übersetzung hinzugefügt wird; hin und wider werden auch ganze stellen
dem Vorständnisse näher gerückt, jedoch wie ich meine, viel zu spärlich. Hada-
mars unklare diction hätte es schon verdient, an zahlreicheren stellen in ein helle-
res licht gestelt zu werden; dem herausgeber, der sich in das gedieht hineingelebt
hat, mag manches ganz klar sein, was demjenigen, der das gedieht eben nur liest,
unverständlich ist oder erst nach längerem bemühen deutlich wird ; vielfach genügt
da eine kurze andeutung, die wenig räum einnimt, die anmerkungen aber erst zu
dem macht, was sie zu sein versprechen, zu einem ,, erläuternden commentar."
Auch syntactische noten finden sich ; auch diese hätten viel reicher ausfallen kön-
nen; doch ist wie gesagt, das hauptaugenmerk des herausgebers auf die wort-
erklärung gerichtet gewesen, und es kann ihm daher der mangel umfassenderer
syntactischer beobachtungeu nicht zur last gelegt werden , zumal , wie mir
dr. Stejskal mitteilte, das festgesezte raumverhältnis ihm vielfache heschränkungen
auferlegte.
248 TOMANETZ
Es sei mir nun noch vergönt, einzelne punkte der anmerkungen zu bespre-
chen. Zu str. 29, 7: claz ich mich danne ieman irren saehe constatiert Stejskal
einen acc. c. inf. : ieman mich irren. Doch ist dieses bedenkliche syntactische hilfs-
mittel hier gar nicht nötig; ieman ist objects -accusativ zu saehe. — 158, 6 ich
meine unnoetez klaffen von manger diet, duz mich vil dicke toeret soll zu dem
indirecten anführungssatze ein ,,ist es" zu ergänzen sein; umioetez klaffen ist
ubject zu ich meine. — 180, 5 ich blies zwir ^ind schrei mit mangem ivuofen ist
wuofen als „Jammergeschrei" erklärt; eher ist hier an einen jagdruf zu denken,
durch den ein helfer herbeigeführt werden solte. Nebenbei will ich bemerken , dass
es mir in den folgenden versen: ob ich noch ieman hörte, den ich durch helfe
mohte zao mir ruofen, viel plausibler seheint, statt ob ich : ob mich zu schrei-
ben; der ton liegt doch darauf, dass ihn jemand hört. — 184, 6. 7 kein künc
wart nie so riehe , ez waer (jenuoc , ob er die vart volendet. Dies wird übersezt
mit: „kein könig war jemals so glücklich, es wäre viel, wenn er (als könig) zum
ziele gelangen würde." Dadurch ist die stelle nicht viel klarer geworden. Es ist
wol zu übersetzen: ,,Nie war jemals ein könig so reich, dass es ihm nicht genügen
köute, wenn er (sc. da, bei dieser frau) zum ziele käme." ez waer = es enwaer. —
203, 1. 2. dö such ich ez umb jagen üf disen ivegen herte. herte wird als adv.
gefasst und fehlt als solches bei Lexer. Es kann hier aber auch flexionsloses attri-
butives adjectiv sein, zu wegen gehörig. Ebensowenig ist es nötig, 346, 3. 4
gesach man mich ie frechen, duz künde mir verzagen dö wol stillen, frechen als
ein sonst unbelegtes sw. v. retl. zu fassen; es ist der accusativ des flectierten prä-
dicativ gebrauchten adj. frech. Anschliessend will ich zwei irtümer corrigieren,
die Stejskal bei der constatieruiig des fehlens einzelner Wörter bei Lexer unterlau-
fen sind. Das 130, 7 erscheinende adj. schrickenlich steht bei Lexer 11, 797 unter
schriclich, in dieser form nur durch unsere stelle belegt; ebenso das 555, 2 vor-
kommende lenken stn. bei Lexer I, 1882, mit unserer stelle als einzigem beispiel;
allerdings ohne bedeutungsangabe. An mehreren anderen stellen findet sich wider
die stelle aus Hadamar bei Lexer notiert, aber mit etwas anderer lesung (nach
Schmeller) und unter einem anderen worte. So ist 263, 3 das ady. unhelfUche
bei Lexer allerdings nicht angeführt , aber unser vers steht unter unJiilflicJie II, 1897
als einziger beleg angemerkt: 378, 5 «?t ist verschröteyi min gedankes t'ider findet
sich I, 962 mit ÜfAimeller s gerider, das durch keine handschrift gestüzt wird. 544,5
daz er die göudenlichen milg vertrinken ist I, 1025 unter giudecliche mit der
Schreibung göudielichen citiert, während das adjectiv göudenlich (strophe 609 nach
Schmeller, f , s. 145 bei Stejskal) mit der richtigen form unter giudenlich I, 1026
angemerkt ist. Wider an anderen stellen ist wol das betreffende wort bei Lexer
vorhanden, es fehlt jedoch die specielle bedeutung, die für die stelle bei Hadamar
angenommen werden muss; so bei gerehticUch (35, 2. Lexer I, 875; vgl. Nach-
trag s. V.) die bedeutung: ,, weidgerecht, hirschgerecht"; bei brück (69, 6. Lexer
I, 362) die bedeutung ,, abgebrochener zweig"; bei blide (72, 5. Lexer I, 307)
die bedeutung „ artig , sittsam." Diese beiden fälle subsumiert Stejskal unter das
einfache ,, fehlt bei Lexer"; gewiss hat er recht; in einem fall fehlt wirklich die
bestimte form, im anderen die bedeutung; das hätte aber jedesmal angemerkt wer-
den sollen. An allen anderen stellen aber (es sind deren noch ca. 60) ist in der
tat das volständige fehlen des wortes bei Lexer zu constatieren , und man wird
überrascht durch die relativ grosse anzahl dieser bei Hadamar vorkommenden «7r«|
flQrjf^ivcc. Freilich sind es vielfach blos substantivierte Infinitive , die fehlen , und
die W. Grimm (vgl, Lexer I, XVII) übergangen haben mag, und andererseits
ÜBER HADAMAR KD. STEJSKAL 249
erklärt sicli oft das nichterscheinen der Wörter bei Lexer dadurch, dass eben die-
selben erst durch die neuo ausgäbe, die ein l)essores und besser verwertetes band-
schriften-material zur Verfügung hatte als Schmeller, in den fext gcsczt worden
sind. Übersehen liat Stejskal, dass das 196, 5 vorkommende beobern ebenfals bei
Lexer fehlt. Bei diesem wäre auch unter änen (1, 68) die bei Hadamar 264, 2
erscheinende dialectische nebenform önen (: Ionen, vgl. St. Hadam. s. XXXII) nach-
zutragen. — zu 233, 5 da viuoz muot in unmnot sich hekohern ist nach Lexer I, 167
für bekobern die bedeutung „sich zusammenfassen, erholen" (Lexer citiert dafür
blos Herb. H869) angesezt: hier ist es wol jedenfals mit ,.sich verkehren" zu über-
setzen, welche bedeutung allerdings nicht belegt ist; doch lässt sie sich sehr leicht
mit der belegten bedeutung vereinbaren: denn auch das ,, erholen" sezt eine ände-
rung des früheren zustandes voraus. — 338, 5 ich schrei, claz mort mit mordes
übergolde. Dazu ergänzt Stejskal geschiht. Es heisst natürlich geschah; die ganze
rede ist präterital. — 411,1 fgg. mit hnnden abgeladen sach ich da varen einen
gen mir üf einer sträzen. ntii hunden abgeläzen wird übersezt mit „von hunden
verlassen." ,,Mit" kann doch nicht mit ,,von" widergegeben werden. Es heisst
jedenfals ,, mit hunden , die freigelassen , vom seile losgemacht waren , also frei
herumliefen." Dafür spricht auch v. 5, in welchem Hadamar zu diesem Jäger, der
da herangekommen ist, sagt: hie ist vil ivildes , vähä dine hunde. — 555. vol-
sprechen noch volsingen mit aller zunge lenken kan nimmer muwt volbringen, —
was guoter dinge man mit Harren endet, lenken fasst Stejskal mit Lexer als stn.
und übersezt es mit ,,das lenken." Es ist nicht zu läugnen , dass dies nicht zum
besten passt. Wäre es nicht besser, lenken als dat. plur. zu einem stn. letik =
gelenk zu fassen, wie wir ähnlich 378, 5 vider statt gevider gebraucht gefunden
haben? Dass die ausdrucksweise „mit den gelenken der zunge" anatomisch unrich-
tig ist, braucht im 14. jh., zumal in einer dichtung, nicht aufzufallen.
Die lezten selten der ausgäbe fült ein kurzes aber volständiges sach- und
Wortregister. '
Alles zusammengenommen, kann man nur constatieren, dass diese herrn
prof. Heinzel gewidmete ausgäbe der „Jagd" allen anforderungen , die man an sie
zu stellen berechtigt war, in volstem umfang entspricht und im verein mit ihrer
freundlichen ausstattung gewiss nicht verfehlen wird , sich unter den Germanisten
zahlreiche freunde zu erwerben. Sie ist ganz danach angetan , das Interesse für
Hadamärs poem von neuem anzuregen und zum weiterarbeiten auf dem nun gebahn-
ten wege anzueifern. Von diesem gesichtspunkte aus wollen meine bemerkungen
beurteilt werden.
1) Wenn ich noch auf einzelne druckfehler aufmerksam mache, die sich zumal
in die anmerkungen eingeschlichen haben, so geschieht dies gewiss nur deshalb, weil
ich es für eine .pflicht des recensenten halte, auf derlei kleinigkeiten aufmerksam zu
machen, damit sich dieselben andere leser und der autor selbst ohne mühe ausbessern
können. Die meisten druckfehler im texte sind schon einleitung s. XLIV angemerkt;
nachzutragen bleibt nur 2.3.5, 7 lies üzbrüchic statt ürhrüchic. In den anmerkungen
s. 180 gehört die note zu: die vart bmven , die unter 26 steht, an das ende von str. 25,
s. 188 die unter 94 stehende bemerkung zu ungeslagen schon zu str, 95, ebenso s. 194
das unter 175 erklärte tingirdec schon zu str. 177, s. sodann 209 oben durchgraben
schon zu Str. 538. Ausserdem lies s. 185 statt str. 62: 63, s. 188 z. 17 v. u. statt ihm:
ihn, s. 197 statt str. 236: 235, s. 204 z. 8 v. o. statt schwiegen: schweigen und statt
anwenden: abwenden, endlich s. 210 z. 4 v. o. statt allitation : alliteration.
ZNAIM, IM MÄRZ 1880. KAHL TOMANETZ.
250 KINZEL
Die poetischen erzäliluiigen des Herraiid vou Wildouie und die kleinen
innerösterreichischen Minnesinger herausgegeben von dr. Karl
Ferd. Kummer, Prof. am K. K. Staatsgymnasium im IX. Bezirk in
Wien. Wien 1880, Alfred Holder. XIV und 228 s. u. m. 5,60.
Die poesie der Epigonen konte sich bis in die jüngste zeit nicht grade einer
sehr lebhaften teilnähme der forscher erfreuen. Besonders den entlegeneren gebie-
ten und weniger bedeutenden Stoffen schenkte man geringere beachtung. Ein blick
auf die nachtrage , Avelche Martin der litteraturgeschichte Wackernagels hinzufügte,
gibt davon Zeugnis: für den ausgang des 13. und die späteren Jahrhunderte stand
ihm nur spärliches material zu geböte. Es fehlte eben hier lange die rechte
anregung, und es ist immer von neuem zu bedauern, dass Jänicke seine absieht
nicht zur ausführung bringen durfte, die geschichte der deutschen spräche von
1250 — 1350 zu schreiben, wie er 1873 versprach. Eine solche zusammenfassende
arbeit wäre sicherlich überaus befruchtend gewesen.
Dieses jähr hat uns zwei umfangreiche specialuntorsuchuugen aus jener epoche
gebracht, welche der anregung Heinzeis ihre entstehung verdanken und ihm gewid-
met sind: Hadamars von Laber Jagd von Stejskal und Herrand von Wildonie von
Kummer herausgegeben , beide in lobenswerter ausstattung bei Holder in Wien
erschienen.
Kummer gibt s. 129 — 176 einen kritischen text der poetischen erzählungen
Herrands, s. 177 — 186 den der vier minnesänger Wildonie, Sounecke, Scharphen-
berc und Stadecke, unter demselben die abweichenden formen der handschrift,
dahinter 33 selten anmerkungen. Es ist zu bedauern, dass diese nicht ebenfals
unter dem texte stehen, da ihre benutzung dadurch doch bedeutend erleichtert
worden wäre. Ob es dem Verfasser gelungen ist, aus der einzigen handschrift den
text mit einiger Sicherheit herzustellen, wollen wir nicht weiter untersuchen. Jeden-
fals beruht sein verfahren , das ja in solchem falle stets von zweifelhaftem werte
ist, wenn nicht wenigstens einige gedichte zuverlässiger überliefert sind, auf den
eingehendsten Specialuntersuchungen über spräche und metrik Herrands , welche
die einleitung darlegt. Wir wollen deshalb auch auf einzelheiten , die luis aufgefal-
len sind, wie die form hetse für hete si III, 142, ivunnelcben in zwei werten
III , 548 und manches andere nicht näher eingehen , sondern uns ihr zuwenden.
Sie zerfält in zwei hauptteile. Der erste s. 1—55 behandelt die poetischen erzäh-
lungen Herrands.
Nachdem wir über die Schreibweise der Ambraser handschrift und Bergmanns
textreceusion , über die drucke und verwanten darstellungen kurz orientiert worden,
folgt eine sorgfältige metrische analyse. Sonderbar ist der ausdruck , der erste
herausgeber scheine „in herstellung mhd. formen etwas weit gegangen zu sein,"
während doch sein verfahren offenbar wie das v. d. Hagens in seinen gesamtabeu-
teuern ganz unkritisch war. Sic übersezten eben unbekümmert um reim und metrik
alles erreichbare in die spräche Hartmanns. Nicht viel anders ist das verfahren
Goedekes in seinem Theuerdank zu bezeichnen, das schwerlich dadurch entschuldigt
wird, dass jene samlung für ein grösseres publikum bestirnt ist. Wer den Theuer-
dank liest, mag sich auch die sprachformen jeuer zeit gefallen lassen. Schlimmer
aber ist es in sofern, als Goedeke nicht einmal bemerkt hat, wo und wie er geän-
dert hat. Kummer durfte also auf seine ausgäbe keine rücksicht nehmen, am
wenigsten Schlüsse auf ihre Orthographie bauen.
Die bemerkung unter den consonantisch - unreinen reimen s. 6 , dass die auf-
geführten reimfreiheitcn in den Nib. im Parz. vorkommen , ist in dieser algemein-
ÜBER HERRAND ED. KUMMER 251
heit unrichtig uud irreleitend, zumal Ja man sie auf das umiiittelbar vorhergehende,
auf reime wie was : baz, beliben : verzifjot , bezieht. Die anmerkungcn z. d. st.
berichtigen dies auch zum teil.
Die motrik ist wie das ganze buch mit grosser Sorgfalt und kcntnis der ein-
schlägigen arbeiten dargestelt. Die einzelnen abschnitte behandeln die hebungen
im vers, hebung und senkung, einsilbigkeit derselben, die lezte Senkung und den
auftact s. 7 — 20. In bezug auf die Verwerfung der annähme von dreihebigcn Ver-
sen bei Herrand stimmen wir dem Verfasser durchaus bei. Unter den von ihm auf-
geführten beispielon haben die meisten verse sicher sechs silben und sind ohne
Schwierigkeit regelrecht zu lesen. Im einzelnen liesso sich natürlich bei manchem
fall mit dem Verfasser über seine auffassung rechten. Aber wer sich einmal an die
verwickelte aufgäbe spät nihd. metrik gemacht hat, weiss, wie schwer es ist, ohne
vorgefaste meinung zu jeder erscheinung eine feste Stellung zu gewinnen. Die
frage nach der silbenzählung im 13. Jahrhundert ist eine überaus schwierige und
es will mir scheinen, als wäre Jänicke in ztschr. f. d. a. 16 und 17 zu weit gegan-
gen, wenn er ihr einen solchen cinfluss auf widersinnige wortbetonung zuschreibt.
Eher hat man sich wol sonst allerhand freiheit in verschleifung usw. gestattet,
auch wenn dabei fehlende Senkung eintrat. Wo ist auch z. b. die grenze zu zie-
hen, wenn es heisst : ,,die vokalische Senkung kann eiugesezt oder doch als dem
dichter noch fühlbar gedacht werden" (s. 8) wie in heimelich ; oder hat hier die
Senkung gefehlt ? Das aber ist schwerlich bei einem dichter wie Herrand zuzu-
geben, bei dem das fehlen der senkung in vielen fällen constatiert ist, wie ürloüge,
herliche, herschaft, einvalt u. a. , dass er den artikel in folgenden fällen betont
habe:
3, 109. imcl hiez den lantliuten.
3 , 273. dö slouf der eilende.
8, 284. da er den tonoartel vant.
3, 348. dö er des almuosens bat.
Ich glaube, dass man auch in der metrik der Ordnung zu liebe mit dem Schema-
tismus zu weit gehen kann. Unsrer auffassung entspricht denn auch das resultat
(s. 19): ,, Herrand von Wildon gehört zu den genaueren dichtem der zweiten hälfte
des 13. Jahrhunderts ; . . . von den rohheiten der späteren dichter im gebrauche der
kurzen reimpaare und in der silbenzählung hält er sich frei."
Nachdem die möglichkeit, ja walirscheinlichkeit dargelegt worden, dass der
liederdichter und erzähler identisch sind (vgl. auch Wack. lit, gesch. ^ 361) , folgt
in dem abschnitte ,, Chronologie der erzählungeu" s. 21— 34 der nachweis, dass
Herrand (im Koberstein immer Herant) der zweite , 1248 — 78 urkundlich bezeugt,
nicht der dritte 1281 — 92, der vei'fasser sei, der in intimen beziehungeu zu Ulrich
von Liechtenstein stand. Chronologisch wird für die einzelnen gedichte , für nr. III
und IV durch versuchte deutung und anlehnung an historische Verhältnisse, fol-
gende reihenfolge festgestelt:
II. der verkerte toirt, jedenfals nicht nach 1275, Ulrichs von Liechtenstein tod.
I. diu getriu kone, nicht vor 1257, Ulrichs Prauenbuch.
III. dor blöze keiser, etwa 1259/60.
IV. von der katzen, zwischen 1269 und 1271
Der schluss des I. teils behandelt Herrands Verhältnis zu seinen Vorgängern, zu
Stricker, zu Liechtenstein u. a. Für die erste erzählung diu getriu kone oder
252 KINZEL
daz ouge uimt Kuiiuner an , dass Herrand das längere gedieht GA 1 , 149 (die vers-
zahl ist gleich, es fehlen aber in GA. Herrands v. 1 — 22 und 265—75) gekant
habe. Ist nicht vielmehr mit v. d. Hagen an eine gemeinsame quelle zu denken?
Freilich wäre dann anzunehmen, dass beide sich ziemlich frei zu ihr verhalten hät-
ten. Eine abhängigkeit Herrands von der darstellung in GA will mir nicht recht
einleuchten.
Der vergleich des ,, Nackten Königs" mit der gleichen bearbeitung des
Strickers ist recht geschickt. Verfasser macht aufmerksam auf die modernen ideen,
welche Herrand eingefiochten hat und die ein licht werfen auf die Verhältnisse sei-
ner zeit. Wie hier so weicht auch die darstellung in der erzählung von der katsen
von Strickers kater freier bedeutend ab. Dennoch wird auch bei dem Nackten
König, der zwar unter des Strickers namen überliefert ist, aber ihm von Bartsch
abgesprochen wird, angenommen, dass Herrand dies gedieht gekant habe, ja dies
wird gestüzt durch die Vermutung, einige Übereinstimmung in bezug auf behand-
lung des reims lassen sich auf einfluss dieses gedichts zurückführen. Dies erscheint
um so kühner, als nach des Verfassers Zusammenstellungen s. 40 fgg. die sonstigen
Übereinstimmungen sich nur ,, auf einzelne Wendungen und kleine züge erstrecken."
Auch die technik Ulrichs von Liechtenstein hat Kummer einer Untersuchung unter-
zogen und verwendet zum vergleich die reime, die ausfüUuug der Senkungen u. a.
Hier soll sich ebenfals formelle beeinflussung orgeben, z. b. ,,den grammatischen
oder logischen ton um des versaccentes willen zu verschieben, hat Wildon wol von
Liechtenstein gelernt." Ich brauche kaum ein wort darüber zu verlieren, dass dies
wol scharfsinnig erfunden ist, dass es aber schwerlich je zu grosser wahrschein-
keit gebracht werden wird. Beide dichter gehören derselben zeit, derselben gegend
an: ich müste mir die handhabung dichterischer technik überaus mechanisch vor-
stellen, wenn ich an eine abhängigkeit denken wolte. Man sehe nur auf die bil-
dende kunst gleichen orts und gleicher zeit. Zahllos finden sich dieselben motive,
dieselben formen , meist ohne dass eine directe nachahmung anzunehmen ist.
Abhängigkeit Herrands von Ulrich, bekantschaft mit Iwein und Parzival wird
auch aus dem wertschätz erwiesen. Kummer geht im ganzen vorsichtig zu werke
und komt über eine Wahrscheinlichkeit nicht hinaus.
Der zweite teil der einleitnng s. 55 — 126 behandelt die vier kleinen inner-
österreichischen minncsinger Wildonie, Sounecke, Scharphenberc und Sta-
decke. Kummer gibt zunächst eine eingehende Übersicht über die entwicklung
der lyrischen poesie mit besondrer berücksichtigung ihres lebens in Österreich. Von
den österreichischen minnesingern werden auch die weniger bekanten und unbedeu-
tenderen mit grosser Sorgfalt skizziert, und zwar werden zuerst die ,,im öster-
reichischen hauptlande betrachtet , wo sie sich um einen festen mittelpunkt grup-
pieren." Dann geht der Verfasser s. 70 zu den übrigen österreichischen ländern
über: Tjrol, Kärnten, Steiermark, und komt so zu den vier steirisehen dichtem,
die er besonders behandelt.
Die Untersuchung über heimat und zeit der sänger s. 76 — 84 gibt folgende
resultate. Scharphenberc ist ein plagiator Neidharts; welcher und ob einer
von den urkundlich bezeugten herrn von Scharphenberc ist nicht festzustellen. Über
Suon egge, der eine eingehendere prüfung verlangte und erfuhr, wird seine
Zugehörigkeit zum geschlechto der untersteirischen Saneck oder Souneck vermutet
und nicht an Konrad L, sondern an einen seiner söhne gedacht, die von 1255
an erscheinen. Der Stadecker ist nach Weinholds bestimmung (Wiener Sitz. - Ber.
1861; 35, 162) Rudolf IL 1243—1261.
ÜBER HEREÄND ED. KUMMER 253
Die „Charakteristik dor sänger" s. 84 — 96 berücksichtigt das naturgefühl,
Syntax und stil, Strophen- und versbau. Bei Wildonie und Stadeck schliesst
Kummer auf gleiche schule. Ein besondres kapitel trägt die Überschrift ,, Vorbil-
der und uacliabmer" s. 97 — 120. Der Verfasser spricht sich im algemeinen mit
recht sehr vorsichtig über entlehnungen aus, meint sogar, „dass für wenige gedan-
ken und Wendungen unserer dichter sich nicht parallelen aus örtlich oft recht ent-
legenen poeten beibringen Hessen." Dennoch glaubt er nachweisen zu können ,,für
Wildonie, Sunecke und Stadecke fast gleichmässige bekantschaft und verwantschaft
mit Walther, Neifen und Liechtenstein , für Scharphenberc engste anlehnung an
Neidliart und dessen scliule." Aus den algemeinen berührungen schliesst er auf
einwirkung der schwäbischen poeten auf den osten und nimt seit 1276 eine rück-
strömung aus dem osten nach dem westen an: ,, und zwar ergibt sich als das
wahrscheinliche vehikel der durch die Habsburger begründete verkehr zwischen den
beiden äussersten grenzen:- diese, als angesessen im äussersten westen und als neue
landesherren im osten, führten und zogen bei ihren widerholten zügen die beider-
seitige ritterschaft mit sich.
Der lezte abschnitt ist der „Überlieferung" gewidmet. Kummer weist „grup-
pen von sängern, die nach einem systera geordnet sind, wol kleine liederbücher,
als bestandteile der quelle BC so gut wie der handschrift C nach" und nimt an,
dass Wildonie, Suneck, Scharphenberc schon in einem liederbuch gestanden haben,
als die samlung C angelegt wurde.
Hoffentlich ist es mir gelungen, ein bild von der sorgfältigen und instruc-
tiven arbeit Kummers zu geben, der sich schon dadurch ein verdienst erworben,
dass er uns die schlecht erreichbaren werke des Herrand und einiger Zeitgenossen
so bequem zugänglich gemacht hat. Auch Alwin Schultz in seinem „höfischen
leben" hat, soviel ich sehe, den von Wildonie nicht benuzt, ihm würden sonst
einige interessante stellen über das baden nicht entgangen sein. Ich komme gele-
gentlich darauf zurück.
BERLIN, JUNI 1880. KARL KINZEL.
(f. Michaelis, Beiträge zur Geschichte der deutschen Eechtschrei-
buug. Ergänzungen zu der Schrift: die Ergebnisse der zu Berlin
vom 4. bis 15. Januar 1876 abgehaltenen orthographischen Kon-
ferenz. Berlin, Barthol 1880. 140 s. 8. M. 1,50.
In dieser ztschr. XI, 495 wurde schon auf einige interessante mitteilungen
über die geschichte der Schreibung aus der feder desselben Verfassers hingewiesen.
In der neuen schritt, welche diesem thema ausschliesslich gewidmet ist, sind zwei
kleine hefte zu einem ganzen vereinigt. Das erste erschien schon 1877 als ergän-
zung zu den ,, Ergebnissen" und enthielt auf 56 selten zwei abhandlungen über
,, beseitiger der dehnungszeichen in der zweiten hälfte des 18. Jahrhunderts" und
„die grammatiker der fruchtbringenden geselschaft und die Zesianer." Auch das neu
erschienene zweite heft gibt wertvolle beitrage zur geschichte der deutschen Schrei-
bung, wenn mau auch eine gewisse einheitliche durcharbeitung des gesammelten
Stoffes vermisst. Es wäre wünschenswert, dass Michaelis, den man eine autorität
auf diesem gebiete nennen kann, mit seinem unermüdlichen eifer zu einer umfas-
senden geschichtlichen darstellung gelangte.
Die erste der neuen abhandlungen (III) beschäftigt sicli mit den ,, fraktur-
drucken von Guttenberg bis zu Luther." Ins äuge gefasst wird zunächst die dar-
254 KINZEL
Stellung der S- laute und die ansieht des Verfassers über die physiologische bildung
derselben verteidigt, die schon mannigfache angriffe erfahren niuste. Michaelis
zeigt uns, wie diese laute in den ältesten drucken Verwendung fanden. Er teilt
u. a. zu diesem zwecke proben aus sieben drucken (1466^1518) der vorlutherischen
deutschen bibelübersetzung mit, weil wir ,,an ihnen ein gutes stück der entwicke-
lung der hochdeutschen spräche und Schreibung bis zu Luthers Übersetzung hin
verfolgen können," und zeigt wie almälilich der positions-kanon wosser, hießen
eindringt. Die frage s. 64: „wie soll man nun lesen flöß oder schon floss?" ist
unberechtigt. Das gefühl für den unterschied langer und kurzer vocale geht eben
seit dem 13. jahi'huudert almählich verloren; es wurde also wol ein zwischenlaut
gesprochen. — Daneben führt uns Mich, die eigentünilichkeiten des Niklas von
Wyle und des Parzival-druckes von Mentelin, Strassburg 1477 vor, um zu zeigen,
,,dass manches, was man in Luthers schritten als eigentümlich anzusehen und aus
dem gebrauche der kanzleien abzuleiten pflegt, in der ihm vorangehenden littera-
tur bereits volständig vorbereitet war."
Nach einem kurzen abschnitt über die bezoichnung der umlaute von u und o
wendet sich der Verfasser dem Mitteldeutschen im algemeinen zu. Er hält es für
wahrscheinlich , dass im md. des 14. Jahrhunderts ie z. b. im worte siech (Beheim
Evang.) noch lautlich durchgeklungen habe. Dagegen spricht einmal, dass wir in
vielen md. denkmälern i für ie und ie für i geschrieben finden , dann aber vor
allem, dass die dichter diese wilkürlich auf einander reimen. Interessant ist die
s. 79 abgedruckte Urkunde aus Korbach (Waldeck) vom jähre 1374: t verschoben,
auch daz, aber zweimal dit; brib, bribe: luden, gndir, gebeden, aber vatir ; hei',
kene usw. Solte wirklich uo in tzuo stehen? Korbach ist ndd. , die spräche der
Urkunde mfränkisch. Damit kehrt Michaelis zu den umlauten von o und u zurück
und hat sein augenmerk auch im lezten abschnitt ,,die niederdeutschen drucke"
darauf gerichtet. Er zeigt wie das eintreten der umlautbezeichnung im mnd. ganz
parallel geht mit dem in md. an den Lübecker drucken des Dodesdanz 1489 usw.
und des Reinke 1498, an den Rostocker drucken und in den ndd. bibelübersetzun-
gen von Lübeck 1494, Halberstadt 1520, Wittenberg 1523. Aus diesen lezten
dreien gibt er eine reihe von parallel -stellen.
IV. Luther. Nach einigen einleitenden orientierenden bemerkungen wendet
sich Verfasser zu Luthers Schreibung und zu seinen druckern: Job. Grunenberg,
Melchior Lotther (proben aus ,,An den christlichen Adel," „Das Newe Testament"
sept. 1522). Es wird nachgewiesen, dass in der 2. aufläge des neuen testaments,
welche im dec. 1522 bei demselben drucker erschien, das fj getilgt ist, während es
die 1. aufl. reichlich anwante. Ein neuer kanon ist eingetreten: ,,im inlaut ff, im
auslaut § (nur ausnahmsweise fg." (S. 101), also gvoffe , grog; voffc, ro8; l^affe,
l^aS. Michaelis hat sich bemüht, in der annähme, dass weder autor noch drucker
ihre ansieht so schnell geändert haben können , anderswo einen urheber dieser
grundlegenden änderung zu finden und hat scharfsinnig auf Justus Jonas oder Hans
Luff't vermutet.
Im folgenden weist nun der Verfasser weitere änderungen, wie bezeichnung
des Umlauts usw. in der Orthographie Lutherischer schriften nach und wendet sich
dann zu seinem gebrauche von i und ie, dem „ intervocalen " /*, th, consonant-
verdopplung und dehnungszeichen. In bezug auf ie nimt Michaelis einen vermit-
telnden Standpunkt ein zwischen Hupfeld (Neue Jen. allg. Litt. Zt.) , welcher Luther
den gebrauch etymologisch - richtiger ie zuschrieb und Rückert (nhd. Schriftsprache),
ÜBEU MICHAELIS, Z. RKCHTSCHRKIBUNfi 255
welcher bei ihm überall deliiiungszeichen erblickte. Seiner ansieht nach sei das e
als dehnnngszeichen nach / erst alniählieh eing'edrimgen. ,,In der sehrift an den
christliehen adel beispielsweise sind abgesehen von einigen wenigen sich eindrän-
genden abweiehungen die oberdeutschen ie noch sprachrichtig bewahrt und ebenso
widerum die reinen i" (s. IIG). Um zu zeigen, wie Luther sich zu dem ,,inter-
vocalen" h verhielt, das teils aus altem h. teils aus ^v oder j entstanden oder nur
silbentrennend ist, wird eine reihe von über 100 solcher Wörter s. 119 — 134 in
alphabetischer folge mit belegen aus Luther, aus md. und ndd. denkmälern auf-
geführt.
Über einzelne Sonderbarkeiten wollen wir mit dem Verfasser liii'r niclit rech-
ten. Nur das eine sei uns zu bemerken erlaubt. Weshalb derselbe seine Unter-
suchungen ergänzungen zu der auf dem titel angeführten schritt nent, wissen wir
nicht. Aber dass er auch innerhalb dieser wissenschaftlichen arbeit bisweilen noch
auf die beschlüsse der orthographischen konfercnz rücksicht nirat, wie s. 119,
welche doch ihrem ganzen wesen nach der Vergangenheit angehört und zu diesen
historischen abhandlungen in gar keiner beziehung steht, ist nicht zu billigen.
BERLIN, JUNI 1880. KARL KINZEL.
Herinauii Althof, Grammatik altsächsischer Eigennamen in westfä-
lischen Urkunden des neunten bis elften Jahrhunderts. Paderborn
1879, Schöningh. 92 s. 8.
Nachdem über die heimat der verschiedenen altniederdeutschen deukmäler
mancherlei mehr oder weniger gesicherte Vermutungen geäussert worden , erhalten
wir nun durch Althof wenigstens für einen teil des gebietes das material, das zu
genauerer localer fixierung jeuer denkmäler unbedingt notwendig ist. Voraus
schickt der Verfasser eine recht gelungene erörterung über die sprachliche Verwer-
tung der eigennameu in mittelalterlichen Urkunden (s. 1 — 14). Er betont, dass die
eigennamen genau der gleichen Veränderung unterworfen sind, wie das übrige
sprachgut: ausgenommen sind Ortsnamen, die durch officielle Schreibung auf einer
gewissen stufe fixiert sind, sowie — zur zeit der abschwächung der endsilben —
die taufnamen, die aus psychologischen gründen, in folge einer etymologisierenden
riehtung, vollere endvocale behielten. Mit grosser besonneuheit wählt Althof die
Urkunden aus, die allen für grammatische zwecke zu stellenden bedingungen genü-
gen, und gibt s. 15 — 30 regesten des benuzten materials. Es folgt dann, auf etwa
2400 namensformen sowie eine auswahl von appellativen gründend, die lautlehre
(s. 33 77), die declination (s. 76 — 85) und lexicalisches (s. 86). Den schluss
bildet ein ausführliches Inhaltsverzeichnis. Althof beschränkt sich darauf, die tat-
sachen zusammenzustellen und zu ordnen ; auf eigentliche sprachliche Untersuchun-
gen, erörterungen über den lautwert der verschiedenen Schreibungen lässt er sich
nicht ein. Aber schon diese nackten Zusammenstellungen sind höchst dankenswert
und bieten genug des interessanten und zur nähern Untersuchung reizenden.
Ich führe an die Schreibung ch für ry im anlaut und inlaut (§29, 32 und 36):
g erscheint auslautend als r/, als h, als ch, als c (§37 fgg.); neben überwiegendem
c oder k tritt in allen Stellungen ch ein (§ 43 fgg.)» wozu die Schreibung et
für ht zu vergleichen (§ 66) ist: h steht ,, unorganisch " vor vocalen (§ 60); t für th
(§76) usw.
256 BEHAGHEL, ÜBER ALTHOP, .VliTS. EIGENNAMEN
Die arbeit Altliofs ist im ganzen sorgfältig und correct. Jedoch ist das
material nicht überall volständig verwertet. Gleich zu anfang vermisst man einen
Paragraphen über b im anlaut, das ja zahlreich genug vertreten ist. So gewint es
den anscheiu , als ob anlautend nur p stünde. Das ist aber keineswegs der fall ;
die Sache liegt vielmehr so. Anlautendes 2> bat doppelte geltung : einmal ist es =
ahd. pf, zweitens = ahd. b, und in der leztereii geltung wechselt es mit der
Schreibung b und hatte, wie ich glaube, auch gleichen lautwert mit diesem. Dass
mau zur Schreibung p gritf, kam wol daher, dass h im inlaut, ehe die Schreibung
V aufkam , die geltung dieses lautes besass , und dass das anlautende b von dem
laute V weiter abstand als von dem laute ^x Ähnlich ist radtsch kegen (contra) zu
erklären. — Wie Althof §84 behaupten kann, in Herifordensis , Mimigerneforäen-
sis, SticJcfiirion stehe d für th, weiss ich nicht. Sagt er auch, fadar stehe für
faihar? — Seltsam klingt die Überschrift zu §125: „Auslautend vereinfachtes n
verdoppelt, wo es im inlaut erscheint.''
HEIDELBERG, DEN 1. AUGUST 1879. OTTO BEHAGHEL.
ZU KLOPSTOCKS MESSIAS.
In band XI s. 371 fg. dieser Zeitschrift ist ein von dr. Richard Hamel
veröffentlichtes erstes heft ,,Zur textgeschichte des Klopstockschen Messias" (Rostock,
W. Werther 1879, 62 s.) besprochen und dessen beträchtlicher wert für die text-
kritik des Messias und überhaupt für die richtige Würdigung Klopstocks nach gebühr
hervorgehoben worden. Der Verfasser , welcher auf grund langer und sorgsamer
vorarbeiten eine kritische und mit volständigem kritischem apparate ausgestattete
ausgäbe des Messias beabsichtigt, gedenkt demnächst in demselben verlage eine
zweite und eine dritte abhandlung erscheinen zu lassen, in welchen dargeboten
werden soll: Sprachliche Varianten, geschichte der entstehung des textes und der
ausgaben des Messias, mit eingehenden kritischen beobachtuugen und mit aus-
blicken auf Klopstocks wesen und seine zeit. Der gegenständ an sich und die im
ersten hefte dargetane befähigung des Verfassers verdienen wol, dass die kenner
und freunde unserer klassischen litteratur dem unternehmen ihre aufmerksamkeit
und ihre förderliche teilnähme zuwenden. J. Z.
Halle, Buchdruckerei des Waisenhauses.
DIE ERD- UND VÖLKERKUNDE IN DER WELTCHRONIK
DES RUDOLF VON HOHEN -EMS.
EINLEITUNG.
Zur würdigringf Ton Rudolfs IVeltchronik im algomeinen, des
goograpliischen abr'sses im besondereu.
Wiewol über die abfassuugszdt und die reihenfolge der verscliie-
denen dichtungswerke Rudolfs von Hoheii-Ems, jenes dienstman-
nes der angesehenen grafen von Montfort,^ im einzelnen noch keine
völlige Sicherheit herscht, so viel steht doch als unzweifelhaft fest,
dass die Welt- Chronik als das lezte werk dieses fruchtbaren dich-
ters betrachtet werden muss, deren abfassungszeit nach 1250^ und
vor 1254 zu setzen ist, weil der dichter, wie wir aus seinen eigenen
Worten im eingange zu den Büchern der köuige ersehen , auf den
wünsch des Staufers Konrads IV. ihre bearbeituug unternahm,^ aber,
lauge bevor er seinen plan der Vollendung zureifen sah , in „ welschen
reichen " hinstarb : die arbeit Rudolfs bricht ab , als er eben erst bis
zur erzählung von Salomons tode gekommen war *
Dieses werk, welches nicht bloss durch den erwarteten könio-lichen
lohn den dichter künftighin aller leiblichen sorgen überheben solte,
sondern das auch für könig Konrad eine würdige lectüre, für die mit-
und nachweit aber ein „ewiclich memoria!'' an diesen hohen gönner
darzubieten bestimt war, — ist es nun diesen hohen absiebten gemäss
angelegt? Ist es, soweit es durch Rudolfs band gediehen ist, dem
entsprechend würdig ausgeführt worden ?
Die beurteilung, welche es in neuerer zeit erfahr, ist eine sehr
auseinandergehende. Denn während Gervinus,^ in erster linie durch
den gesichtspunkt des ästhetischen bestimt, sich höchst abfällig äusserte
und sogar so weit gieng, dass er „die Weltchronik in ihrer echten
1) wie er sich in seinem Wilhelm (v. d. Hagen Ms. IV, 548) nent, nach
Franz Pfeiffer (Barlaam s. XI) „zum ersten und einzigen male."
2) Vergleiche die anmerkung 3 auf s. 258.
3) Vergl. in dieser zeitschr. IX, s. 467.
4) Vergl. ebenda IX, 471.
5) in seiner Geschichte der deutschen dichtung^ 11. bd. s. 77.
ZEITSCHR. F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. BD. XII. 17
258 DOBERENTZ
und einfachsten gestalt, in der sie aus Rudolfs bänden kam/' für „das
langweilige werk eines langweiligen dichters " erklärte , — machte
Vilmar in seiner ebenso eingehenden wie feinsinnigen Marburger pro-
gram mabb an dlung (aus dem jähre 1839),^ indem er die geschichte der
litteratur angemessener nicht sowol als geschichte der kunst, sondern
vielmehr als geschichte der kultur und der geistesentfaltung behandelt
wissen wolte , auf die bedeutsame Stellung der Rudolfschen Weltchronik
in dem entwickelungsgange unserer litteratur wie in der geschichte
des deutschen geisteslebens aufmerksam.
Hatte Vilmar ^ doch in ihr „ das erste und weitbinaus einzige
werk" erkant, „welches dem stände der ungelehrten die geschichte des
alten testamentes im volständigen zusammenhange mitteilte." Und
hierin muste es offenbar dem bedürfnisse der Zeitgenossen und der fol-
genden geschlechter entgegengekommen sein , da die Weltchronik erstens
nicht allein in ihrer echten gestalt, wie die noch vorhandenen zahl-
reichen handschrifteu beweisen , eine sehr weite Verbreitung fand , son-
dern auch zweitens, und sogar schon frühzeitig, eine nachahmung her-
vorrief, die dem landgrafen Heinrich von Thüringen ^ gewidmete,^ und
nicht viel weniger beliebt gewordene „Christ-herre- Chronik" — wie
man sie gewöhnlich nach ihren anfangsworten nent. Nicht viel später
1) „Die zwei recensionen und die handschriftenfamilien der Weltchronik Rudolfs
V. Ems, mit auszügen aus den noch ungedruckten teilen beider bearbeitungen."
2) A. a. 0. s. 8.
3) Unter diesem hat man mit Massmann (Kaiserchronik bd. III, s. 91) Hein-
rich III. den Erlauchten zu verstehen, welcher seit Heinrich Easpes tode (1247)
erbe des grösten und reichsten teiles der landgrafschaft Thüringen geworden war
und 1288 gestorben ist. Vilmar zwar (a. a. o. s. 28) war geneigt, dabei an Hein-
rich Easpe zu denken; was gäbe aber das recht, den beginn der abfassung von
Eudolfs Weltchronik — wie man es doch bei Vilmars behauptung müste — vor
das jähr 1250 zu setzen, da ja der dichter selbst sagt:
Daf ift der Tivnig Chvnrat
des Tceißrs kint. der mir hat
geboten, vn des bete mich
gervhte biten des. daf ich
dvrh in dv mere tihte.
(Vgl. Massmann, in seiner ausg. der Kaiserchronik III, 186 und diese ztschr. IX, 468).
Dem strengen Wortlaute dieser stelle zufolge war also Konrad, als er den auftrag
an Eudolf erteilte, bereits könig. Und für so strenge auffassung des Wortlautes
spricht überdies die erwägung, dass Eudolf, seiner anderwjirts zu beobachtenden
gewohnheit gemäss, wenn er bereits vor 1247 an der Weltchronik gearbeitet hätte,
diesen umstand schwerlich verschwiegen , vielmehr mit naivem stolze erwähnt haben
würde, wie lange er schon mit diesem werke für seineu „lieben herren" beschäftigt
gewesen sei.
4) Siehe die drei bezüglichen stellen in dieser ztschr. IX, s. 444 — 446.
DIE GEOGRAPHIE RUDOLFS VON EMS 259
sodann Avard drittens die echte lludolfsche Weltchronik mit dieser
Christ -herre- Chronik — die wegen des prunkes ihrer grösseren zur
schau getragenen theologisclien gelehrsamkeit besonders gefiel — ver-
sezt und vermengt , und auch sonst noch durch fortsetzungen und
Zusätze mannichfacher art verlängert, und wuchs damit — nach Mass-
manns ausdrucke — zu den umfänglichen „Schwellhandschriften" heran,
fand aber auch in dieser erweiterten gestalt einen nicht minder beträcht-
lichen leserkreis, aus dem allerdings wol mancher, wie man Gervinus
wird zugeben können , seine gröste freude eben an den unechten neben-
schösslingen und den weniger edlen auswüchsen aus dem Rudolfschen
stamme haben mochte. Aber selbst nach alledem zeigte sich das
Interesse für Rudolfs werk noch keineswegs erloschen: schliesslich in
prosa aufgelöst lebte es viertens als sogenaute „Historienbibel" noch
lange zeit fort.^
Hiess Vilmar sonach mit recht in dem entwickelungsverlaufe
unserer litteratur den Wertmesser für Rudolfs leztes werk suchen,^ so
gelangte er dadurch, dass er sich besser als Gervinus in die empfin-
dungsweit des christlichen mittelalters zu versetzen wüste, weiterhin
auch zu einer gerechteren beurteilung der ästhetischen seite.
Denn er hob hervor, dass Rudolf, nicht erdrückt durch die reiche
fülle des stoffes, seine darstellung nach einem festen plane in leichtem
flusse der rede darbiete.^ Rudolf betrachtete nämlich, wie Vilmar
richtig erkant hat, die geschichte der Offenbarung als die einzig wahr-
hafte geschichte, die in des erlösers gott- menschlicher gestalt ihre
erfüllung fand, oder — um Rudolfs eigene worte anzuwenden — als
der mcere rehtiu han; die geschichte der beiden hingegen streut er
nicht, wie sein Vorbild, die Historia scholastica des Petrus Comestor,
und wie sein nachahmer, der unbekante Verfasser der Christ -herre -Chro-
nik,* ohne innigeren Zusammenhang ein als blosse incidentia, sondern
1) Siehe Theod. Merzdorff, Die deutschen Historienbibeln des Mittelalters.
Stuttgart (Literar. verein) 1870, s. 13, wo die aus Kudolfs Weltchronik hervor-
gegangenen Historienbibeln, als grupj^e 11" bezeichnet, zu finden sind.
2) Als unzutreffend ist es jezt freilich hinzustellen, wenn Vilmar in seiner
Geschichte der Nationalliteratur (17. aufl. Marburg u. Leipzig 1875) s. 183 behaup-
tet: „Rudolfs Weltchronik ist dadurch noch besonders bemerkenswert, dass sie bis
auf Luther das einzige werk war, aus welchem der laienstand keutnis des alten
testamentes schöpfen konte und geschöpft hat": denn Th. Merzdorff (a. a. o.
s. 9 — 13) hat in seinen Untersuchungen über die Historienbibeln eine durch
21 handschriften vertretene handschriftenfaniilie nachgewiesen [gruppe I] , welche
durchaus unabhängig von Eudolfs erzählung genant werden muss.
3) Vgl. Vilmar, Die zwei recensionen usw. s. 7 und 13.
4) Siehe Vilmar a. a. o. s. 20.
17*
260 DOBERENTZ
er will sie vielmehr als „Mwege" die nur den „nebenganc" haben,
angesehen wissen.^ Aus diesem gründe stelt es sich als unstatthaft
heraus, Rudolfs leztes werk mit der bezeichnung „Reimbibel" zu
belegen: es ist im gegenteil des dichters absieht, eine „Weltchronik"
zu liefern, die es aber mit dem künne, in dem got ßt an ßch nam
durch uns die hranJcen menscheit, hauptsächlich zu tun hat. Diese
christologische auffassung der ganzen Weltgeschichte nun wird dem
kenner mittelalterlichen lebeus und webens leicht begreiflich erschei-
nen: auch Rudolf sucht den angelpunkt der gesamten geschichtlichen
entwickelung in der bezeugung uud erscheinung des erlösers , und seine
ganze geschichtsauffassung gipfelt ihm in erwägung der frage, welche
der seit der ersten hälfte des 12. Jahrhunderts höchst einflussreiche
Honorius Augustodunensis in seinem dogmatischen handbuche „Eluci-
darium"^ in die worte fasste: Quomodo potuit nasci (Christus) sine
peccato de massa peccatrice? Beide stimmen darin überein, dass sie
hierauf dieselbe antwort haben: Ab initio Deus quosdam qui se fami-
liarius colerent ab aliis segregnvit, | de quihus Virgo quasi de linea
producta pullulavit ; \ quae velut olim virga arida sine humore protu-
lit florem, \ ita sine concupiscentia mundo edidit Salvatorem. Und
allein diese von gott begnadeten geschlechter verdienen nach Rudolfs
mittelalterlicher meinung genauere beachtung in einer chronik der
gesamten geschichte.
Nach alledem wird es dem forscher auf dem gebiete deutscher
litteraturgeschichte nicht möglich sein, die geringschätzung, welche
Gervinus so unumwunden über die Weltchronik aussprach, fernerhin
als berechtigt anzuerkennen und an Rudolfs leztem werke interesselos
vorüberzugehen, zumal dieses denkmal auch für den Sprachforscher in
noch grösserem umfange, als dieses bisher der fall war, beachtung
verdient, da es für den Sprachgebrauch vor allem während der nach-
blute der mittelhochdeutschen glänz- und blütezeit noch manche aus-
beute zu bieten vermag.
Da nun aber eine ausgäbe der gesamten Weltchronik, die in der
Wernigeroder handschrift ungefähr 36500 verse enthält,-'^ bei der gros-
sen anzahl von handschriften in der nächsten zeit schwerlich zu erhof-
fen sein wird , so bedarf es wol keiner weiteren rechtfertigung , wenn
ich im folgenden ein stück, welches sich bequem aus dem ganzen
herausheben lässt, in kritischer behandlung vorzulegen versucht habe,
und für das ich daher, selbst wenn die zahl der benuzten handschrif-
1) Siehe Vilraar, a. a. o. im ,, anhange" s. 67, spalte a.
2) Lib. I, cap. 19. (Migne, Patrolog. band 172, spalte 1123.)
3) Vgl. diese ztschr. IX, 461.
DIE GEOGRAPHIE KUDOLFS VON EMi5 261
teu, die mir für jezt erreichbar waren, als noch nicht völlig genügend
befunden werden solte, um geneigte aufnähme bitte. Wenigstens hoffe
ich durch die vergleichung der unten aufgeführten und besprochenen
handschriften für die Untersuchung über quellen , Verbreitung und bedeu-
tuug des geographischen abschnittes, welche uns zunächst besonders
beschäftigen soll, einen hinlänglich sicheren grund gelegt zu haben.
Zudem bietet aber der abschnitt, den ich hiermit vorlege, der
geographische abriss, schon an sich als eine länder- und Völ-
kerkunde des mittelalters genügendes Interesse dar; zumal eine
genauere prüfung dieses gelehrt zusammengewobenen geographischen
Stückes nicht nur ein hohes alter der einzelnen fäden — sowol des
aufzuges wie des einschlages — , welche dieses gewebe bilden, erwei-
sen wird, sondern auch die überaus grosse beliebtheit gerade dieses
gewebemusters während mehrerer Jahrhunderte des mittelalters erken-
nen lässt. Zeigte sich mir nun einerseits eine sorgsamere und liebe-
volle beschäftigung mit dieser mittelalterlichen geographie ebenso loh-
nend wie reizvoll , so hielt ich andererseits , durch meine forschungen
über ihren nicht unerheblichen wert belehrt, eine kritische ausgäbe
geradezu für ein notwendiges erfordernis.
DER GEOGRAPHISCHE ABRISS NACH SEINER ECHTHEIT UND VERBREITUNG,
SEINER HERKLTNFT UND VERW ANTSCHAFT , UND NACH SEINER BEDEUTUNG
IN DER GEISTESGESCHICHTE DES MITTELALTERS.
1.
Zugehörigkeit zur Rudolfschen Weltelironik und Verbreitung
durch diese und deren verwante.
§ 1. "Wichtigkeit für die handsctiriftengruppierung der
verschiedeneii gereimten Weltchroniken.
Wenngleich der eigentümliche reiz und die nicht geringe bedeut-
samkeit dieses abschnittes für die geistesgeschichte des mittelalters
dem forscherblicke Vilmars, welcher das verdienst hat, sich zum ersten
male eingehender mit unserer geographie befasst zu haben, völlig ent-
gieng, und wenn von ihm gerade dieser geographische abriss mehrmals
sogar für die „durchaus schwächste partie,"^ ja für das „unbedeu-
tendste " stück in der ganzen Weltchronik ^ erklärt wurde , so war ihm
1) Vilmar, Die zwei recensionen s. 17.
2) Vilmar , a. a. o. s. 30.
2G2 DOBEKENTZ
dennoch die Wichtigkeit desselben für die Charakterisierung und grup-
pierung der verschiedenen handschriftenfamilien bereits zum bewustsein
gekommen.
1. Denn während der geographische abschnitt einerseits in allen
bisher bekant gewordenen handschriften der echten Eudolfschen Welt-
chronik — die nach ihren anfangsworten „Eihter-got-recension"
benant zu werden pflegt — angetroffen wird, ist er andererseits dem
schon oben erwähnten doppelgänger derselben, — jener anderen, ähn-
lichen, wenig jüngeren chronik, die nach ihren anfangsworten als
Christ-herre- Chronik,^ oder auch nach der gegend ihres Ursprungs
als Thüringer Reimbibel bezeichnet zu werden pflegt — in ihrer
ursprünglichen gestalt durchaus fremd. Es bietet nämlich die jüngere,
die Christ -herre-recension, in der geschichte der zweiten „Welt,"
nach der Schilderung von Noahs tode, zwar wie es auch in der echten
Eudolfschen Chronik geschieht , eine aufzählung der söhne Noahs,
welche der erwähnung des turmbaues zu Babel voraufgeht; nach
derselben aber fügt sie nur einige verse hinzu, die sich auf die
geographische ausbreitung der nachkommen lediglich des einen sohnes
beziehen , aus dessen stamme nachher der gottessohn entspriessen solte,
also des Sem. — Die Eihter-got-recension dagegen bringt an der
entsprechenden stelle, nach der erzählung vom turmbau, eben unsern
geographischen abriss, und nimt dort für diesen einen räum von 1600
Versen in anspruch. — Dass aber jene beschränkung in der Christ -
herre-recension eine beabsichtigte gewesen ist, folgt unzweifelhaft aus
der zugefügten benierkung: die aufzählung der anderen (völker und
sprachen) solle „gespart" werden. Diese entscheidende stelle der
Christ -herre- Chronik, welche nach der erzählung vom turmbau
folgt, gebe ich hier nach dem texte der Gothaer pergamenthandschrift
Mbr. I. nr. 88. ^
1) Diese muss mit Vilmar (a.a.O. s. 28) , trotz Massmanns einwendungen
(Kaiserchronik bd. III, s. 88), entschieden als ein selbstständiges, von der Eudolf-
schen Weltchronik verschiedenes werk und nur als eine -weniger geschickte nach-
ahmung derselben betrachtet werden. Denn die beweise, welche Ferd. Massmann
gegen Vilmars darlegungen vorbringt , stehen auf sehr schwachen füssen. Die
inhaltliche Übereinstimmung mehrerer stellen beider Chroniken beruht grossen teiles
auf benutzung einer und d' rseiben vorläge; es ist daher keinesweges abzusehen,
inwiefern der abschnitt von der trunkenheit. Noahs in der Christ -herre -Chronik
für einen engeren Zusammenhang mit dem entsprechenden teile in der Eudolfschen
bearbeitung beweisend sein müste: im gegenteil ist hierbei nicht mehr zuzugeben,
als von Vilmar (s. 28 fg.) zugestanden ist.
2) Über diese von Wilh. Grimm, Vilmar, Massmann und Regel übereinstim-
mend ins 14. jh. gesezte hs. vgl. Vilmar a. a. o. s. 42 nr. 11; Massmann, Kaiser-
DIE GEOGRAPHIE RUDOLFS VON EMS 263
bl. 34^ Das lernt man dar nach nande
Alz iz noch genennit iß
JBabilonie. bis an dife vriß
Hatte is ouch den namen bracht
Des im 8U namen was gedacht
Do ßch ein einic sunge
Mit gefcheidenir wandelunge
In swo vnd ßbensic sungen brach
Vnd der wandet al da geschach
Si wurden tviden su fant
vf di erde in alle lant
als ich uch da vorne beschit ^
wi di lant do teilten di dit
T/on den andern waren ß gevarn
alhi ivil ichs nu fparn
bl. 35 " wo ß blihen in den tagen
Ich wil uch von dem kunne fagen
Das von feme was geborn
Di urucht hat im got irhorn ....
2. Nim umss aber der geographische abriss, welcher mitlerweile
durch die handschriften der echten Weltchronik vielfältige Verbreitung
gefunden hatte, so fesselnd und so wichtig erschienen sein, dass man
ihn in die Christ -herre- Chronik hinübernahm ; ^ wie sich auch in fünf
Chronik in, 175 nr. 23 und Kegel, in dieser ztschr. IX, 444. — Für die benutzung
dieser hs. wie auch der anderen Gothaer papierhs. (Vilmar s. 57 nr. 36) , die mir
an ort und stelle mit gröster liberalität verstattet wurde, bin ich der herzoglichen
bibliotheksverwaltung , namentlich aber der freundlichkeit des herrn oberbibliothe-
kares hofrat Pertsch zu grossem danke verbunden. — Dass der text der Heidel-
berger papierhs. des 15. jh., Cod. Pal. 321, (Vilmar s. 51 nr. 26) sich an der ent-
sprechenden stelle (fol. 34*^) ebenso verhalte, geht hervor aus Vilmars angäbe in
der anmerkung auf s. 18.
1) d. i. auf bl. 32-= — 34^
2) Dies ist namentlich geschehen in folgenden 5 handschriften der Christ -
herre - Chronik , welche Massmann (Kaiserchronik III, 176 fgg.) seiner gruppe Bc
eingeordnet hat:
1. Wien, papier, vom j. 1426, (nr. 30G0, früher Theol. CCXXII. ol. 717. fol.)
S. Massmann s. 176 nr. 27; Vilmar s.-59, nr. 41.
2. Wien, perg., vom j. 1439 (nr. 2782, früher Hist. prof. 71; ol. Ambr. 320.
gr. fol.) S. Massmann s. 177 nr. 29; Vilmar s. 58, nr. 39.
3. Gotha, papier, vom j. 1398 (A. 3. gr. fol.). S. Massmann s. 180 nr. 36;
Vilmar s. 57, nr. 36, und vor allem Jakobs und Ukert, Beiträge z. älteren Lit. II,
243 — 258. Es ist dieselbe hs, , die mir gütigst zur benutzung überlassen war.
264 LOBEKENTZ
handschriften der gruppe I der prosaischen „ Historienbibeln ," welche
mit Rudolfs Weltchronik sonst gar nichts zu tun hat, der geographische
abriss eingefügt findet.^ — Aus diesem gründe ist es daher eine unrich-
tige und irre leitende angäbe, wenn Vilmar (s. 18 anm.) behauptet:
„An dem Vorhandensein oder mangel dieses geographischen, etwa
2300 verse enthaltenden abschnittes ^ ist auch in defecten handschriften
und von dem flüchtigsten und unkundigsten beschauer sofort die ältere
und die jüngere recension zu erkennen." Vielmehr ist gerade im gegen-
teil mit bestimtheit zu sagen: nur aus dem fehlen des geographi-
schen Stückes in sonst volständigen handschriften ist sogleich die
unbedingte Zugehörigkeit dieser hs. zu der rein gehaltenen gruppe
der Christ-herre-Chronik zu bestimmen. Das Vorhandensein
unseres abschnittes dagegen lässt die einreihung der betreffenden hs.
4. Wien, perg., XIV. jahrh. , (nr. 2768, früher Theol. XXV; ol. 708. fol.)
S. Massinann, s. 180, nr. 38; Vilmar s. 57, nr. 34.
5. Bruneken in Tyrol, perg. , aus dem j. 1394 (3. juni). Geschrieben durch
Heinz Seutlinger. S. Massmann s. 178, nr. 35; fehlt bei Vilmar. — Nach dieser
incorrecten und keinesweges volständigen hs. veranstaltete Ignaz V. Ziiigerle 1865
in den Wiener Sitzungsberichten d. kaiserl. Akad. d. Wissensch. phil.-hist. Kl. bd. L,
s. 371fgg. einen abdruck unter dem titel: „Eine Geographie aus dem 13. Jahr-
hnndert," der auch als Sonderausgabe erschienen ist, Wien 1865 bei Karl Gerold
Sohn, 80 s. 8.
Wenn Gervinus (Gesch. d. deutsch. Dichtung 5. a., II, 76), nachdem er oben
im texte von der in die Eudolfsche Weltchronik „eingefloehtenen erdkunde"
gesprochen hat, unten, in der amnerkung 84, hinzufügt: ,,In einer bearbeitung
der Rudolfschen Chronik des I.S.Jahrhunderts, der Christ-herre^Chronik, fin-
det sich ein volständiges, von Zingerle herausgegebenes Kompendium der
Geographie" usw., so muss diese bemerkung bei einem jeden leser die irrige
Vorstellung erwecken, als seien die beiden hier erwähnten geographi-
schen stücke auch zwei besondere und von einander verschiedene
abschnitte. Vor diesem luisverständnisse aber, welches wahrscheinlich dadurch
veranlasst worden ist, dass Zingerle in seiner ausgäbe der Verfasserschaft Rudolfs,
die wir im folgenden als unantastbar erweisen werden, dabei mit keiner silbe
erwähnung getan hat, muss um so ausdrücklicher gewarnt werden, als auch der
lezte herausgeber eines bruchstückes aus diesem geogr. abschnitte, nach einer Ber-
ner papierhs. des XIV. jh. , (in der Ztschr. f. deutsch. Alterth. XXII, 142 — 144)
dies bruchstück nach Zingerles vorbilde ohne weiteres der Christ-herre-Chronik
zuweist. Es handelt sich aber hier, wie in Zingerles ausg;ibe, um dasselbe stück,
nur dass der text der Sentlingerschen handschrift, aus welcher allein Zingerle
geschöpft hat, nm vieles schlechter, stellenweise interpolirt, stellenweise gekürzt ist,
wie eine vergleichung des bei Zingerle gedruckten textes mit dem hier weiter unten
folgenden texte zeigen wird.
1) S. Merzdorff, Die deutschen Historienbibeln des Mittelalters I, 132.
anm. 9.
2) Es sind deren indes nur 1650.
DIE GEOGRAPHIE RUDOLFS VON EMS 265
in die gruppe der Kihter-got-recension nur wahrscheinlich finden;
zur gewisheit wird solche Wahrscheinlichkeit aber erst bei genauem
zusauimenstinimen mit dem texte , den Avir unten bieten. Denn die
handschriften der Christ -herre- Chronik, welche die geographie auf-
nahmen, wie z. b. die Sentlingersche zu Bruneken, zeigen den text,
namentlich an den übergangssteilen, verändert und meistens inter-
poliert. ^
So stelt sich die frage nach der ursprünglichkeit und Zugehörig-
keit unseres geographischen abrisses, wenn wir uns nach der hand-
schriftlichen Überlieferung richten, wie sie uns bislang bekant gewor-
den ist.
§ 2. Beweise für Rudolfs autorschaft.
a. Nachweis aus äusseren gründen.
Dass diese geographie aber wirklich von der band Rudolfs von
Hohen -Ems herrührt, findet weitere bestätigung, wenn wir auf einige
eigentümlichkeiten der reime, redewendungen, des stiles und der metrik
wie rhythmik unseres dichters die aufmerksamkeit hinwenden.
«. Sprachliche eigentümlichkeiten.
1. Unser abschnitt ist nichts weniger als abwechslungsreich in
den reimen: es zeigt sich im gegenteil eine auffallende widerkehr
derselben bindungen und Wendungen auf engstem räume ,^ die, soviel
1) Diese Interpolationen fussen allem anscheine nach auf stellen, welche der
Schreiber in der Christ - herre -recension vor sich liegen hatte. Dieses zu unter-
suchen habe ich, als mir handschriften der Christ -herre -Chronik zur band waren,
leider übersehen.
2) Recht lebendig drängt sich dieses gefühl auf, wenn man das genaue und
höchst dankenswerte reimregister zu Wolfram, welches San Marte (A. Schulz) der
germanistischen Wissenschaft dargeboten hat, zur vergleichung mit den reimen in
Rudolfs geographischem abrisse herbeizieht. Schulz selbst charakterisiert den wert
seiner gäbe offenbar riclitig, wenn er behauptet: ,,ein reimregister zu Wolframs
werken, zumal mit rücksicht auf deren grossen umfang, wird als richtscheit
für die reirakunst in der besten zeit der mittelhochdeutschen poesie überhaupt
gelten dürfen, an dem die kunst und spräche anderer dichter gemessen und damit
ohne mühe verglichen werden kann." Besässen wir eine grössere anzahl ähnlicher
reimregister, so Hesse sich durch gegenüberhalten derselben noch mancher interes-
sante schluss auf die kunstfertigkeit und die ideenassociationen der einzelnen dich-
ter ziehen ! — Sehr lehrreich scheint mir die gegeiiüberstellung von bindungen aus
Rudolfs geographischem abschnitte (G). welcher 1654 verse umfasst, und
den entsprechenden aus Wolframs gesamten werken, welche nach Schulzs
berechnung (a. a. o. s. I) zusammen 39758 reime (oder 19879 reirapaare) enthalten
und zwar auf die einzelnen werke verteilt: Parc. 24810, Titurel 680, Wilhelm 13988,
die lieder 280 verse.
266 DOBEEENTZ
ich bis jezt untersuchen konte, in diesem unniasse allerdings in den
anderen Rudolfschen werken nicht hervortritt: und hierin mag wol in
erster linie das zu suchen sein, was dem gefühle Vilmars (s. 33) so
abweichend von dem tone der übrigen teile der Weltchronik vorkam;
doch werden wir die Ursache dieser eigentümlichen erscheinung weiter
unten noch genauer ins äuge fassen und in dem stoife, den er noch
dazu übersezte, begründet finden.
Stets verraten aber die reinen und völlig genauen reime den
wolgeschulten höfischen dichter. Der Vilmarschen bemerkung (s. 14):
dass „rührende reime sowie veraltete, der Volksdichtung angehörige
Es bietet Rudolf unter 827 bindungen in G. an : dan nicht weniger als 5 mal;
im ganzen Wolfram dagegen, also in 198T9 reimpaareu, findet sich dieselbe bin-
dung nur im Parc. 11 mal und im Wilb. 2 mal.
G. kranc : lanc 3 mal; im ganzen Wolfr. nur ein einziges mal (Parc).
„ hin : in 7 mal; Parc. 5 mal, Wilb. Imal.
„ dar : gar 5 mal; Parc. 7 mal, Wilh. 9 mal.
„ ßder : nider 5 mal; Parc. 4 mal, Wilb. 7 mal.
„ wer : mer (nebst komposit. nort- und mittelm.) 9 mal; Parc. 5 mal,
Wilb. 7 mal; dagegen:
„ mer : her 5 mal; Parc. 16 mal, Wilb. 14 mal. Aber
„ nande : lande 3 mal; dazu noch landen : nanden 2 mal; im Wolfr. über-
haupt nicht.
„ wirt : gebirt 5 mal; bei Wolfr. kein einziges mal. Dagegen:
„ wirt : verbirt Imal; bei Wolfr. Parc. 24 mal, Wilh. 9 mal. Aber
„ ist : vrist 10 mal; bei Wolfr. Parc. 2 mal, Wilh. Imal.
„ zil : vil 16 mal; bei Wolfr. Parc. 24mal, Wilh. 11 mal.
„ lit : zit 5 mal; bei Wolfr. nur Imal (Parc); und vollends:
„ lit : git 5 mal; lit : fit 7 mal, Ut : ivit 10 mal; — bei Wolfram aber
gar nicht.
„ wart : uzvart 4 mal; bei Wolfr. überhaupt nicht.
„ gefat : houbetftat 3 mal; „ „ „ „
„ ftrich : ßch 9 mal; „ „ „ „
Hingegen „ ßnt : Mnt 12 mal; Parc. 56 mal, Wilh. 46 mal, Lieder Imal.
Im Parc. und Wilb. reimen eigennamen auf ä teils untereinander, teils
mit da, aldä und andersivd im ganzen 46 mal; bei Rudolf hingegen sind in G.
eigennamen auf ä untereinander nicht weniger als 17, mit da gar 27, mit aldä 4,
mit anderswä 3 mal gebunden, zusammen also 51 mal.
Wie leicht zu begreifen, findet sich in G. lant häufig verwant und oftmals
im reime, so z. b. lant : benant in G. 3 mal (im Parc. dagegen 2 und im Wilh.
2 mal); lant : bekant in G. 2 mal (im Parc. H und im Wilh. 8 mal). Dass aber die
reimbindung lant (nebst komposit.) : erkant nicht weniger denn 27 mal in G. zu
finden ist, gibt für den schönbeitssinn und die gewantheil des dicbters doch nicht
eben günstiges zeugnis; bei Wolfram ist dieselbe bindung im Parc. 13, im Wilh.
7 mal verwendet. Der reim lant : genant ist innerhalb unserer 1650 verse gar
43 mal gebraucht, während er bei Wolfram nur im Parc. 4 und im Wilh, 3 mal
vorkomt.
DIE GEOGRAPHIE RUDOLFS VON EMS 267
reimtöne sich wol in keinem werke Kudolfs finden sollen" kann ich
nur beipflichten.
Denjenigen reimen aber, die sich uns als besondere lieblinge
Kudolfs in diesem abschnitte aufdrängen, kann man auch sonst in sei-
nen übrigen werken, vor allem aber in der Weltchronik des öfteren
begegnen.
Den reim lant : genant finden wir auch an anderen stellen der
Weltchronik verwendet, die hie und da gedruckt vorliegen. So in die-
ser zeitschr. IX, 467 (zweimal); in den Verhandlungen des histor. Ver-
eines für Oberpfalz und Regensburg, 1874. s. 198; bei Vilmar s. 64.
(v. 289. 299). Auch begegnet er in anderen werken Rudolfs; so im
Guten Gerhard v. 603, und im Barlaam (ed. Pfeiffer) 55, 39. — Die
bindung lant : erkant komt nicht selten im Guten Gerhard vor , z. b.
v. 1267. 1309. 1787. 1933. 2033. — Begegnet mau bei Rudolf dem
reimworte vruht, so kann man mit ziemlicher Sicherheit erwarten, dass
es mit genullt gebunden sei. So findet es sich in dem geographischen
abschnitte dreimal, v. 147. 717. 947 (während es bei Wolfram nur ein
einziges mal, Parz. 238, 21 auftritt); desgleichen im Barlaam 10, 7;
41, 21. 39; im Guten Gerhard 4385; und in gedruckten stellen der
Weltchronik, wie in dieser ztschr IX, 467'' und bei Vilmar s. 61 (v. 83),
63 (v. 209 und 237) , 64 (v. 269).
2. Auch redewendungen, welche im geographischen abschnitte
dem leser auffallen, lassen sich gleichfalls an anderen stellen Rudol-
fischer werke nachweisen, wie aus nachstehenden beispielen zur genüge
erhellen wird:
Geogr. V. 19 vnd verßuont des andern niht
an der getäf an der gefcJiiht
Vilmar s. 66^* wan er was ouch fcliuldic niht
an der getät an der gefchiht (vgl. v. 1645.)
Geogr. V. 354 ze fwelher ßtmt in fwelher zU
Vilmar s. 64^" (v. 322) in fwelher ßunt se fwelher zd
Geogr. V. 240 mit üfgender tilgende
Diese ztschr. IX, 468'' in ir üfgender herfchaft
Geogr. V. 59 da ße ßch niderlie^en
wie ße nach in fit hieben
Vilmar s. 62** v. 155 wä ße ßch niderlie^en,
und wie die ßifter hieben
268
DOBERENTZ
Geogr. V. 83 als uns mit reliter wärheit
diu fchrift der wärheit hat gefeit
Vilmar s. 62" v. 18 als uns mit rehter wärheit
diu buoch der wärheit hänt geseit
und Vilmar s. 66*" wan des mit rehter wärheit
diu fchrift der rehticheit feit
mit gewcerem urhünde
Geogr. V. 1035 mit gewalte fchone
vil hünehlicher Jcrone
Alex. V. 12869 (d. ztsclir. X, 100) Trüg mit gewalte fchone
Die romsche kröne
Geogr. V. 243 in wider niuwer Jcraft erhant
Verhandl. f. Kegensb. 1874 s. 198 in wider niuwer vroide er fprach
und ebendas. s. 198 ßnem hersen wart gegeben
widir ain niuwif lehendif leben
3. Diese lezte zur vergleichung herbeigezogene stelle bietet über-
dies ein Wortspiel, an welchem Kudolf ein besonderes wolgefallen
gefunden haben mag, da er es bereits im Guten Gerhard v. 381 fgg.
mit behaglicher breite ausgeführt hatte:
das, iß die diemüefe
des heilegen geißes güete,
mit der daz, lebeliche leben
lebelichem^ iß gegeben;
fwag, lebendes üf der erde lebt^
in lüften oder in waz,z,er fwebti
daz, lebt in ßner blüete
von des heilegen geißes güete.
das, leben iß drivaltic:
des iß din geiß gewaltic.
ein leben lebende^ leben hat
das, ßch doch lebennes niht verftät.
Auch im geographischen abriss v. 310 hat er es widerum angebracht,
ohne dass eine nötigung dazu vorhanden war :
wan im niht fürbaß iß gegeben
alters sit noch lebende^ leben
Diesem Wortspiele ähneln Wendungen wie die folgenden:
Geogr. V. 1445 wol bewart unde behuot
mit kraft an werUcher wer
1) So nach Lachmanns coujectur.
DIE GEOGRAPHIE RUDOLFS VON EMS 269
ebend. v. 1513 alfo kreftecUche Jcraft
Vilmar s. 60'' mit kundUcher künde
G. G. V. 6855 mit ivisUcher ivtsheit
und V. 102 nach der geUrten lere
in dies, ztschr. 9, 469'' der vrien vriheit
Geogr. V. 502 in füe^es fmackes füez,e git
G. G. V. 1040 mit blüendes hluomen hlüete
hluote gotlichiu güete ^
Namentlicli gehört hieiiier auch die sogar dreimal innerhalb des kur-
zen geographischen abschiiittes widerkehrende wortspielende ausdrucks-
weise: V. 1244 ligent gelegenliche
V. 1055 da ligent gelegenUcJie
V. 813 Daran gelegenliche
lit Frigid.
ß. Stilistische eigentümlichkeiten.
1. Auch die breite und für unseren geschmack nicht selten
schwülstig und hohl erscheinende redeweise Kudolfs, die gerade im
geographischen abrisse oftmals lästig hervortritt, eine Übertreibung der
manier Gotfrieds von Strassburg, ist wol durch jenes haschen nach
Wortspielen zu solcher ausartung gefördert worden.
Zur Veranschaulichung mögen hier die beispiele aus unserem
geographischen abschnitte folgen:
V. 477 vor dem kan ßch niht er wem
noch mit deheiner wer genern
V. 435 und nmo^ ouch ßn wilde
und in wildem bilde
V. 138 da^ lant in grüener varwe lit
gruonende alf der grüene kle
V. 1291 und da^ lant iß alfo kalt
von grdz,er kelte manicfalt
V. 1318 da zem mittem tage
der funnen hitze zaller sit
die hei^eßen hitze git
V. 155 ein edel houm des edelkeit
Arömatä die edeln treit
V. 1381 den iß mit fnellekeit bereit
alfo bereitiu fnellekeit
1) So nach Lachiuanns besserung.
270 - DOBERENTZ
V. 1585 wan rihtediche un^ an den grünt
tuot fielt der fclim mit rihte hunt
V. 1497 der hrinnende berc Ethnä
hrinnende in dem lande Ut
den man ßht hrinnen saller zit
V. 1040 sivei laut in landes groe^e wU
V. 715 das, üf der erde im eben rieh
deJiein lant iß noch gelich
an landes güete mit genuht
an genuhticUcher vruht
iß beZjZier lant niht anderfwä
V. 404 tuot ez, werltchen ßrit erhant
und recket in werlicher kür
gein wer das, eine hörn hinfür
V. 101 zwifchen dem paradife Ut
manic lant und tfel wit
unhähaft äne hü erkant
uns, an die hühaften lant
wan in der wüeße und underwegen
iß wüeßer wilde^ vil gelegen
darin fo vil getvürmes Ut
und tiere das, se keiner sU
nieman drinne mac genefen
noch mit deheinem büwe wesen
in den wüeßen landen da
Diese ziüezt ausgehobene stelle werden wir unten kennen lernen als
überaus breite Umschreibung der knappen angäbe der vorläge: Poß
Paradifum funt midta loca deferta et in via, \ ob diver fa ferpentum et
ferarum gener a. Übrigens wird hier auch ein lesefehler untergelaufen
sein; Rudolf scheint nämlich das eine wort invia misverständlich als
zwei Wörter in via gelesen und aufgefasst zu haben.
Beiläufig will ich bemerken, dass die übereinstimmende lesart
der Wernigeroder hs. bl. 59'' und der beiden Heidelberger (Cod. Pal.
membr. nr. 327 und chart. nr. 146)
und daf fruhtigoße lant
daf in Egipte iß lant genant
nicht anzufechten ist , während man in den Verhandlungen des historischen
Vereins für Oberpfalz und Regensburg 1874 s. 193 das zweite lant
1) Hs. ivilder tvüeste
DIE GEOGRAPHIE RUDOLFS VON EMS 271
beanstandet hat und für irtümlich dadurch in den text gekommen
hielt, dass im pergament des Cod. Wernig. dort gerade eine schad-
hafte stelle sei und der Schreiber der deutliclikeit halber jenes wort
noch einmal darunter geschrieben habe. Denn ganz entsprechend lau-
tet es im geogr. abschnitte v. 87
daz, iß das, höJiße lant
das, in dem teil iß lant genant
und ähnlich v. 789:
Da ßos,et an ein michel lant
das, ouch iß houbetlant genant.
Dass diese eben besprochene Vorliebe Kudolfs auch in seinen andern
werken hervortritt, ist leicht darzutun; hinweisen will ich hierbei auf
jene beobachtung, die sich Moritz Haupt beim Guten Gerhard auf-
gedrängt hatte (G.G. einleitung s. XII): „Umständliche ausführlichkeit
hat es mit fast allen mittelhochdeutschen höfischen erzählungen gemein
und bis zur ermüdung ist sie nicht getrieben Nur eine
allzuoft widerkehrende weise des ausdruckes, die Rudolf sei-
nem vorbilde Gotfried von Strassburg nachahmt, den er im Wilhelm
und mehr als alle anderen dichter im Alexander feiert, ermüdet und
verliert die Wirkung: das spiel, das er mit der widerholung
derselben worte treibt."
Als weitere belege mögen folgende stellen genügen :
Gute Gerh. v. 1617 Do ich ir klagende^ ungemach
mit Magelicher fwcere er fach
ez, tet mir von hersen we
V. 68 da^ im der ruom an lohe ein sil
von ßn selbes jjrife gap
[wie ßn prifUcher urhap
fo guot fo lohehcere
mit richem prife wcere
V. 654 .... da^ er Jcomen wolte
niht wan vil heinlichen dar
mit einer heinlichen fchar
V. 679 mich hat ein heimlicher ger
ein heimlich not gejaget her
V. 1001 ßn bete was alfo getan.
er bat den hei f er das, er in
der bete erliefe ouch bat ßn ßn
got
272 DOBERENTZ
Barlaam s. 403, 12 daz, e^ vil lihte maneges muot
ze he^^erunge kerte
und hez,z,erunge lerte
Geogr. V. 441 daz, an dem antlütze ßn
hat menfchen antlütze fchin
Weltchron. bei Massmann Kaiserchr. III, 92
An difen mceren der ich hän
hegonnen unde her getan
rehte in rehter rihte
an umhehreiz, mit flihte
in dieser ztschr. IX, 469*
da^ ß ze hvrzewil ßch wernt
der mere vn hvrzewilent dran
In den Verhandl. f. Eegensb. 1874 s. 194 die Schilderung des erscbreckens
der brüder Josephs in Ägypten :
Nach forhtlicher lere
erfchraken alfo jere
die hruder ßn von vorhten do
daz ßu erfchroken und unfro
vor im geßuuden in not
von vorhten bleich und fchame rot
unz er mit linden warten in
geleite kume ir zwivel hin
daz ß ir vorhte liezen ßn
und ir zwivellichen pin
wan ßu der tugentriche
kuße brüderliche
und leite alle fivere hin
2. Nicht selten trift man bei Rudolf auch eine unerquickliche
breite an, die durch tautologie veranlasst wird, obschon der dich-
ter widerholt ausdrücklich sagt, dass er sich der kürze befleissigen
wolle, worunter er aber freilich kaum etwas anderes als beschräukung
seines Stoffes verstanden zu haben scheint.^ Denn dass er seinen aus-
gesprochenen Vorsatz an umbekreiz, mit flihte zu reden, auch wirklich
immer erreicht und al die umberede vermiten hätte, ist keineswegs der
fall, selbst nicht einmal in der eben beregten stelle, bei Massmann,
Kaiserchr. III, s. 92 , wo er von der beabsichtigten kürze durchaus nicht
1) So möchte ich Vilmars urteil auf s. 14 präcisiren. Vergl. hierzu auch
Massmann, Kaiserchr. III, s. 92 fg.
DIE GEOGRAPHIE RUDOLFS VON EMS 273
kurz spricht. Weuu also dieser zug in dem geographischen abrisse
mehrmals in einer für unsern geschniack misfälligen weise hervortritt, so
steht das mit Kudolfs Schreibart keinesweges im Widerspruche. Zur
veranschaulichung solch tautologisch breiten ausdruckes im geographi-
schen abrisse mögen die folgenden stellen dienen :
V. 1548 da dehein ßange kämet in
der 7iietnan [iht deheinen da
V. 21 G und fribent mit fmr davon
die [langen die man da filit
und länt die da helihen niht
V. 337 die ßnt äne hoiibet
%md hotdietes herouhet
Hierher zu rechnen sind auch Wendungen wie
V. 1344 da diz, lant hat endes drum
was völlig gleichbedeutend ist mit
V. 8 45 Jne ist der lantmarke drum
oder: v. 1385 iiber der marke endes sil
während v. 903 iß oucJi der marke aldä ein sil
ganz dasselbe besagt.
Von derartigen ausdrucksweisen wird unten bei der bedeutun^s-
bestimmung im commentare nochmals genauer zu handeln sein. Mit
Vorliebe braucht Rudolf die folgende tautologische fügung:
Geogr. V. 399 mit wärheit funder wän
V. 312 mit ivärhcit und an allen wän
V. 536 gewcerliche und an allen wän
V. 1127 die Jiänt uns fus mit tvärJieit
der lande gelegenheit gefeit
funder zivivelUchen tvän
Gute Gerh. v. 457 ich wciz von ivärheit fmider ivän
Geogr. v. 1507 als ich muoz, von tvärheit jehen
daz, iß geivcErliche
Auch der Gute Gerhard bietet reichliche belege für Rudolfs nei-
gung synonyme ausdrücke tautologisch zu häufen, z. b.
V. 57 des tvart ftn pris geneiget
verkrenket und gefweiget
Besondere Vorliebe scheint er gehegt zu haben für die mehrmals wider-
kehrende gehäufte Verbindung herze, sin, muot:
G. Gerh. v. 7 daz, er ze guote keret
herze ßnne unde muot
ZEITSCHR. F. DEUTSCHE PHILOLOGIE. P.D. XII. 18
274 doberentz
V. 88 er leerte muot herz unde ßn
an vride an guot gerihte
V. 127 mit alß tugende richer kraft
was ir ßn ir herze ir muot
in gotes hulde wol hehuot
y. Metrische und rhythmische eigentümlichkeitea.
1) FIdss und lebendigkeit der verse.
Gibt diese Vorliebe Kudolfs für breite und tautologisclie ausdrucks-
weise seinem stile einerseits den Stempel gemütlichster behaglichkeit
und schlichter einfalt, so wird dagegen andererseits der ruhige fluss
seiner verse auch nicht eben selten durch rmie brechen oder auch durch
enjambement auf anmutige weise in raschere und reichere rhythmische
bewegtheit gebracht; und sehr richtig hat Vilmar den versbau der
Weltchronik charakterisiert, wenn er s. 14 sagt: „Allerdings hat diese
gleichmässigkeit (einer schlichten erzählung und einfachen behandhmg
des Stoffes) der erforderlichen abwechselung des tones der erzählung
eintrag getan, doch ist der rhythmus der verse, wenngleich hin und
wider an die spätere einförmigkeit des tones der kurzen reimpaare
anstreifend, im ganzen noch sehr weit von dem toten versmechanismus
des 14. Jahrhunderts entfernt. Die verse haben, bei durchaus genauem
reime, zwar nicht durchgängig eine hinreichend genaue messuug, aber
die hebungen und Senkungen finden sich überall mit geschickter abwech-
selung verteilt, und der sinn ist niemals an das verspaar oder den
einzelnen vers oder gar an das reimwort gebannt." — Diese kunst-
mittel, welche dazu mitwirken sollen, die kurzen reimpaare vor der
gefahr des herabsinkens in einförmig klapprigen tonfall zu bewahren,
finden wir in dem geographischen abschnitte mindestens ebenso häufig
angewendet, als in Eudolfs übrigen werken, und auf grund dieser
beobachtung konte auch widerholt bei der beurteilung des textes in
zweifelhaften fällen die entscheidung über die von dem dichter gemeinte
Satzgliederung, und damit über die einzuhaltende iutei-punction getrof-
fen werden.
Als beispiel für den gebrauch dieser kunstmittel im geographischen
abriss mögen die beiden folgenden stellen dienen:
v. 505 wan e^ enJceine fpife zert
anders^ \ wan daz, ez, ßch nert
mit den reinßen würzen gar,
die diu erde ie gebar
in dem lande und anderswo,. \\
In Ganges dem wa^^er da
DIE GEOGRAPHIE RUDOLFS VON EMS 275
und V. 1595 dia ßds,et an diu felhen lant: \
in Laune iß ß genant
diu verlorne. \ das, iß ivär,
wan zeiner zit iibr elliu jär
da^ lant alß ver [windet,
daz, ez, nienian vindet :
daz, lant iß allen Unten gar
verborgen vor^ \ wan nieman dar
hmnt: \ ez, müez,e von gefcJiiht
ergän. | mati vindet anders niJit
wä diu ifele ß gelegen. ||
der vil wunderliche gotes degen ....
Hierzu vergleiche man aus dem Schlüsse des Barlaara
404, 29 Nu lät mich vürhaz, fprechen me. |
ich häte mich vermez,z,en e,
dö ich daz, mcere enharte
von dem guoten Gerharte,
hcsf ich mich dran verfümet iht,
daz, lihte tumhem man geschiht,
daz, ich ze huoz,e wolde ßän,
oh mir würde kunt getan
ein ander mcsre: \ deß geschehen. ||
nü kan ich des niht verjehen,
oh ich hän iht gehe^z,ert mich:
des tveiz, ich niht. \\ noch wil ich ....
Aus den späteren teilen von Kudolfs Weltchronik lassen sich
mehrere stellen aus den durch Zupitza im 18. bände der Hauptschen
zeitschr. mitgeteilten bruchstücke zur vergleichung heranziehen. Hier
genüge die eine, s. 121 v. 46 fgg. :
der grozzc hunger ß des tivanch,
daz ß vil vihes [lügen nider : \
mit ezzen ß gewunnen wider
ir kraft nach krankheit, e ß got
geopferten nach dem gebot,
daz in der e verboten was. \
da mit daz leut uf ßch las
des chuniges zorn. |j der machte [a
got einen grozzen alter da,
dar u[ er gote prachfe do
[ein opfer. \\ do daz ivas al[ö,
18*
276 DOBERENTZ
er hiez den ewarten ervarn
vmme got, | oh er der lieiden fcliarn
nach folde jagen oder nicht. \\
do wart im vmme die gefchicht
chein antwürte do gefeit. ||
vmme daz vorhtliche leit
2) Scheinbar iiiiriidolfisclie rliytlimik dnrch die eigenuamen veranlasst.
Somit ist uachgewiesen, dass unser geographischer abschnitt nach
spräche und redeweise durchaus das Rudolfsche gepräge zeigt. Auch
die kuustgriffe, welche — wie wir sahen — zur belebung des Vers-
baues benuzt wurden , und die man in der folge bald fast völlig ver-
lernte, — sind durchaus dem künstlerischen bestreben unseres höfischen
dichters angemessen. Jedoch ist noch hinzuzufügen, dass zuweilen
freilich die fülle von eigennamen unseren gewissenhaften dichter
gezwungen hat, einesteils langweilig gleichförmig scandierte und andern-
teils holprige, nur notdürftig in das metrum eingepferchte verse zu
bauen. — Über die betonung der naraen in derartigen versen zu urtei-
len ist freilich gar manchmal recht mislich und unsicher, wenngleich
man wol im algemeinen voraussetzen darf, dass der dichter auch in
seinen deutschen versen diejenige betonung derselben habe beibehalten
wollen , welche er ihnen beim lesen lateinischer texte zu geben gewohnt
war, demnach wol so ziemlich dieselbe, die noch heute in unserer
gewönliclien ausspräche lateinischer namen herschend ist.
Als beispiel der ersteren art möge dienen :
V. 594 den ßnt gefe^.2,en nahe hi'
die frechen Mo'abi'ten,
Idumei' ^ und Ammoni'ten,
Sarracine und Madjam'ten
und dahi meiner fiten
die wilden ^'lamiten
die hl den felhen si'ten
V. 1245 Navdrren und Wash'mje
und da^ Idnt se Gdhgünje
V. 1207 Burgündje und Liittringen
und daz, Idnt ze Karlingen
1) In V. 596 könte man zwar geneigt sein , tind zu streichen , und Idumei
zu betonen; doch scheint dagegen zu sprechen die handscliriftliche Überlieferung
und auch die analogie in v. 745 fg. , 1047 fgg. , 1230 f gg. , 1260 fgg. — Schwere
auftakte sind bei Rudolf in unserm abschnitte überhaupt nicht selten.
DIE GEOGRAPHIE KUUOLFS VON EMS 277
Mehr unter die zweite art fallen vcrse wie die folgenden :
585 daran li't Caldeä
Ärabja linds, laut Sdbha
615 da li't ouch Tyrus die lyrds
(dagegen mit gewönlicher betonung
1012 daz, W den zi'ten Tijrds)
1026 Japhetes filn mit ndmen Ceti'm
635 ist gelegen Jerü'falem
die Sem der edel Mine Salem *
644 in Faleßma dem lande
986 und Nörwcege daz, dlfö wtt
972 Düringen ddz, lant darnach fa
1003 diu nidcr Pdnnd'nid'
und 1074 und 1137 diu ober Pdnnonia ^
In nicht seltenen fällen wird man nur nach umfänglicher und
wnderholter vergleichuug ähnlicher stellen mit annähernder Wahrschein-
lichkeit vermuten können , wie zu lesen und zu betonen sei. Schwer-
lich auch wird Rudolf bei manchen uamen, zumal bei solchen die ihm
wenig oder gar nicht bekant waren , oder die sich schwer in den vers
fügten , eine und dieselbe betonung überall mit voller und strenger
consequenz eingehalten und durchgeführt haben. Dazu komt ferner
noch , dass in manchen namensformen auch alte Verderbnisse verschie-
denen Ursprunges vorliegen, die zuweilen nur durch sehr weitgreifende
quellenkritik sich erkennen und berichtigen lassen. Deshalb mag es
nicht überflüssig sein, hier noch einige solcher mislicher verse vorzu-
führen , die zum teile noch weiterer erwägung bedürfen.
1158 Galabrie Pülle Terre de labü'r^
1043 Theffä'lje und Mdcedonje
1058 Siciö'njä ilnd Arcliadid'
1230 Traconjä ihid Carthä'go
Gali'cje und Lü'ßfanja
1) Dass das ej^itheton edel beabsichtigt , und deshalb nicht zu streichen ist
lehrt seine anderweite entsprechende Verwendung in der "Weltchronik , z. b. Vilraar,
s. 71'' V. 53 Jose'x)h der edel götes degen Haupts ztschr. 18, 103 (von Abraham)
wän der edel götes degen
2) Gegen eine änderung in die flectierte form ohriu, wie sie ja bei Kudolf
an sich wol zulässig wäre, sprechen die für seine Verwendung des flexionslosen
ober beweisenden verse
1178 da^ ober Lampärten und daz, nider (: beider)
und 921 dm ober Germania gelegen
3) Etwa: Calabri, Füll, Terralabur (oder Terrdelabür)?
278 DOBEEENTZ
Tinguita nje und Bt'tica
mit V. 1232 ist zu vergleichen
1365 Tinguita nje und [ein] ^ C6farea
Ethiopjä darnach Sdhha
1260 Daß Britdnje und JEngeUdnt
1480 dö Vit an Cijdö'n^ daz, länt
14y6 dähl' lit Sa mos da^ Idnt
1574 Ein ßdt iß Si'ene genant
1553 die i' fein Pdrchares'^
1338 daß Berete ilnde Occafa *
1474 Störja '" Melos lind Pärön
1515 Cylla diu ifl und ^'dbe
lind darzüo Vulkänie
1329 das, iß Perm'ce «
Äfßno'e lind Cyrene
618 vnd Sydonie diu von Sydone (: fchone)
bietet zwar in allen von mir beniizten haudschriften die namensform
Sydonie, die auch dem Rudolf und den abscbreibern seines Werkes
allerdings recht wol bekant sein konte aus der Vulgatastelle Luc. 4, 26;
„in Sarepta Sidoniae," dennoch möchte man hier einen alten fehler
der abschreiber vermuten, und mit correcterer betonung lesen
und Sydo'n diu von Sydone.
b. Beweis aus inneren gründen.
u. Anklänge un d rückerinner ungen.
Nachdem wir so gefunden haben, dass die sprachlichen, stili-
stischen und metrischen eigentümliclikeiten des geographischen abrisses
1) ein bieten zwar alle von mir benuzten handscbriften, doch ist es wol nur
ein alter fehler der Überlieferung.
2) Gemeint ist Chios. Das misverständnis ist durch Honorius Augustodunen-
sis verschuldet.
3) Der vers solte lauten:
die iseln Baleäres
denn gemeint sind die Balearen. Die Verunstaltung des namens scheint von Rudolf
herzustammen.
4) So scheint die betonung gemeint zusein; oder vielleicht auch: daft Be'ret
ünde Uccasd. Die benennungen freilich sind verderbt aus Sabrata und Occa bei
Isidor. Der fehler geht auf Honorius Augustodunensis zurück.
5) Der wunderliche und unerhörte griechische inselname Storia ist, wie
unten nachgewiesen werden wird, nichts weiter als eine abenteuerliche Verstüm-
melung von „ historia."
6) Gefälliger würde dieser vers durch herstellung der correcten namensform
Berenice,
DIE GEOGRAPHIE RUDOLFS VON EMS 279
durchaus nicht gegen Eudolfs art Verstössen, lassen sich auch ferner
noch uuvcrkenbare remini scenzen und anklänge an andere Rudolf-
sche stellen in ihm auffinden, ohne dass dabei der gedanke an Inter-
polation irgendwie aufkommen könte.
So erinnern die verse 1131 fg. aus der Geographie, von denen
Kudolf in seiner lateinischen vorläge nichts fand,
tmd daz, lant zc Ruinen
Liflant unde Prinzen
unverkenbar an v. 1195 fg. des Guten Gerhard
Jiin über mer gen Blumen
zc Liflant und ze Priu^en.
Und die verse 98 fgg. unserer Geographie
diu vier waz,z,er hegiez,z,ent
diu lant und macJient mit ir kraft
die erde fiuhte und herhaft
sowie 713 und machet ez, mit ftner Jcraft
fiuhte, veiz>t und herhaft
zeigen starke ähnlichkeit mit dem, was der dichter schon an einer
früheren stelle der Weltchronik, bei der Schilderung des paradieses,
gesagt hatte Vilmar s. 64** v. 309
daz, diu waz,z,er mit ir Jcraft
diu erde machent herhaft
Ferner halte man neben die verse 1260 — 66 der Geographie,
wofür Eudolf bei Honorius Augustoduneusis nur die nameu Britannia,
Aüglia, Hibernia vorfand, und die er demnach durch seine eigenen
keutnisse vervolständigte :
daß Britanje tmd Engellant
Cornwäl unde Wäleis
Nortumhri unde Norgäleis
Hyherne . ;
als ez, iß funders üzgenant
daz, funderlant in Irlant
aus dem Guten Gerhard die verse 5905 fgg. :
von Corneiväl und von Wäleis
von Schotten und von Norgäleis
von Yherne und von Yrlant^
1) Zu lezterem verse füge man noch den gleichlautenden vers 5833, in wel-
chen beiden, wie aus v. 1265 des geographischen abrisses hervorgeht, „und" auf-
gefasst werden niuss in dem sinne von „und überhaupt."
280 DOBEEENTZ
Hierzu nehme man noch die stelle, welche Rudolf später in der
Weltchionik, unter den ,, beiwegen " zur „vierten weit," d. h. zum
vierten Zeitalter, darbietet, und welche im Cod. Palat. nr. 327 fol. 158*
unten lautet : ^
Beatiuf- der unver sagte
fo hohen prif heiagte
daz, im def kunigef tohter da
ze wibe ivart mit der er fa
158 "^ JRovmde chriechfclnv riche
vn ßt gewalticliche
Stifte mit gewaltef hant
elliv JBritanifchiv lant
Deift Engellant vn Waleif
Schottenlant vn Norgaleif
vn Cortival [1. Cornewal] der name degan
erß würzen vn ßch heben an
Hieraus geht klar hervor, dass Rudolf jene namen kante; beachtens-
wert scheint, dass er an allen drei stellen Wäleis mit Norgäleis
gereimt hat.
Von schlagender beweiskraft erscheint namentlich die nahe ver-
wautschaft einer stelle über Italien in v. 1140 — 1182 des geographi-
schen abrisses mit einer anderen später folgenden der Weltchronik,
welche in die erzählung der zur zeit der Richter gehörenden „htwege"
organisch eingefügt ist.
Die betreifeude stelle der Weltchronik lautet nach- Cod. Palat.
327 fol. HS'' und Cod. Pal. 146 fol. 55 fg.:^
In difen feJben ziten ivaf
{alf ich an den hyßorien laf)
ze Lavrenten mit kraft
fo Jcrefte riche herfchaft
daz div lant al geliche gar
hvbten bi den ziten dar
1) Im cod. Pal 146 fehlt dieser abschnitt. Vgl. Vilmar s. 46.
2) Des Silvius söhn.
3) Ich habe hier aus der Weltchronik ein grösseres stück ausgehoben, als
zum blossen zwecke der vergleichung mit den entsprechenden versen des geogra-
phischen abrisses unmittelbar erforderlich sein würde, damit der leser selbst durch
eigene auschauung sich von der ursprünglichen und organischen Zugehörigkeit die-
ser stelle zu dem ihr vorangehenden und nachfolgenden texte der Weltchronik
überzeugen könne, welche den verdacht einer nachträglichen Interpolation von ande-
rer band gar nicht aufkommen lässt.
ÜIK GKOGRAPUIE KUDOLFS VON EMS 281
div noch Ytalia ßnt genant
das ßnt elliv div lant
div fuf ir vnder marche liant
da fl von den gebirgen gant
vntz an def mittein meref sil
der lande ich ein teil nennen wil
alf ich ir namen gelefen han
Lanchparten vn Tvfcan^
Romanie vn Maritima
Änchvn vn Spolit ßnt ouch da
dar ZV Sycilie vn al div lant^
div dar ze dienß ßnt henant
Pvlle vn Galahrie alf das gat
vn Capif das Principat
Terre delahvr vn difiv lant
fint gar Ytalia genant
AI vmbe vntz an Monticinis ^
div tvarn in ei gen f wif
den von Lavrent vndertan
alf ich nv gefprochen han
ivan ß dannoch vnbvhaft
warn vn an herfchaft
der ßt der felben iare friß
da vil vn me gewahfen iß.
der do bi den ziten da
Rihfeta In Italia
der waz, geheizen lanvf
Damit vergleiche mau uuu v. 1143 fg. des geographischen abrisses:
Itäliä, diu mit dem mer
und mit den bergen iß ze wer
beßo^^en veßecUche,
und V. 1154 fgg. der houbetname iß genant
1) Cod. 146. Lamparteu. Vg